Fee-Christine Aks

Im Schatten des Deiches


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jemals tun wird. ‚Ein Glück‘, denkt er, ‚dass wenigstens der arme Pelle noch bis Mittwoch bei Heimke seine Ruhe hat vor dieser Rasselbande, die unser Haus auf den Kopf stellt.‘

      Er schenkt sich eine zweite Tasse starken Ostfriesentee ein, lässt ein Stück Kluntjes hineinfallen und beobachtet einen Moment lang, wie der heiße Tee dem Zucker zusetzt. Ein leises Knacken ist zu vernehmen, als das erste Scheibchen vom Zuckerkristall abbricht und sich aufzulösen beginnt. Karl gibt einen kleinen Schuss Milch in den Becher und wartet, bis sich die weiße Flüssigkeit von selbst vollständig mit dem Tee vermischt hat.

      Dann nimmt er einen vorsichtigen Schluck und blättert weiter in der Zeitung. Er überfliegt die Artikel, die Gesche und ihre drei Mitarbeiter sonst noch so verbrochen haben. Von ‚Besucherrekord während der Feiertage‘ ist dort zu lesen und davon, dass es in diesem Jahr genug Tannenbäume auf der Insel gibt.

      Unter der Rubrik ‚Ditjes & Datjes‘ findet er die Notiz, dass Margits gemütliche kleine Dachgeschosswohnung in der Gartenstraße, unweit der Kirche, ab Januar zu vermieten sein wird. Ja, es muss weitergehen. Und gerade zur nächsten Sommersaison werden mit Bestimmtheit wieder alle verfügbaren Gästezimmer und Ferienwohnungen benötigt werden.

      „Guten Morgen, Papa“, hört er die Stimme von Karin in seinem Rücken. „Hast du noch einen Becher Tee für mich übrig?“

      „Selbstverständlich. Bediene dich.“

      Mit einem langen Seufzer sinkt Karin auf einen der Küchenstühle aus hellem, sauber gebeiztem Nussholz, die Karl vor Jahren von Tischlermeister Jan Teese hat anfertigen lassen.

      „Die rauben mir noch den letzten Nerv“, murmelt Karin und wirft einen Blick zur Küchendecke, wo über den altersdunklen Eichenbalken das Getrappel von mehreren Füßen zu hören ist. Offenbar sind die Kinder wach und streiten sich um die Badezimmerzeit.

      Karl hört das wütende Zuschlagen von Türen, dann Lindas schrilles Kreischen, das in das Wutgeheul eines der Jungen übergeht. ‚Geschwisterliebe‘, denkt Karl kopfschüttelnd und nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Teebecher, während ihm leises Wasserrauschen über seinem Kopf verrät, dass es zumindest eines seiner Enkelkinder bis unter die Dusche geschafft hat, begleitet von Schimpfwörtern und lautstarkem Klopfen gegen die Badezimmertür. Es wird wohl noch etwas dauern, bis die jungen Herrschaften sich an die Insel mit ihrer Ruhe und Gelassenheit gewöhnt haben.

      „Du hättest sie erleben sollen“, fährt Karin müde fort und nimmt einen vorsichtigen Schluck vom heißen Tee, den sie wegen ihrer Laktoseintoleranz ohne Milch, dafür aber mit drei Süßstofftabletten trinkt. „Sie haben den Aufstand geprobt und wollten partout nicht ins Auto einsteigen. Halb Halstenbek haben sie zusammengebrüllt, sodass unsere neugierige Nachbarin Frau Schultz schon dabei war, die Polizei zu verständigen.“

      „Tja“, kommt Martins verschlafene Stimme von der Tür her, „man sollte nicht meinen, dass sie inzwischen erwachsen sind. Sie benehmen sich keinesfalls so. Ich frage mich manchmal, wer das ist, der am Klinikum so gewissenhaft seine Ausbildung macht, aber zuhause sofort wieder zu ‚Mats dem Monster‘ mutiert. Und jetzt will er auch noch ausziehen, ja, schau nicht so, Karin. Hat er mir eben gesagt, oder besser zugerufen.“

      „Damit du deinen Satz von ‚Beine unter meinem Tisch…‘ nicht mehr sagen kannst“, mutmaßt Karin und gießt ihrem Mann einen Becher Tee mit Milch und zwei Stück Kluntjes ein.

      „Vielleicht“, antwortet Martin und sinkt auf einen der anderen Stühle. „Und er hat auch Kai auf die Idee gebracht, dass eine Studentenbude doch was Tolles wäre. Ich sag dir, wenn auch noch Linda damit anfängt, dann meutere ich.“

      „Wie geht es eigentlich mit ihr?“ fragt Karl, während Martin langsam seinen Tee zu trinken beginnt. „Hat sie aus der Sache im Sommer was gelernt?“

      Schulterzucken der Eltern ist auch eine Antwort. Irgendwie hat Karl es schon geahnt, dass es mehr als ein gebrochenes Handgelenk und eine Gehirnerschütterung braucht, um Linda wieder zur Vernunft zu bringen. Warum sonst ist sie gleich gestern abend noch, dem Sturm zum Trotz, die Süderstraße hinunter gelaufen bis zur alten Signalstelle?

      „Vielleicht ist das eine Erfahrung“, überlegt Karl in seinen halbvollen Teebecher hinein, „die junge Mädchen machen müssen. Dann wird es beim nächsten Mal nicht so schlimm, wenn sie sich in den nächsten jungen Burschen verkuckt.“

      „Dein Wort in Gottes Ohr, Papa“, seufzt Karin und leert ihren Teebecher. „Was hast du eigentlich zum Frühstück im Haus?“

      Ohne auf eine Antwort zu warten steht sie auf und öffnet die Küchenschränke, den Brotkasten und den Kühlschrank. Mit ein paar Scheiben geschnittenem Lotsenbrot, einem Glas Erdbeermarmelade und einem Rest kalt geräucherter Mettwurst kehrt sie an den Tisch zurück. Martin bedient sich selbst, während Karl dankbar ein Marmeladenbrot entgegen nimmt.

      „Schicken wir doch das junge Gemüse zum Einkaufen“, schlägt Karl vor, als über ihnen wieder das Trappeln von mehreren Füßen zu vernehmen ist. Das Wasserrauschen der Dusche hat aufgehört, dafür klappert nun Keramik, gefolgt von der Toilettenspülung.

      „Typisch Linda“, murmelt Martin kopfschüttelnd. „Sie denkt nur an sich, nicht an ihre Brüder, geschweige denn ihre Eltern.“

      „Ich schreibe eine Einkaufsliste“, nimmt Karin den Vorschlag ihres Vaters auf und angelt nach Papier und Bleistift, die neben dem Toaster auf der Fensterbank liegen. „Dann sollen sie sich zusammenraufen und zum Supermarkt gehen und einkaufen.“

      „Du meinst, in der Öffentlichkeit werden sie sich besser benehmen?“ fragt Martin ungläubig. „Na, wir können’s ja versuchen.“

      *****

      Doppelgänger

       Langsam wanderte der Mann durch die Neue Straße in Richtung Rathaus. Er bog in die Alte Schulstraße ein und erreichte wenige Minuten später den Bäcker am Bahnhofsplatz. Man grüßte ihn freundlich, aber nicht so herzlich wie andere Kunden, als er Borkumer Konfekt kaufte.

       Mit einem höflichen Kopfnicken verabschiedete er sich von der molligen Verkäuferin und trat wieder hinaus auf den Bahnhofsplatz. Hier und da waren bereits einige Menschen auf den Beinen. In warme Winterkleidung eingepackt, gingen sie vom Bäcker zum kleinen Supermarkt, zur Apotheke und zum Teegeschäft an der Ecke der Fußgängerstraße.

      Die Papiertüte unterm Arm, wollte der Mann sich gerade umwenden und am Supermarkt vorbei zurück in Richtung Neue Straße gehen, als sein Blick auf die Auslage des Zeitungskiosk und die heutige Schlagzeile der Borkumer Zeitung fiel. Kurz entschlossen änderte er seine Marschrichtung und schlenderte äußerlich ruhig und gefasst auf den Kiosk zu.

       Ein älterer Mann, den er erst auf den zweiten Blick als den Wärter vom Neuen Leuchtturm erkannte, grüßte ihn höflich im Vorbeigehen, ebenso eine rundliche ältere Frau, die mit einem Päckchen Butterbrote hinüber zur Polizeiwache ging.

      Um der Höflichkeit Genüge zu tun, neigte der Mann den Kopf und erwiderte stumm die morgendlichen Begrüßungen, bevor er die Tür zum Kiosk aufschob. Außer dem Verkäufer war niemand da, sodass er sich unwillkürlich dem freundlichen, aber oberflächlichen Geschnatter des Mittvierzigers ausgesetzt sah. Von seiner Katze, die sich einen Dorn eingetreten und von Tierärztin Heimke Duur behandelt worden war, erfuhr er ebenso wie vom bevorstehenden gemütlichen Adventstee im Borkumer Teestübchen und dem ersten Todesopfer des Sturmtiefs „Engel“.

       Die Ladentür schellte, als der Mann gerade sein Wechselgeld einsteckte. Eine junge Frau in dicker goldbrauner Daunenjacke und taubenblauer Wollmütze war mit einem freundlichen „Guten Morgen“ hereingekommen.

       Der Mann erstarrte. Sie war es. Oder doch nicht?

       Als die junge Frau, die ihm kaum bis zur Schulter reichte, die Mütze abnahm und ihre kurzen kastanienbraunen Locken zurechtschüttelte, erwachte er