Wildkaninchen hoppelten über den schmalen, sauber gepflasterten Weg und verschwanden lautlos zwischen den winterlich kahlen Büschen rechts und links des Weges.
Gelangweilt sah der Mann ihnen hinterher, sah gleichgültig, wie sie mit den dürren Zweigen verschmolzen und eins zu werden schienen mit dem Dickicht, auch an jener Stelle, an der er jedes Mal im Vorbeigehen unwillkürlich einen Blick über die Schulter warf, bevor er sich ein leises Lächeln erlaubte.
Dies war eine von ‚seinen‘ Stellen, im Schatten des Deiches, und das gleich im zweifachen Sinne. Hier hatte sein unbeschwertes Leben als respektierter Mann begonnen, das er bis zu Lenas Verrat glücklich und zufrieden geführt hatte.
Genau wie drüben am Südstrand war dies aber auch ein Ort seines Triumphes und ein Beispiel für sein Geschick, der Polizei nicht aufzufallen und trotzdem zu tun, was er wollte. Sie hatte sich nicht gewehrt, weil er ihr überlegen gewesen war; denn genau wie Lena war Sabinchen vor allem eines gewesen: ein widerspenstiges Frauenzimmer, das bestraft werden musste…
Gerade wollte er sich ein Lächeln gestatten und mit verlangsamten Schritten dort vorbeigehen, wo er im fahlen Licht des sichelförmigen Mondes einen, von geblümtem Stoff kaum bedeckten zierlichen Körper hinter dem Gestrüpp zu erkennen glaubte, da hörte er ein Geräusch.
Unwillkürlich blieb er stehen, genau dort vor ‚seiner‘ Stelle, und lauschte. Es mussten Schritte sein, die sich stetig näherten. Sie kamen den Weg herauf, langsam und von einem leicht schleppenden Geräusch begleitet. Er kannte diese Schritte, da war er sich sicher.
Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er, es wären ‚jene‘ Schritte, die er schon einmal hier gehört hatte, damals vor zweiundzwanzig Jahren. Kam sie zu ihm, im fahlen Mondlicht, um ihn zu sich zu holen?
Fast meinte er, die hagere Gestalt zwischen den kahlen Büschen auftauchen zu sehen. Doch sie war es nicht, konnte es nicht sein. Das wusste er; keiner wusste es so gut wie er, dass sie nicht hier sein konnte. Schließlich lag sie dort draußen, im tieferen Wasser irgendwo weit entfernt hinter einer Sandbank, die man vom Südstrand aus gerade noch so mit bloßem Auge erkennen konnte. Vielleicht hatte aber auch die Ebbe sie noch weiter hinaus getragen, hinaus in die offene See. Er wusste es nicht. Und es kümmerte ihn nicht, wichtig war nur, dass sie weg war, ein für alle Mal. Er hatte dafür gesorgt, dass sie seinem Glück nicht im Wege stehen konnte. Er hatte sich befreit, für ein Leben mit ihr, seiner großen Liebe, seiner Lena.
Die Schritte kamen näher, sodass er zwischen den kahlen Zweigen der Büsche undeutlich eine kleine Gestalt im dicken Daunenmantel ausmachen konnte. Eine Frau, der Figur nach zu urteilen. Aber nicht irgendeine Frau. Der schäbige grüne Filzhut mit der Möwenfeder, den sie auf ihren silberdurchwirkten goldbraunen Locken trug, war nicht zu verkennen.
Unwillkürlich verspürte er einen Schmerz zwischen den Beinen, auch wenn das, was ihm damals den Schmerz verursacht hatte, nicht mehr da war. Es war ihre Schuld. Und dafür musste sie bezahlen, das hatte er sich bereits geschworen an jenem Tag, an dem er herausgefunden hatte, dass sie es damals gewesen war, die geschrien und ihn damit beinah enttarnt hatte.
Der Mann schloss mit einem stummen Seufzer die Augen und spürte, wie in ihm die aufgestaute Wut und der Rachedurst erneut emporbrodelten. Dies war seine Chance, jetzt und hier. Es war eine Fügung des Schicksals, dass er sie hier traf, ausgerechnet hier. Es war an der Zeit.
Mit einem zufriedenen Lächeln schob er den Arm mit dem Ast außer Sicht hinter seinen Rücken und wartete. Sie kam auf ihn zu, und sie konnte ihm nicht entkommen. Diesmal nicht.
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Meine liebe Märit,
wenn du diese Zeilen liest, heißt das, dass es schlimm ausgegangen ist. Es ist nur eine ganz einfache Frage, die ich stellen muss; aber sie entscheidet alles. Dafür brauche ich weder einen Doktor, noch geistlichen Beistand. Wenn meine Schlussfolgerungen richtig sind, dann werde ich dem grässlichen Spuk heute ein Ende bereiten, ein für alle Mal.
Es ist riskant, ja. Er ist ein gefährlicher Mann. Aber ich muss es dennoch tun. Das bin ich ihr schuldig; ihr, den Mädchen und auch unserer Kleinen. Sie wird es verstehen. Versprich mir, dass du ihr diesen Brief geben wirst, wenn du zu Weihnachten nichts von mir hörst. Sag ihr, dass ich sie von Herzen lieb hab, so als wäre sie mein eigenes Kind. Und, in gewissem Sinne, ist sie das ja auch, nicht wahr?
Sag ihr, sie soll sich in Acht nehmen; denn wenn ich scheitere, dann wird es an ihr sein, das Geheimnis zu enthüllen. Es tut mir in der Seele weh, aber ich weiß, dass sie es schaffen wird. Sie ist eine Kämpferin, genau wie ihre Mutter.
Sag ihr, sie soll die Geschichte lesen, die vom Hauke Haien; sie wird wissen, wo sie zu suchen hat. Im Schatten des Deiches steht sein Haus.
Doch sie soll sich vorsehen, sag ihr das.
Zuviel Neugier, zu viele Fragen können mehr Gefahr als Antworten bringen. Erinnere dich an Jane Eyre und wie sehr es dich gegruselt hat, ihre Geschichte zu lesen. Auch wenn es hier bei uns etwas beschaulicher zugeht, so unterschätzt doch niemals die Urgewalten, die auf der Insel herrschen. Wir sind wahrlich „Ruhend inmitten der Wogen“.
Falls wir uns nicht mehr hören, wünsche ich euch ein gesegnetes und frohes Weihnachtsfest.
Alles Liebe,
M
P.S.: Ich sehe ihn kommen. Es ist seine gewohnte Zeit, nachmittags um viertel nach fünf, wie immer zum Tee im Stübchen bei Windbeuteln mit Schlagsahne. Es ist an der Zeit, ihm die Frage zu stellen…
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Pelle zieht und zieht. Keuchend stemmt sich Karl Jostermann gegen den kalten Sturmwind, der hier oben auf der Strandpromenade mit ungehinderter Wut bläst, und versucht, die lederne Hundeleine nicht aus den klammen Fingern zu verlieren. Zwar ist Pelle nur ein Rauhaardackel, aber mit seinen vier Jahren stark genug, um einen schmal gewordenen, leicht humpelnden alten Mann wie ihn selbst nach Belieben durch die Gegend zu ziehen.
„Nun bleib doch, Pelle“, murmelt Karl in seinen Mantelkragen. „Wir haben es doch gleich geschafft.“
Wie jeden Abend nach dem Abendessen haben sie das kleine Häuschen nahe der Bahnschienen verlassen, sind die Süderstraße hinunter gegangen bis zur Heimlichen Liebe und haben ihre übliche Runde gedreht: dem Sturm zum Trotz die Strandpromenade entlang bis zum Gezeitenland und dann durch den Kurpark, Lüderitz und Deichstraße zurück zur Süderstraße.
Von Minute zu Minute wird der Sturm stärker. Vielleicht hätten sie doch eher losgehen sollen. Was zehn Minuten für einen Unterschied machen können. Aber Karin hat sich einfach nicht kürzer fassen können. Karl schüttelt stumm den Kopf, als er das Gespräch mit seiner Tochter im Geiste noch einmal Revue passieren lässt.
Dass Enkelsohn Mats mit seinen dreiundzwanzig Jahren nicht unbedingt Lust auf Inselweihnachten beim Großvater hat, hätte er sich denken können. Und auch die mäßige Begeisterung von Kai ist zu erwarten gewesen, der mit seinen einundzwanzig Jahren am liebsten über die Feiertage mit seinen Kumpels ein Häuschen in Dänemark gemietet und sich zwei Wochen lang überwiegend von Hochprozentigem ernährt hätte.
Aber dass auch der kleine Sonnenschein, die neunzehnjährige Linda, gemeutert haben soll, ist schwer vorstellbar. Nach dem Drama im Sommer, als sie sich unsterblich in diesen Straßenköter-blonden Surflehrer Sebastian verliebte, hat nicht nur Karl erwartet, dass sie deutlich mehr Zuneigung für die gute alte Insel empfinden würde.
So wird es bestimmt ein gezwungen fröhliches Beisammensein werden, wenn die Familie Hagelstein-Jostermann morgen mit der Fähre aus Emden auf der