Gloria Fröhlich

SINN FLUT


Скачать книгу

essen, als er ihr schließlich die beinahe leere Tasse reichte. Sie verdarb sein Spiel und ließ ihn wissen, dass sie inzwischen über den Hunger hinweg sei und ihm auch noch den Rest der Suppe von ganzem Herzen gönnte! Warum eigentlich? Sie kannte ihn inzwischen gut! Er tat fürsorglich, wenn er sich geradezu aufdrängte, ihr die Scheibe Brot mit Butter zu bestreichen, bis sie herausfand, dass es ihm lediglich darum ging, dass von der Butter nicht „irgendwo“ weggenommen wurde, und sie dadurch die immer gleiche Form eingebüsst hätte, die er dem Butterstück schon tagelang zugedacht hatte. Und sie wusste schon längst um die Gemeinheiten, die er sich ausdachte, um sie zu demütigen. Da war zum Beispiel der Veilchenstrauß! Er hatte ihre Einladung zum Essen wie selbstverständlich angenommen, weil er fand, dass er sie verdiente, nachdem er den lockeren Außenspiegel ihres Autos mit einem Bindfaden festgezurrt hatte, damit sie bis in die nächste Werkstatt fahren konnte.

      Es zog ihn in ein Lokal, das von ihm wohl schon mehrmals ohne sie besucht worden war. Sie war damit einverstanden. Warum eigentlich? Sie aßen griechisch, und als sie sich gesättigt zurücklehnten, winkte er dem Ober. Während sie gespannt darauf war, was er vorhatte, bestellte er sich das gleiche Gericht noch einmal, obwohl er wusste, dass sie wenig Geld hatte. Sie war so sprachlos und starrte ihn an und erfuhr, während er ihr Unbehagen genoss, dass er sich auch erst neulich wieder zweimal Scholle bestellt hatte, als er einer Einladung seiner Patentante gefolgt war, die das von ihm aber schon gewohnt war. Der Ober war sehr verwundert, aber umsatzfreudig und eilte in die Küche. Sie fand auch diesmal wieder keine Worte! Warum eigentlich nicht? Eine Überraschung war die vollbusige Bauchtänzerin, die auf der freien Fläche vor dem Tresen erschien. Von oben bis unten goldglänzend, wiegte sie heftig ihre fleischigen Hüften, hatte ein zauberhaftes Lächeln für die wenigen Gäste und gab bei orientalischer Musik ihr Bestes! Er geiferte, während er die zweite Portion Couscous mit Hühnchen verschlang. Ihr war elend zumute! Er ließ die Augen nicht eine Sekunde von der Bauchtänzerin, hatte seine Begleitung völlig vergessen, als die Tür geöffnet wurde und ein weißer Korb mit Veilchen erschien. Er kaufte einen der kleinen, duftenden Sträuße, und sie war voller Erwartung, was umgehend auf sie zukommen würde. Dazu erhob er sich, ging einige Schritte nach vorn, drehte sich jedoch nicht zu ihr um, sondern legte die tiefdunklen Veilchen der Bauchtänzerin mit einer tiefen Verbeugung in die Hände.Ihm entging oder er genoss, dass hinter seinem Rücken schmerzhaft gestorben wurde! Still und gequält saß sie da und dachte an die vielen Verletzungen und auch wieder an die Party! Seine Exfreundin hatte nach der Trennung noch dieselben Freunde wie er. Und ein gemeinsamer Freund feierte seinen Hochzeitstag. Sie hatte zugestimmt, ihn dorthin zu begleiten. Warum eigentlich? Sie tat, als machte es ihr nichts aus, und weil sie niemanden kannte, alle aber die Exfreundin, hielt sie sich in seiner Nähe auf, um sich nicht so verloren zu fühlen. „Ich hole etwas zu essen“, sagte er. Sie hatte Hunger! Wenig später fiel sie auf das herein, was er sich für sie ausgedacht hatte und streckte die Hände nach dem Teller aus, der von ihm gefüllt, dann aber an ihr vorbei getragen wurde, mit der hämischen Bemerkung: „Der ist für meine Ex!“ Der Hieb trieb sie zur Garderobe und zum Griff nach ihrem Mantel. Auf wackligen Beinen rannte sie aus der Tür in den regnerischen Abend. Sie saß in ihrem Auto, das sie unweit dieser Szene geparkt hatte und konnte die Tränen der Kränkung und Zurückweisung nicht mehr zurückhalten. Eine Frau mit langem, blondem Zopf, rannte aus der Haustür, dann die Steinstufen hinunter und sah sich in der Dunkelheit nach ihr um. Sie erwähnte, dass sie Psychologin war und hatte jetzt einen Fall. „Warum lässt du das mit dir machen?“ Ja, warum eigentlich? Mit beruflichem Geschick gelang es ihr, sie zur Rückkehr zu bewegen. Die hohen Räume lagen in diffusem Licht, als er lächelnd die Hände nach ihr ausstreckte, die sie wie einen rettenden Strohhalm ergriff! Warum eigentlich? Seine Lust, zu kränken, war an diesem Abend noch nicht befriedigt, und er fand gezielt sein nächstes Opfer, wobei ihn die Psychologin mit beruflichem Interesse beobachtete. Er hatte sich einen schmalen, blassen jungen Mann ausgesucht, den er lauthals darüber aufklärte, dass er charakterschwach sei und seine tief liegenden Augen darüber Auskunft gäben, dass er wegen seiner Sünden schon etliche Male wiedergeboren worden wäre. Er hätte jedoch in diesem Leben die Gelegenheit, etwas zu lernen und solle doch diesmal die Chance nutzen! Sein Opfer reagierte perfekt für ihn! Sprachlos in der ebenfalls sprachlosen Menge, rötete sich sein Gesicht, und er war unfähig, sich zu wehren! Warum eigentlich? Sie fütterte noch monatelang seine Neurosen. Der Hunger nach Zuneigung, ihre Verlustangst und die Furcht vor Zurückweisung halfen ihm dabei. Doch dann half die Fülle seiner Gemeinheiten, Demütigungen, Verletzungen und Lieblosigkeiten ihr dabei, ihm gegenüber eine Gleichgültigkeit zu entwickeln und den Mut und die Kraft zu haben, sich zu vertrauen und auf ihn zu verzichten! Und so geschah es, dass er eines Tages nach einer Situation, die ihn wegen seiner gekränkten Eitelkeit wahnsinnig machte, mit einer roten Rose den Bahnsteig entlang und hinter ihr her rannte. Er war zu langsam und steckte im letzten Augenblick eine dunkelrote Rose in den Schlitz, der sich schließenden U-Bahntür, hinter der sie für immer aus seinem Leben verschwand! Seine Arme hingen hilflos an ihm herunter, und er starrte mit ungläubigem Blick der abfahrenden U-Bahn hinterher, während sie sich längst umgedreht, endlich von ihm befreit und erleichtert, tief durchatmete!

      Und an ihrer Stelle verlor diesmal die Rose jeden Halt, als sich an der nächsten Station die Tür öffnete und fiel zwischen Bahn und Bahnsteig auf die Geleise.

      Ich möchte mich mit in dein Leben legen, ganz still sein und mich nicht bewegen. Und möchte hinter deinen Türen, die Reste deines Lebens spüren. Und kennen möchte ich von dir, was ungelebt, noch schwach in deinem Dunkel schwebt.

      Die Tiefen deiner Tiefen möcht’ ich sehn, und mit dir unberührte Wege geh’n.

      3. Kapitel

      Lillis Fantasie brodelte in ihr wie ein dicker, sämiger Eintopf und drohte überzukochen, wenn sie nicht großzügig daraus schöpfte: Hochsommerliche Schwüle lag über der Stadt. Der Himmel schrie mit tiefem Blau über die Grünspandächer der Geschäftshäuser. Es war windstill. Träge floss der Verkehr. Sie stand an der Treppe, die nach unten zur U-Bahn führte. Vor ihr verschmolzen vier Straßen mit weichem Asphalt zu einer breiten Kreuzung. Sie würde noch fünf Minuten warten. Wenn er dann nicht käme, würde sie gehen. Türkis war ihre Lieblingsfarbe. Im Schaufenster hinter ihr, verwischten sich die Konturen. Ihre türkisen und die der Lindenbäume am Ufer der Binnenalster. Etwas Warmes berührte von einem zum anderen Augenblick ihren Handrücken, und zart wie eine Feder im Abendwind, gleich noch einmal an anderer Stelle. Sie schaute auf ihre Hände und starrte auf dunkelrotes Blut! Ihre entsetzten Augen, die jetzt nach oben gerichtet, nach einer Erklärung suchten, trafen auf weitere Bluttropfen, die aus einem taumelnden Schwan am Himmel regneten und nun von blutverschmierten, tanzenden Federn begleitet wurden. Der Schwan, der mit drei anderen am tiefblauen Himmel unterwegs war, schlug wild mit seinen Flügeln, von denen einer nur noch unzulänglich an blutigen Hautfetzen funktionierte. Der Schwan drehte sich wie im Sog eines Strudels und schrie aus Leibeskräften, während sich die anderen Schwäne mit kräftigen Flügelschlägen mehr und mehr in Richtung Außenalster von ihm entfernten. Zur Salzsäule erstarrt, ließ sie zu, was dann geschah! Entsetzt verfolgte sie, wie sich in wenigen Sekunden der Abstand zwischen ihr und dem schweren, blutverschmierten, schreienden, großen Vogel dramatisch verringerte und im nächsten Augenblick auf sie herabstürzte.

      Sie fühlte einen kräftigen Schlag, dann seine Körperwärme, fühlte, wie sich der lange Schwanenhals wie ein Lasso um den ihren schlang, der gellende Schrei ihre Ohren betäubte, warme Rinnsale von Blut über ihr Gesicht liefen und es mit einem festen Federfächer bedeckte, als sie taumelnd zu Boden ging. Sie riss die Augen weit auf und starrte wie durch Opalglas in den sonnigen Nachmittag. Kraftlos und unfähig, sich zu bewegen, lag sie ausgestreckt unter dem sich wälzenden Tier, das mit großen, flachen Füßen ihre Brust betrampelte, um Halt zu finden und sich immer wieder schwerfällig aufrichten wollte, was ihm jedoch misslang. Ihre Arme lagen nicht schützend um ihren Kopf! Sie hörte Stimmen, dann kleine, spitze Schreie ganz nah und weiter hinten und viele eilige Schritte. Hände griffen jetzt beherzt zu, nahmen keine Rücksicht auf die schmerzende Flügelverletzung, beschmierten sich mit Blut, und zerrten den in Rotschattierungen leuchtenden und kämpfenden Schwan von ihrem zitternden Körper. Jetzt versperrte ihr eine Horde Beine in langen Hosen und Nylonstrümpfen die Sicht auf die Binnenalster! Türkis war ihre Lieblingsfarbe, und sie erschrak über