Gloria Fröhlich

SINN FLUT


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gewesen. Sie hatte in aller Ruhe dafür sorgen können, dass ihre Behausung in Ordnung war, dass sie nur so viel aß, dass sie nicht noch mehr in die Breite ging, und gestört hatte sie schon lange niemand mehr. Mit ihren Nachbarn hatte sie keinen Kontakt. Es ergab sich einfach nicht. Worüber hätte sie sich auch unterhalten können, erlebte sie doch nicht genug, um für andere interessant zu sein! Aber heute ging es in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft drunter und drüber! Was war los? Kam die Müllabfuhr zu früh oder an einem falschen Tag? Sie war nicht so neugierig, dass sie nachschaute, sondern zog sich abwartend zurück. Und genau da wurde zugegriffen! Sie hatte das Gefühl einen Alptraum zu haben, als es wackelte und ruckte, knallte, stieß und plötzlich dunkel wurde, sehr dunkel sogar! Und dann kam sie ratternd vorwärts, ohne ihre Beine zu benutzen. Ein merkwürdiges, unbekanntes Gefühl! Durch die breite Tür über ihr, war das Ungeheure hereingebrochen, und dann schien sie zu fliegen, wie besinnungslos zu schweben! Nach einer ganzen Weile ruckte es noch einmal kräftig unter ihr, so dass sie Mühe hatte, die Balance zu halten. Sie verharrte wie gelähmt und wartete ängstlich, was nun geschehen würde. Der Tumult, in den sie dann geriet, als sie sich endlich aus ihrer vertrauten Umgebung wagte, war beängstigend! Es herrschte ein maßloses Durcheinander. Dazu kam, dass es jetzt hell wurde, viel heller als sie es gewohnt war. Es drängte sie, sich zu bewegen, und sie irrte herum, lief dorthin, kehrte rasch um und drückte sich schließlich in einen Hauseingang. Sie war grau gekleidet. Wie immer! Niemand schien sie zu bemerken, denn sie machte keinerlei Geräusche und machte sich auch sonst durch nichts bemerkbar. Vielleicht war das ihr Glück im Unglück! Die Haustür öffnete sich. Unbemerkt war sie rasch nach vorn ausgewichen und bewegte sich jetzt auf dem Fußweg, vorbei an langen Tischen und zwischen Kartons hindurch, in denen Unruhe und Neugierde wühlte. Sie war besonders darauf bedacht, nicht angerempelt, gestoßen und getreten zu werden, was zwischen den Gegenständen und der vielen Menschen einer großen Geschicklichkeit bedurfte. Neben ihr polterte etwas zu Boden! Es hätte ihr auf die Füße fallen können. Nicht auszudenken! Niemand bückte sich danach. Sie lief gehetzt von einer Seite zur anderen. Es war beschwerlich, dabei nicht die Richtung zu verlieren, obwohl sie überhaupt nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Dann war es ihr gelungen, eine gewaltige Strecke Asphalt zu überqueren, über die die Autos im Schritttempo rollten, weil sie durch einen Menschenpulk daran gehindert wurden, an Tempo zuzulegen. Am Bordstein angekommen, hielt sie neben einer Anzahl alter, rostiger Gartenstühle inne, die an eine Straßenlaterne gelehnt waren. Sie war unglücklich und wurde zunehmend unruhiger! Es war nicht nur der Verlust ihrer Wohnung, der ihr zu schaffen machte, sondern auch der ihres silbernen Zierrates, an dem sie ganz besonders hing. Sie hatte nur das bei sich, was sie am Leibe trug und nun nicht die Muße, sich hier noch länger aufzuhalten. Sie musste eine neue Bleibe finden und entschloss sich, den Zebrastreifen zu überqueren, der hier über die Straße führte. Zusammen mit Menschen in leichter, heller Sommerkleidung und in Turnschuhen, Halbschuhen, Sandalen und Stiefeln, lief sie los. Es war heiß und viele trugen wie sie, keine Strümpfe. Und zwischen diesem Gewusel wurde sie von enormem Glück begleitet, denn die Menschen ließen sie, wenn auch völlig unbeachtet, so doch mit ihnen gehen. Sie schaute vor sich auf den Boden und bekam zu spät mit, dass vor, neben und hinter ihr abrupt stehen geblieben wurde!

      Und niemand warnte sie! Niemand rief Achtung, Vorsicht oder Halt! Und so lief sie allein weiter und weiter und somit in ihr Verderben! Sie erlag sofort und gut sichtbar, auf einem der weißen Streifen, die abwechselnd mit den schwarzen Streifen der Sache über die Straße einen Tiernamen gaben, ihren schweren Verletzungen! Der Tod hatte mit einem der hinteren Firestonereifen eines

      schwarzen Kleinwagens, dessen Fahrerin wegen der erworbenen rostigen Gartenstühle sehr langsam den Zebrastreifen überquert hatte und dann am Bordstein hielt, nach ihr gegriffen.Ihr Schicksal wurde nicht einmal bemerkt! Und es gab auch niemanden, der bleich vor Kummer für sie schwarz tragen würde. Die schmierigen Reste ihres dicken Leibes und ihrer vielen, langen Beine, wurden wenig später exakt ins Sohlenprofil eines braunen Turnschuhs gedrückt, der sich mit schnellen Schritten fortbewegte und schließlich bei dem Zelt der Feuerwehr für Erbsensuppe mit Wursteinlage anstand. In ihrer verlassenen Behausung stöberte wenig später eine Männerhand nach Schätzen, fand ein Schriftstück und las: „Spinnenansichten.“ Ich habe nur dies eine Leben und das besteht aus Netze weben. Ich habe niemals nachgedacht, was mir wohl sonst noch Freude macht, als still zu sitzen, voller Gier, zu warten, auf das nächste Tier, das ahnungslos, nichts Böses denkt und sich in meinem Netz verfängt. Wo es dann voller Angst und Pein, mich anfleht, nicht so grob zu sein, wenn ich es beiße und verschnüre und es zum Mund genüsslich führe. Und hab ich es dann ausgesaugt, dass es für andres nicht mehr taugt, dann fürchte ich, gleich einzunicken, ich wollt doch in die Zukunft blicken! Der Christo packte Sachen ein, ins Netz fliegt mancher Fußball rein, und Kirschen werden abgedeckt und unter Netzen gut versteckt. Netzhemden trägt, wer Kühle mag, Netzstrümpfe gern am Faschingstag. Ins Einkaufsnetz legt man den Kohl, ein Netz sorgt fürs Artistenwohl. Mein Netz, das ich für mich nur webe, ist alles, wofür „ich“ so lebe. Auch wenn ich ständig neu beginne, ich bin und bleibe eine Spinne! Ich werde ganz bestimmt wie eben, auch in der Zukunft Netze weben! Vom Leben kann ich nichts verlangen, als immer nur Insekten fangen! Und wenn ein dürrer Spinnerich, signalisiert, ich liebe dich, wird er benutzt, und ich weiß mehr, ich! sterbe niemals beim „Verkehr!“ Ein Dompfaff mit hellroter Brust, hat irgendwann auf mich dann Lust! Die „Spinnenansichten“ unterlagen einem gewaltigen Irrtum und kosteten 2o Cent auf dem Flohmarkt.

      Er war hässlich! Nicht nur äußerlich! Sie kam nicht umhin, das irgendwann festzustellen! Seine Fingerspitzen bogen sich nach oben. Ein Zeichen für grenzenlosen Egoismus, hatte sie mal irgendwo gelesen. Da ist Vorsicht geboten, da kann es seelische Verletzungen geben! Und die schmerzten und hinterließen Narben! Er hatte geschickt flache, silbrige Täfelchen ineinander gefügt, aus denen er die Tabletten gedrückt hatte, die er täglich schlucken musste. Ein glänzendes Gebilde türmte sich mit roter und blauer Aufschrift hinter den Glastüren eines schmalen Schrankes. Sie sagte nichts dazu. Warum eigentlich nicht? Ein Stück helle Pappe lag neben einer Zuckerdose aus dem Tal der Rosen. Mit ihm wurden Fliegen, Mücken, Spinnen und anderes winziges Getier mit enormer Abneigung eingefangen und durch das nur einen Spalt weit gekippte Fenster und einem ausgeklügelten Balanceakt nach draußen befördert. Mit akrobatischem Einsatz und enormer Konzentration, wurden sie in halbstündigem Abstand gesucht, entdeckt, überlistet und mit einer Taktik eingefangen, die nicht zu überbieten war.

      Sie war amüsiert! Das durch den hellen Vorhang gefilterte Tageslicht fand seinen Weg nur träge bis in die Ecken des Zimmers, in dem es keinen freien Fleck mehr in der Ansammlung von Dingen, Dingen und noch mehr Dingen gab. „Hast du das gehört? Der schurrt schon wieder! Das macht der mit den Stuhlbeinen, wenn er aufsteht. Obwohl ich dem schon so oft gesagt habe, dass es mich stört, macht er es immer wieder - auch nachts!“ Er lachte kurz und verzweifelt auf seine Füße und dann hilflos in die bedrückende Enge des Zimmers. „Ich schlafe sowieso so schlecht, und ich habe das Gefühl, der macht es gerade nachts absichtlich, nur um mich zu ärgern! Ich schwitze dann so sehr vor psychischer Anstrengung, dass ich mein Bett neu beziehen muss! Und schuld daran ist er! An der Wohnungstür nebenan tat sich jetzt etwas! Die personifizierte Intoleranz verließ ihre Wohnung.

      Der Schlüssel wurde zweimal umgedreht. „Der geht jetzt!“ Er trippelte rasch auf Zehenspitzen an seine Wohnungstür, presste das rechte Ohr an den vergilbten Schleiflack und belauschte und zählte dabei die Stufen, die der ungeliebte Nachbar hinuntertapste. Während seiner Lausch- und Zählaktion befummelte er nervös den braunen Filzstreifen, der vor dem Schlüsselloch hing, um schlechte Energien abzuhalten, die seiner Meinung nach außerhalb seiner vier Wände ihr Unwesen trieben. Jetzt drehte er sich zu ihr um und hörte, dass die Haustür geöffnet wurde und dann mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. „Er ist weg!“

      Seine aufgerissenen Augen signalisierten Freude. Mit großer Erleichterung wollte er sich setzen, aber sofort setzte neuer Ärger ihm zu! Mit wenigen Schritten war er am Fenster, weil ein Auto hinter das Haus auf den Hof fuhr und vor dem Eingang zu den Kleingärten parkte. „Der stellt sich doch schon wieder falsch hin, das ist nicht zu glauben!“ Er kicherte gereizt und war zu feige, das Fenster ganz zu öffnen, um seinen Unmut hinauszuschreien. Er lugte durch den schmalen Spalt der Vorhänge, bemüht, nicht entdeckt zu werden. „Das macht der immer“, stöhnte er! „Ich ärgere mich jeden Tag über ihn. Der ist so stumpf, der merkt nicht mal,