ein Wort herausbekommen. Sie hat es vermieden, Moritz direkt anzusehen, um ihren Atem nicht allzu oft stocken zu lassen. Denn dass er weder schwul noch in festen Händen ist, hat Sebastian wie beiläufig verraten, als er seinen besten Freund mit dem strahlenden Lächeln der jungen Kellnerin aufgezogen hat.
Bei je einer riesigen Portion Tiramisu und zwei bis fünf Sambuca haben sie den Abend gemütlich ausklingen lassen, bevor Lotta sich – zugegebenermaßen leicht schwankend, sie ist Alkohol einfach nicht gewohnt – von Sebastian am Arm zurück zum ‚Haus Westwind‘ hat führen lassen.
„Warme Träume“, hat er ihr mit einem verschmitzten Zwinkern gewünscht, bevor er ihr einen nach Anis duftenden Kuss auf die von Wind und Kälte gerötete Wange gehaucht hat.
„Danke, gleichfalls“, ist alles gewesen, wozu sie imstande gewesen ist, bevor Moritz sie in einer kurzen, freundschaftlichen Umarmung an sich gezogen hat. Der Anis-Duft ist bei ihm nicht so stark gewesen, obwohl er genauso viel wie Basti getrunken hat. Aber ein angenehm winterlicher Geruch nach Zimt und Sandelholz hat den Sambuca-Duft spielend überlagert.
„Bis morgen“, hat er leise an ihrem Ohr gesagt, bevor er sie wieder losgelassen hat. Sie erinnert sich vage, dass sie beinah gestürzt wäre. Mit wackligen Knien sind die zwei Stufen bis zur Eingangstür von ‚Haus Westwind‘ nur schwer zu bewältigen gewesen. Doch mit ihrem eisernen Willen hat Lotta sie dennoch gemeistert, ohne sich zu blamieren. Mit einem letzten Winken, das eher an Moritz als an Basti gerichtet gewesen ist, hat sie sich von den beiden verabschiedet und die Tür hinter sich geschlossen.
Ihr Blick fällt auf das hellblau gestrichene Nachtschränkchen mit der Leselampe darauf, deren Fuß eine hölzerne Möwe bildet. Direkt davor liegen zwei Zimtstangen, die sie gestern abend noch aus einem der Küchenschränke gezogen und mit ins Giebelzimmer genommen hat. Kein Wunder, dass sie gut geschlafen und nur von Moritz geträumt hat. Und was für Träume…
Bevor sie sich erneut im faszinierenden Malachitgrün seiner Augen verlieren und sich in seine starken Arme träumen kann, stützt Lotta sich seufzend auf den Ellenbogen und richtet sich im Bett auf.
Vor dem Fenster an der Stirnseite des gemütlichen Giebelzimmers schwanken die kahlen Äste von Nussbäumen im frischen Morgenwind. Laut Wettervorhersage soll es heute noch mehr stürmen als gestern. Ein perfekter Tag für Butter-stollen und Ostfriesentee mit Milch von glücklichen Kühen und den typischen, Kluntjes genannten, Zuckerkristallen.
Doch dafür muss sie erstmal den Supermarkt wiederfinden, den Sebastian ihr gestern im Vorbeigehen gezeigt hat. Tee und Zucker gibt es genug im Einbauschrank unter der Dachschräge in der Küche. Aber mit Milch und Christstollen sieht es mager aus, weshalb sie beides auf ihren mentalen Einkaufszettel aufnimmt. Was den Tee angeht, so wird sich schon etwas finden in all den leicht angerosteten Tee-Dosen; und sollten diese zu muffig riechen, wird das kleine Teegeschäft an der Fußgängerstraße sicherlich etwas Passendes haben.
Barfuß tappt Lotta über die kühlen Holzdielen zum Waschtisch hinüber, um sich mit einem Schwall kalten Wassers mitten ins Gesicht munter zu machen; ihre morgendliche Routine, um in Hamburg frisch und wach zur Arbeit fahren zu können. Doch auf Borkum ist alles anders. Hier klappert sie mit den Zähnen und lässt sich, ganz gegen ihre Gewohnheit, lauwarmes Wasser ein.
Mit dem Geschmack von Spearmint im Mund und der kratzigen warmen Wolldecke vom Fußende des Bettes um die Schultern steigt sie wenig später die steile Treppe ins Erdgeschoss hinunter und macht sich auf die Suche nach dem Badezimmer. Es gibt insgesamt zwei, so erinnert sie sich dunkel an ihre schnelle Erkundungstour vom Vortag. Doch wo sind sie abgeblieben?
Als sie zum zweiten Mal in die Vorratskammer neben der Küche blickt und ungeduldig von einem kalten Bein aufs andere tritt, klopft es an die Haustür. Verdutzt blickt Lotta durch den Flur und erkennt hinter dem milchigen Glas der Scheibe eine große Gestalt mit offiziell wirkender Mütze auf dem Kopf. Ein uniformierter Kollege, allem Anschein nach. Aber was will er hier?
Während sie noch überlegt, ob sie so wie sie ist im Nachthemd und mit der Wolldecke um die Schultern die Tür öffnen soll, bückt sich die Gestalt vor der milchigen Scheibe. Der Briefschlitz klappert, bevor etwas Kleines, Weißes auf die ausgetretenen Holzdielen neben der Fußmatte flattert. Dann ist der uniformierte Schatten verschwunden.
Vorsichtig balanciert Lotta auf Zehenspitzen durch den kalten Flur und hebt das auf, was dort so unschuldig neben der Fußmatte liegt. Es ist eine Visitenkarte mit dem Wappen der Insel auf der einen Seite über dem Schriftzug Polizei Borkum, mit Polizeimeister Gerrit Raake und einer Mobilnummer darunter. Auf der weißen Rückseite stehen handschriftlich sechs Worte: Bitte melden Sie sich bei mir. Soso, der Sohn der gemütlichen Frau Raake ist also ein Kollege.
„Jetzt rächt es sich“, denkt Lotta, während sie mit der Karte in der Hand zurück in Richtung Küche geht. „Ohne Festnetz und Ladegerät auf einer Insel, warum habe ich überhaupt mein Handy mitgenommen?“
Nachdenklich legt sie die Visitenkarte auf den Tisch und geht zurück in den Flur. Das Bedürfnis ist mittlerweile sehr dringend geworden. Rasch wirft sie einen prüfenden Blick ins Wohnzimmer, von dem nur eine weitere Tür in ein kleines Lesezimmer mit deckenhohen Regalen voller gebundener Bücher abgeht.
Zwischen Küche und Treppe ins obere Stockwerk, in dem kein Badezimmer ist, steht sie wieder an der offenen Verbindungstür zum Flur, hinter der sie dieses Mal mit einem erlösten Seufzen die vermisste Badezimmertür entdeckt.
Nachdem sie in der frei stehenden Badewanne geduscht und sich ein frisches Polohemd zur verwaschenen Jeans des Vortags übergezogen hat, wirft sie noch einen Blick in den Gang zur Hintertür, durch die man in die Waschküche und den rückwärtigen Garten gelangt. Was sie für einen zweiten Vorratsraum gehalten hat, entpuppt sich als Duschbad mit Toilette.
Bei einer wärmenden Tasse Kräutertee mit Fenchel und Anis, dem einzigen und letzten Tee, der nicht wie muffiger alter Faulschlamm riecht, sitzt Lotta wenig später am altersdunklen Eichentisch auf der Küchenbank und starrt erneut nachdenklich auf die Visitenkarte.
Was wohl passiert ist, dass man sie über die hiesige Dienststelle kontaktiert? Noch dazu an einem Sonntag. Dabei hat der Chef doch ausdrücklich gesagt, sie solle nicht vor dem fünften Januar wieder auf der Wache erscheinen…
Es hilft nichts, sie muss sich wohl melden bei diesem PM Gerrit Raake. Innerlich grinsend, dass sie an ihrer Uniform zwar ein Sternchen weniger, dafür aber als Einsteiger in den gehobenen Polizeidienst schon eine höhere Besoldungsstufe hat, nimmt sie ihre dicke goldbraune Daunenjacke vom Haken.
Mit der warmen Wollmütze in freundlichem Taubenblau auf dem kurzen Haar und schwarzen, cashmere-gefütterten Lederhandschuhen an den schlanken Händen schließt sie die Haustür ab und stapft in ihren warmen Winterschuhen die Süderstraße hinunter in Richtung Bahnhof.
Irgendwo dort, zwischen den Schienen und dem gewaltigen Neuen Leuchtturm, glaubt sie gestern Abend den wohlbekannten Schriftzug auf dunkelblauem Grund gesehen zu haben.
Nicht weit entfernt muss auch das kleine Tee-Geschäft sein, wo sie sich mit Nachschub versorgen kann. Die Tee-Dosen ihrer Großmutter stehen allesamt unangetastet im Einbauschrank in der Küche und warten darauf, in den Müll entleert zu werden.
*****
„Was ist denn mit dir los?“
Moritz fühlt sich nachdrücklich am Arm gerüttelt, sodass der starke Schwarztee in seinem Becher gefährlich zu schwappen beginnt. Überrascht blickt er auf und in Sebastians fragendes Gesicht.
„Lotta?“ fragt Sebastian mit verhaltenem Grinsen.
„Sie ist seltsam, nicht wahr?“
„Seltsam?“ Sebastians Grinsen wird breiter. „Soso. ‚Seltsam‘ ist sie also.“
Moritz versteht nicht gleich, sondern starrt gedankenverloren aus dem Fenster auf die windgepeitschten Wellen am Südstrand. Es wird wieder ein stürmischer Tag werden.
„Träumst du noch von ihr?“ neckt Sebastian und zwinkert