Fee-Christine Aks

Im Schatten des Deiches


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wendet sich wieder ihrem Geschirr zu, das bei den Schiffsbewegungen merklich gerutscht aber nicht wirklich in Gefahr gewesen ist. Kurzerhand trinkt sie die Cola aus und stellt das leere Glas fest auf den Teller, den sie damit auf dem Tisch geradezu fixiert.

      Ein junger Mann, der offenbar die warnende Ansage des Kapitäns ignoriert hat, schwankt mit verkrampfter Miene den schmalen Gang zwischen den Tischen im Bordrestaurant entlang. Offenbar von der Essensausgabe kommend, hält er sich so gut es geht mit ausgestreckten Armen fest und blickt starr geradeaus, über die Köpfe der Familie hinweg, in Richtung der rückwärtigen Kabinentür, die auch zu den Toiletten führt.

      Trotz seiner etwas unbeholfenen Bewegungen kommt Lotta nicht umhin zu bemerken, wie gut er aussieht. Er ist etwa in ihrem Alter, vielleicht zwei, drei Jahre älter, sportlich schlank und muss mindestens einen Meter achtzig groß sein, da er immer wieder den Kopf unter den tief hängenden und heftig hin und her schaukelnden Deckenlampen einziehen muss. Sein daumenlanges Straßenköter-blondes Haar ist verstrubbelt und fällt ihm in glatten Strähnen sorgsam unfrisiert in die Stirn.

      „Oh, Entschuldigung“, murmelt er, als eine erneute Bewegung des Schiffes ihn unerwartet zur Seite wanken, gegen Lottas Tisch stoßen und auf die freie Bank ihr gegenüber fallen lässt. Warme braune Augen werfen ihr einen treuherzigen Blick zu, den Lotta so formvollendet sonst nur von Hunden kennt.

      „Schon okay“, antwortet sie neutral und wischt sich unwillkürlich eine ihrer kurzen kastanienbraunen Locken hinters Ohr. „Bleiben Sie meinetwegen sitzen, bis wir anlegen. Wir sind eh gleich da.“

      „Na, so ein Glück“, antwortet er mit einem vorsichtigen Lächeln und wirft einen Blick in Richtung des Tisches, an dem die fünfköpfige Familie sitzt. Nun haben auch die Jungen ihre Mobiltelefone hervorgezogen und tippen gelangweilt auf den Displays herum, während sich die Eltern mit einem amüsierten Lächeln ansehen und leise unterhalten.

      „Wieso?“ fragt Lotta mit einem leisen Kichern in der Stimme. „Sind Sie etwa seekrank?“

      „Nicht doch“, erwidert der junge Mann und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Augenwinkel. „Ich bin schließlich Surfer. Wasser ist mein Element.“

      „Na, dann bin ich ja beruhigt“, antwortet Lotta halbernst. „Hatte schon befürchtet, ich müsste auf die Suche nach einer ‚Notfall-Tüte‘ gehen, wie es sie im Flugzeug immer gibt.“

      „Haha“, murmelt der junge Mann mit gespielt beleidigter Miene, bevor er mit einem breiten Lächeln fortfährt: „Ich merke, Sie fahren nicht zum ersten Mal auf die Insel.“

      „Falsch. Es ist tatsächlich mein erster Besuch auf Borkum.“

      „Tatsache? Ich hätte gedacht, Sie wohnen da.“

      „Wie kommen Sie denn da drauf?“

      „Nur so ein Gefühl.“

      „Falls es Sie wirklich interessiert“, antwortet Lotta, bevor sie sich bremsen kann, „ich komme aus Hamburg. Kennen Sie vielleicht, das ist diese schöne Hanse- und Weltstadt an der Elbe, berühmt für den Hafen, die Reeperbahn und die Franzbrötchen…“

      „Kommt mir bekannt vor“, erwidert der junge Mann mit gespielt grüblerischer Miene. „Wenn’s eine Hansestadt ist, dann scheint sie mir verwandt zu sein mit Bremen. Da komme ich nämlich her. Oder, um genau zu sein, aus dem netten kleinen Örtchen Lilienthal, das dort in der Nähe ist.“

      „Freut mich, ‚Mister Lilienthal‘“, frotzelt Lotta und erkennt durch das Fenster bereits den Leitdamm, der zur Hafeneinfahrt von Borkum führt. „Dann nehme ich an, Sie sind nicht zum ersten Mal auf der Insel?“

      „Stimmt genau, ‚Fräulein Hamburg‘. Ich war im Sommer schon mal hier. Uns hat es so gut gefallen, dass wir jetzt über die Feiertage wiederkommen.“

      ‚Uns?‘ durchzuckt es Lotta enttäuscht. ‚Wie schade.‘ Aber, ehrlich gesagt, sie hat nicht wirklich damit gerechnet, dass so ein Typ noch nicht in festen Händen ist. Einen Ring trägt er zwar nicht, aber was heißt das heutzutage schon. Wahrscheinlich hat er eine hochschwangere Verlobte dabei, etwa so wie Christian, den Lotta per Zufall vor wenigen Tagen auf dem Weihnachtsmarkt an der Petri-Kirche getroffen hat.

      Auch wenn es Lotta selbst gewesen ist, die sich vor fünf Jahren von dem egozentrischen Anwaltssohn getrennt hat, so ist es doch schmerzhaft gewesen, ihn Arm in Arm mit dieser Vanessa zu sehen, an deren Ringfinger ein Hochkaräter mit der Weihnachtsdekoration um die Wette geblitzt hat.

      Christian ist immerhin ihre erste große Liebe gewesen, und die vergisst eine Frau nie; selbst nicht, wenn sie wie Feuer und Wasser gewesen sind und nie ernsthaft eine Zukunft gehabt hätten.

      Die drei nichtssagenden Lückenbüßer, mit denen sie nacheinander bis kurz vor den Abschlussprüfungen an der Polizeischule zusammen gewesen ist, hat sie ohnehin aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Sie kann sich kaum an ihre Namen erinnern, so austauschbar sind sie gewesen. Und ohnehin kommt sie gut allein zurecht und stirbt nicht am Single-Dasein.

      So gesehen ist sie seit dem letzten Versuch vor einem guten Jahr nicht mehr auf der Suche nach ‚Prince Charming‘ oder ‚Mr Right‘. Sie stürzt sich lieber in ihre Arbeit, um gar nicht erst auf düstere Gedanken zu kommen, die nur ein einfühlsamer Mann mit Traumkörper, Humor und der nötigen Portion Grips erhellen könnte. ‚Mann-los glücklich‘, hat ihre beste Freundin Sanna gesagt, ‚nein, das könnte ich nicht. Aber du, Lottchen, du schaffst das. Du bist so viel stärker als ich.‘

      Offiziell glaubt Lotta das auch und lebt diese Unabhängigkeit, in der sie auf niemanden außer sich selbst Rücksicht nehmen muss. Sie hat ihre kleine Zwei-Zimmer-Dachgeschosswohnung in einem westlichen Hamburger Stadtteil, ihren zukunftssicheren Job, Sanna und ihre Eltern. Mehr braucht sie nicht, offiziell gesprochen.

      Wenn sie aber ehrlich ist, dann wünscht sie sich insgeheim doch einen starken Mann an ihrer Seite, einen, der sie nach einem harten Arbeitstag auch einfach mal nur in den Arm nimmt, ohne ihr immer gleich an die Wäsche zu gehen.

      Rein optisch würde ihr Gegenüber, der sie aus seinen warmen braunen Augen freundlich anlächelt, gut passen. Aber Christian war auch gutaussehend, wobei der schöne Schein getrogen hat und die anfängliche heiße Verliebtheit mit der rosaroten Brille schnell in Enttäuschung umgeschlagen ist.

      „Wenn Sie noch nie auf Borkum waren“, fährt ‚Mister Lilienthal‘ nachdenklich fort, „dann brauchen Sie vielleicht Hilfe, sich dort zurecht zu finden? Im Winter soll es etwas ruhiger zugehen als im Sommer, hat man mir gesagt. So hat zum Beispiel mein Lieblingscafé nur während der Saison auf, weil es ein Strandcafé ist. Aber, wenn Sie möchten, führe ich Sie gern mal ins Teehaus aus. Dort kann man gut essen.“

      „Soll das ein Date werden?“

      Die Frage rutscht Lotta unbeabsichtigt laut heraus. Erst denken, dann reden. Oberste Regel. Verdammt, als Polizistin hätte sie sich beherrschen müssen. Aber stattdessen sitzt sie hier vor diesem ausgesprochen hübschen Exemplar männlichen Geschlechts und lässt sich von seinem Charme einspinnen wie ein Backfisch, während die Fähre in den Hafen von Borkum einfährt. Ein Mädchen mit einer großen quadratischen Plastikwanne eilt routiniert durch die Gänge und sammelt das schmutzige Geschirr ein.

      „Wenn Sie möchten, gern“, erwidert er nach einer Sekunde des Erstaunens über ihre Direktheit, bevor er mit treuherzigem Augenaufschlag hinzusetzt: „Wo wir uns jetzt schon so gut kennen, sollten wir uns vielleicht mit richtigem Namen anreden, was meinst du? Ich heiße Sebastian, Sebastian Pfeiffer, mit drei „f“ natürlich.“

      „Angenehm“, will Lotta erwidern, doch da stoppt das Schiff mit einem harten Ruck und schleudert sie mit der Bauchdecke gegen die Tischkante, sodass ihr kurz der Atem wegbleibt.

      „Und das dort drüben ist Momo“, ergänzt Sebastian und deutet zu einem Tisch rechts von der Tür, durch die bereits Fahrgäste zu den Gepäckablagen strömen. „Moritz Antonius Guth, heißt er richtig.“

      Er hebt den Arm und winkt. Lotta wendet den