Gloria Fröhlich

SINN FLUT


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hatten, den man zu Schweinebraten kaufen kann, fixierten das italienische Glasschälchen auf dem Tisch. Von diesen Schälchen hatte er einige angeschafft und machte viel Gewese darum! Sie beobachtete ihn weiterhin interessiert! Durch seine Verrücktheiten erfuhr sie bei sich eine ungekannte Wachsamkeit! Begierig wartete sie auf noch mehr Auffälligkeiten an ihm! Sie brauchte nicht lange zu warten, denn jetzt nahm er einen kleinen, hellbraunen, matten Stein, der mit einigen anderen auf dem runden Tisch lag, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und fuhr mit ihm durch die Rille zwischen Wange und Nasenflügel.

      Zuerst rechts, dann links! Vom Talg seiner Haut wechselte der Stein in wenigen Augenblicken die Farbe. Er war jetzt dunkelbraun und glänzte fettig!

      „Wie schön er jetzt ist!“ Zufrieden drehte er ihn hin und her. Sie fand es widerlich und antwortete nicht. Warum eigentlich nicht? „Komm, ich zeige dir etwas!“ Er war bemüht, sich nicht wieder das Schienbein am Bett zu stoßen und öffnete die Tür zu dem kleinen Flur und dann die zum Badezimmer. Dabei musste er sich bücken, weil am Türrahmen der alte schmuddelige, braune Cordmantel seines Großvaters väterlicherseits, hing. Der Großvater hatte ihn nie leiden können. Trotzdem war es ihm nicht möglich, sich von dem Mantel dieses längst verblichenen Vorfahren zu trennen. Über der Badewanne hing alles Mögliche, das er nun beiseite schieben musste, damit sie sehen konnte, was ihn mindestens drei Stunden Arbeit gekostet hatte! Er gab merkwürdige Erklärungen ab, ohne dass sie wusste, wovon er sprach, bis er auf einen kleinen, weißen Wall aus Silikon zeigte, der auf dem Badewannenrand so angelegt war, dass das Wasser, das sich beim Duschen dort sammelte, nicht außen an der Wanne herunter und dann auf den Fußboden laufen konnte. Sie unterdrückte einen Lachanfall! Warum eigentlich? Er war so hektisch stolz auf diesen Mist, dass sie auf ihren Verdacht, ob er noch alle Tassen im Schrank hätte, verbal verzichtete. Warum eigentlich? Er stand jeden Morgen in der dunkelsten Ecke seines einzigen Zimmers mit weit

      aufgerissenen Augen auf dem Kopf, bis seine Stirnadern dick anschwollen und an Regenwürmer erinnerten. Währenddessen qualmte die immer gleiche Sorte Räucherstäbchen, deren intensiver Geruch ihn, von ihr unterwegs gerochen, in eine eigenartige, fast unangenehme Erinnerung brachte. Er hatte drei Pullover in Schmuddelfarben, die er umschichtig trug. Aus Mangel eines Kleiderschrankes, bewahrte er sie über der Lehne seines einzigen Stuhles auf, so dass nur der obere Pullover den ihm anhaftenden ranzigen Tragegeruch an die Zimmerluft abgeben konnte. Er hatte nun vor, eine Mahlzeit zuzubereiten und mit großem Getue und viel Umstand einen Wein unter drei Flaschen auszuwählen, als hinge der Weltfrieden davon ab. Um an deren Lager zu kommen, war er auf alle Viere geschrumpft, und sie konnte seine fahle Kopfhaut durch das schüttere Haar sehen. Er hatte so gar keine Haarfarbe, vielleicht Straßenköter, war aber im Nacken gut ausrasiert. Dann besprach er enorm wichtig mit sich selbst die Zubereitung der beiden Paprikaschoten und holte dazu den rechteckigen, durchwachsenen Speck im Pergamentpapier hervor, den er vom Wochenmarkt bis in seinen Kühlschrank transportiert hatte. Er drückte ihn mit zupackender Hand, wie einen Flüchtenden, auf das Holzbrettchen, um ihn, und das war eine Meisterleistung, an der langen Seite, in sehr dünne Scheiben zu schneiden. Das dauerte unter seinen druckreif verfassten Erklärungen dazu, mindestens eine halbe Stunde. Sie war gespannt darauf, was er mit den dünnen Speckscheiben zu tun beabsichtigte. Ob er sie um die Paprikaschoten wickeln wollte oder sie cross gebraten daneben oder drüberlegen würde. Umso sprachloser stand sie da und traute ihren Augen nicht, als er sich anschickte, aus den mühevoll zugeschnittenen, dünnen Scheiben, winzige Stücke zu schnippeln. Er ist so entsetzlich dämlich, dachte sie, verkniff sich aber, das auszusprechen. Warum eigentlich? Während er in der Pfanne rührte, sprach er von der kleinen Flasche neben der Spüle, in die er Geschirrspülmittel gefüllt hatte. Es war ihm gelungen, auszurechnen, wie viele Tropfen er davon bei jedem Abwasch verbrauchen durfte, um genau ein Jahr damit auszukommen Ihr fehlten die Worte für diesen Irrsinn! Warum eigentlich? Beim Essen redete er über allerlei Gelesenes. Er schluckte alles, was er las als richtig und wahr, machte sich keine eigenen Gedanken, sondern plapperte eifrig nach. Als sie das entdeckte, musste sie ihre Meinung, er sei intelligent, revidieren. Als Registrator verstaubte er, wie die Akten, für deren ordnungsgemäße Unterbringung in hohen, langen Regalen er zu sorgen hatte. Seine Dummheit machte sie häufig zornig, und sie verlor mehr und mehr die Achtung vor ihm, schwieg jedoch. Warum eigentlich?

      Nach dem Essen bekam er jedes Mal diesen blöden Gesichtsausdruck!

      Nicht wegen seines gefüllten Magens, der ihm einen großen Teil seines Blut aus dem Gehirn abzog. Als seine Augen denen eines Kalbes in lebensbedrohlicher Lage glichen, sprach er vom Zusammenlegen, wobei sie nicht umhin konnte, an Bügelwäsche zu denken. Doch dann wurde sie von der Sucht nach dem beglückenden Körpergefühl getrieben, das sie durch ihn erleben würde und das sie immer wieder zu ihm trieb. Er machte seine Sache gut! Seine leidenschaftlichen Küsse tobten über ihren Körper. Und dann verweilten sie dort, wo sie sich nach ihnen sehnte. Sie dachte nur für einen winzigen Augenblick an den Wels im Aquarium ihres Bruders, als sich ihre Augen schlossen und sie nur noch fühlte.

      Und er war davon überzeugt, genau das richtige zu tun, bis einer seiner Vorderzähne zu wackeln begann. Einen Tag später büßte er ihn dann auch tatsächlich ein! Wochen später wurde ihm mit Genehmigung der Krankenkasse und einer ordentlichen Dosis Betäubungsmittel ein Stiftzahn in die Lücke gesetzt.

      In seinem verdunkelten Zimmer und unter Schmerzen redete er danach wirres Zeug zwischen die grünen Fäden in seinem Zahnfleisch. Er lag auch wieder mit seinem Vater im Streit. Jedes Mittel war ihm recht und schien ihm großes Vergnügen zu bereiten, diesen Zustand so lange wie möglich aufrecht zu erhalten!

      Er hasste seinen Vater abgrundtief, auch, weil der ihn in der Pubertät argwöhnisch und hinterlistig belauert hatte, um dann bei seinem „ersten Mal“ mit Elvira hinter einem Vorhang verborgen, dabei zu sein. Er hatte sich seit Wochen nicht rasiert und war jetzt enorm rothaarig an Gesicht und Hals. An einem sonnigen, herrlichen Sommertag verbarg er sich zwischen seinen Büchern und dem anderen Kleinkram und ließ, noch im langen Nachthemd und vom dünnen Rauchfaden des glimmenden Räucherstäbchens umnebelt, verlauten, dass er sehr zerbrechlich sei und lieber zuhause bleiben wolle. Obwohl sein untersetzter Körper an behaupteter Schwäche zweifeln ließ, und es sie drängte, eiligst aus diesem diffusen Licht und seiner widerlich leidenden Präsenz zu verschwinden, tat sie verständnisvoll!

      Warum eigentlich? Und er wusste es! Er wusste es ganz genau! Diesen Tag hatte er ausgesucht, um sie zu enttäuschen und wieder einmal auszuprobieren, wie sie darauf reagierte! Sie durchschaute sein Spiel und war jetzt in Alarmbereitschaft!

      Konnte er machen was er wollte? Konnte er immer sagen, was er wollte?

      Nahm sie alles hin, ohne sich zu wehren? Vor einiger Zeit hatte er am Telefon von einem einfachen Kinderreim geschwärmt, bei dem es um ein Blümchen auf der Wiese ging. Sein Herz quoll dabei vor Rührung über. Kopfschüttelnd hatte sie ihm zugehört, und sie war sich nicht sicher gewesen, ob er sie veräppelte. Ihr Taktgefühl hinderte sie daran, ihm zu sagen, dass er sich doch einmal auf seinen Geisteszustand hin, untersuchen lassen sollte! Warum eigentlich? Ein paar Tage später schickte er ihr in einem großen, braunen Umschlag mit der Post einen Stapel Liebesgedichte aus aller Welt. Von ihm selbst war keine einzige Zeile!

      Er hatte Wort für Wort abgeschrieben. Würde sie ihm niemals sagen, was sie tatsächlich von ihm hielt? Der Zwang, ihm auf Biegen und Brechen gefallen zu wollen, nagte an ihr, und seine geringe Zuneigung war für sie überlebenswichtig.

      Warum eigentlich? Wie lange würde der Stein, der bleischwer in ihr drückte, noch schmerzen? Eines nachmittags waren sie draußen herumgelaufen, und sie machte den Fehler, lauthals ihren großen Hunger mit dem eines Bären zu vergleichen, als sie sich, kaum zurück in seiner Behausung, am Türpfosten zum Badezimmer stehend, leidenschaftlich ineinander verflochten, bevor es etwas zu essen geben sollte. Die dicke Nudelsuppe mit pochiertem Ei, die er danach mit großem Theater gekocht hatte, dampfte in der großen Tasse, aus der sie beide löffeln wollten. Sie hatte fest mit seiner Höflichkeit, weniger mit seiner Fürsorge gerechnet und sich darauf eingestellt, als erste von der Suppe zu bekommen. Voll unterdrückter Gier nach Nahrung und Fassungslosigkeit über seinen Geiz, sah sie dann dabei zu, wie er einen Löffel voll nach dem anderen in seinem Mund verschwinden ließ und dabei Laute des Genusses von sich gab, wenn die Suppennudeln über seine Zunge flutschten