Fee-Christine Aks

Im Schatten des Deiches


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„Oh, das wusste ich noch nicht. Wie geht es ihm denn?“

      „Besser, danke. Heimke hat sich dankenswerterweise gleich gestern Nacht noch um seine Wunde gekümmert und ihm eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben. Pelle bleibt noch bis morgen bei ihr, damit sie die Heilung beobachten kann. Ich bekomme heute Besuch vom Festland, meine Tochter samt Familie.“

      „Ach, die Hagelsteins“, seufzt Gerrit. „Ich hoffe, deine Enkelin hat aus der Sache im Sommer gelernt und wird sich nicht wieder auf solche halsbrecherischen Kletteraktionen einlassen, nur um irgendeinen Surflehrer zu beeindrucken…“

      Karl schüttelt langsam den Kopf und hofft inständig, dass Linda vernünftig geworden ist und nicht noch einmal von außen zur Dachwohnung in der alten Signalstation hinaufklettern wird. Die ganze Aktion hätte auch ganz anders ausgehen können als mit einer Gehirnerschütterung und einem, von Janny fachmännisch geschienten, gebrochenen Handgelenk.

      „Das erinnert mich…“, murmelt Karl und erhebt sich. „Die Bahn muss gleich da sein. Es ist schon fünf vor sieben…“

      „Bei dem Sturm“, antwortet Gesche und wirft einen Blick zur verglasten Tür, vor der die Hecken am Fuße des Neuen Leuchtturms im Wind schwanken. „Würde mich schon sehr wundern, wenn sie überhaupt pünktlich aus Emden losgekommen sind.“

      „Moment“, murmelt Gerrit und kehrt raschen Schrittes zu seinem Computer zurück. Er tippt etwas und wartet ein paar Sekunden. Dann vermeldet er: „Die MS Ostfriesland ist gerade erst am Leitdamm angekommen, also noch nicht mal im Hafen. Vor viertel nach wird die Bahn nicht hier sein.“

      „Aber“, ergänzt er, an Karl gewandt, „was mich betrifft, sind wir fertig. Aber wie gesagt, falls dir doch noch was einfällt, melde dich.“

      Karl nickt und geht langsam auf die Klappe im Tresen zu, die Gesche ihm hilfsbereit aufhält. Sie lächelt ihm freundlich zu, als Karl sich per Handschlag von ihr verabschiedet und die Journalistin mit ihrem Bruder allein lassen will. Noch im Hinausgehen hört er, wie Gerrit resigniert sagt:

      „Schreib einfach, es war ein schrecklicher Unfall, der Margit das Leben kostete und den Dackel schwer verletzte. Nicht zu viele Details. Dann denken sie fürs Erste, es wäre eine Folge des Sturms.“

      *****

      Inselzeit

       Ein leises Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Mannes. Er hatte es gewusst. So sicher wie Borkum eine Insel war, herrschten hier Ruhe und Gemütlichkeit. Nur keine Hektik.

       Die nur langsam in die Gänge kommende Polizeiarbeit, die er sicherheitshalber aus der Ferne verfolgte, hatte ihm genug Zeit gelassen, sich um sein Alibi zu kümmern. Wie herrlich war sie doch, diese Inselzeit!

       Es machte nichts aus, dass er es nicht mehr geschafft hatte, die steife Frau im Behälter mit dem Streusalz zwischenzulagern. Es machte auch nichts aus, dass der Hund nur verletzt wurde. ‚Selbst schuld‘, dachte der Mann gleichgültig. ‚Hättest mich nicht ankläffen müssen. Keiner hat dich gebeten, mich zu stören. Das hast du nun davon.‘

       Wie geplant war er noch in der Nacht heimlich an Bord der fest vertäuten Fähre gegangen, die um acht Uhr am nächsten Morgen mit ihm als blindem Passagier nach Emden gefahren war. Dort hatte alles wie am Schnürchen geklappt. Niemand hatte ihn bemerkt, wie er unter einer Abdeckplane auf der Ladefläche des Lieferwagens eines norddeutschen Möbelhauses an Land gekommen und erst auf dem Parkplatz, wiederum ungesehen, abgesprungen und in die Stadt gegangen war.

       Glücklicherweise hielten Malwine und Kurt es nicht für nötig, ihre Hintertür abzuschließen. So war es ihm ein Leichtes gewesen, sich in einen dunklen Winkel der Gaststube auf die Holzbank zu legen und erst von der morgenmuffeligen Malwine in Hausschuhen und Putzschürze ‚geweckt‘ zu werden…

      Bei dem Gedränge an einem Freitagabend hatte weder sie noch Kurt sich daran erinnern können, welcher Stammgast anwesend oder nicht anwesend war. Eine weitere glückliche Fügung war es auch gewesen, dass er gemütlich bei Malwine einen Strammen Max mit Nordseekrabben extra zum späten Frühstück bestellen konnte, um danach – und zwei, drei Jever vom Fass später – gemütlich zur Nachmittagsfähre zu fahren.

       In dem Trubel, der am letzten Adventssamstag vor Weihnachten auf der großen Autofähre herrschte, war es nicht einmal dem genervten Bootsmann an der Kartenkontrolle in Erinnerung gekommen, dass er am vergangenen Abend nicht an Bord gewesen war… Ein perfektes Alibi, sollte jemand auf die aberwitzige Idee kommen und ihn danach fragen.

       Aber dann dieser Schock. Nachdenklich schnippte der Mann ein paar Krümel von der rotweiß karierten Tischdecke auf den gefliesten Küchenboden seines Hauses. Er würde sich vergewissern müssen, dass er sich geirrt hatte.

       Und, wenn nicht, im Fall der Fälle, dass er sich nicht geirrt hatte, würde er einen weiteren Mord begehen müssen. Nichts leichter als das, hatte er doch in all den Jahren reichlich Erfahrung sammeln können, wie man gerade hier auf dieser gemütlichen Insel, die wider Willen in den vergangenen Jahrzehnten zu seiner Heimat geworden war, nicht auffiel und bei dunklen Machenschaften entdeckt wurde. ‚Auf Borkum ist alles anders‘, hieß es nicht umsonst…

      *****

      Sonntag, 21. Dezember 2014.

      Sonntag, 21. Dezember 2014.

      Lotta erwacht mit einem Lächeln im Gesicht. Gemütlich eingekuschelt in eine dicke Daunendecke liegt sie im Giebelzimmer von ‚Haus Westwind‘ und hört draußen den Sturm in den Baumwipfeln pfeifen.

      Das alte Haus ist in beeindruckend gutem Zustand, lediglich eine Scheibe im vorderen Fenster des angebauten Schuppens ist kaputt und durch eine gut verklebte Abdeckplane ersetzt.

      „Das hat mein Sohn Gerrit gemacht“, hat die alte Frau Raake gesagt, die im nicht weit entfernten ‚Haus Seemöwe‘ am Wiesenweg den Schlüssel verwahrt hat. Lotta ist die gemütliche rundliche Endsechzigerin auf Anhieb sympathisch gewesen mit ihrem graumelierten rotblonden Kurzhaarschnitt und den wachen blauen Augen.

      In Anbetracht der vorgerückten Abendstunde hat sie sich jedoch schon nach wenigen Minuten verabschiedet und ist im ‚Haus Westwind‘ verschwunden. Um acht, haben die Jungs gesagt. Sebastian hat Lotta den ganzen Weg, vom Bahnhof durch die Fußgängerzone und die Süderstraße bis zum Wiesenweg hinunter, bearbeitet, bis Lotta schließlich doch zugestimmt hat, am Abend dem Italiener am Neuen Leuchtturm einen Besuch abzustatten.

      So hat sie nur einen kurzen Rundgang durchs Haus gemacht, um zu prüfen, dass wirklich überall die Fenster in Ordnung sind und auch die Wasserhähne sauberes Wasser ausspucken. Pünktlich um fünf nach acht haben die Jungs an die Haustür geklopft und sie zur besten Pizza Margarita entführt, die sie außerhalb Italiens je gegessen hat.

      Den ganzen Abend über hat Lotta sich mehr mit dem fröhlichen Sebastian als mit Moritz unterhalten, der zumeist schweigsam daneben gesessen und nur ab und zu eine Frage oder eine knappe Antwort eingeworfen hat. So hat sie von Basti erfahren, dass beide aus Bremen stammen und seit der Grundschule die besten Freunde sind.

      „Für mich“, hat Basti nach den Antipasti mit Blick auf Moritz gelacht, „wird er immer ‚Momo‘ bleiben, auch wenn er heutzutage lieber ‚Mo‘ genannt werden würde, weil das erwachsener klingt. Weißt du, Kumpel, du solltest einfach anfangen, nur noch auf ‚Mo‘ zu hören. In ein paar Jahren hat’s dann vielleicht auch der Letzte – nämlich: ich – begriffen und hält sich dran.“

      „Du?“ hat Moritz trocken erwidert. „Du kannst dich doch morgens nicht mal an deinen eigenen Namen erinnern. Und ich meine nicht, weil du einen gewaltigen Kater hast. Prost, mein Freund!“

      Lotta