nur wenigen Metern erfasst der weiße Strahl den grünen Behälter mit Streusalz.
„Hier ist es“, keucht Karl und deutet auf den Busch links von dem Behälter.
Gerrit macht zwei große Schritte auf den Streusalzbehälter zu, Karl folgt etwas langsamer. Das Licht der Taschenlampe streift den Dackel, der immer noch mit traurigem Blick am Boden kauert. Entsetzt erkennt Karl das verkrustete Blut, das Pelles braungraues Fell hinter dem linken Ohr verklebt.
„Oh mein Gott, Pelle! Wer hat dir das angetan?“ flüstert er bestürzt und kniet neben seinem Hund nieder.
Der Dackel hebt mühsam den Kopf und macht Anstalten, den ausgestreckten Armen entgegen zu robben. Doch Karl ist schneller und hebt ihn vorsichtig vom kalten Boden auf, um den kleinen zitternden Körper sanft im Arm zu wiegen.
Gerrit leuchtet kurz den Hund ab, um sicherzugehen, dass Pelles Verletzung nur oberflächlich und nicht lebensbedrohlich ist. Dann gleitet der Lichtstrahl die weißen Strumpfhosen hinauf zum dunkelgrauen Daunenmantel und dem silbrig durchzogenen Haar, das unter dunkelgrünem Filz hervorquillt. Es ist ein Hut, den Karl sofort wiedererkennt.
„Großer Gott!“ flüstern beide Männer. „Margit!“
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Samstag, 20. Dezember 2014.
Samstag, 20. Dezember 2014.
Carlotta Strandt verspürt ein unangenehmes Ziehen in der Magengrube. Der Matjesteller zum Mittagessen ist vielleicht doch keine so gute Idee gewesen. Ein Brötchen mit Nordseekrabben hätte es sicherlich auch getan. Aber nach der langen Bahnfahrt von Hamburg über Bremen bis nach Emden-Außenhafen hat sie so gewaltigen Kohldampf gehabt, dass sie während des Wartens beinah schon die Papierservietten im Bordrestaurant der Autofähre verspeist hätte.
Nun ist es zu spät. Nun protestiert der marinierte Hering in ihren Gedärmen, sodass Lotta bei jeder schwankenden Bewegung des großen Schiffes ein paar Tropfen Galle zu schmecken bekommt. Die MS Ostfriesland kämpft sich tapfer durch den Sturm und rollt im freien Fahrwasser, seit sie die Osterems verlassen und Kurs auf Borkum Hafen genommen hat, sodass das halbvolle Cola-Glas vor Lotta bedenklich über den Tisch rutscht. Hin und her, hin und her.
Ob das wirklich eine so gute Idee gewesen ist, dem nett gemeinten Vorschlag ihres Chefs Folge zu leisten und den Weihnachtsurlaub frühzeitig anzutreten? Gewiss, sie hat in den vergangenen Monaten so viele Überstunden gesammelt wie andere in einem ganzen Jahr. Aber immerhin ist sie die Neue und muss sich reinknien in die Arbeit, um ihren Platz zu finden.
So frisch von der Polizeischule kommend ist sie als zierliche Frau von gerade einmal zweiundzwanzig Jahren sowieso eine Kuriosität, sodass ein Kollege schon gewitzelt hat, man müsse rasch eine Kinderuniform aus der Mottenkiste hervorkramen. Derselbe Kollege hat wenige Stunden später wie alle anderen Bauklötze gestaunt, als Lotta den flüchtenden Sparkassenräuber mit einem gut gezielten Fersendrehtritt an der Straßenecke gestellt und von seiner Schusswaffe getrennt hat. Ihre erste Verhaftung.
‚Karate-Maus‘ hat der verblüffte Kollege Jacob Herms sie danach sofort getauft. Sie hat es ignoriert, obwohl sie ihn eigentlich hätte verbessern müssen. Immerhin ist sie Schwarzgurt-Trägerin im Taekwondo, und hat den Flüchtenden mit einem lehrbuchreifen Pandae-Dollyo-Chagi gestellt. Aber egal. Wichtig ist nur, dass sie sich Respekt verschafft hat, gleich am ersten Tag. Und das nicht nur, weil sie die dunkelblaue Uniform der Hamburger Polizei mit Dienstwaffe, Schlagstock, Handschellen und Funkgerät am Gürtel trägt.
Sie macht ihre Arbeit gern und hat auch ihre Eltern, die aktuell mit irgendeiner Aida auf Kreuzfahrt in der Karibik unterwegs sind, mit ihrer Begeisterung für den Berufsweg im Dienste von Stadt und Staat anstecken können. Die unvermittelte Zwangsbeurlaubung so kurz vor Weihnachten, verbunden mit der halb ernsten Drohung, ja erst nach Neujahr wieder auf der Wache zu erscheinen, ist jedoch überraschend gekommen.
Als gute Arbeitnehmerin und Angestellte mit geringer Aussicht auf Beamtenlaufbahn hat Lotta sich zuerst zu weigern versucht und vorgerechnet, dass ihre sechsmonatige Probezeit noch nicht um sei. Doch der Chef hat nichts davon wissen wollen, sondern sie mit Nachdruck und einem väterlichen Lächeln in den Urlaub verabschiedet. Ob sie irgendwo hinfahren und mal ausspannen könne, hat er gefragt.
Es hat ein paar Augenblicke gedauert, bis Lotta an das Haus ihrer Großmutter Marlies gedacht hat. ‚Haus Westwind‘ heißt es und steht irgendwo im alten Dorfkern auf der ostfriesischen Insel Borkum, der westlichsten der deutschen Nordseeinseln. Die Großmutter, die sie – mit acht oder neun Jahren – nur ein einziges Mal persönlich getroffen hat, soll seit ihrer eigenen Kindheit in dem alten Rotklinkerhaus gewohnt haben. Das hat Mama jedenfalls erzählt, die stets von dem alten Haus und der idealen Lage – fünf Minuten zum Deich, fünf Minuten zum Bahnhof, fünf Minuten zum Supermarkt – geschwärmt hat.
Seit Großmutter Marlies im vergangenen Sommer an Lymphdrüsenkrebs gestorben ist, gehört das alte Haus Mama; bisher hat sie es jedoch noch nicht geschafft, dort einmal nach dem Rechten zu sehen.
Genau das ist es, was Lotta sich nun vorgenommen hat. Sie kann einfach nicht stillsitzen und die Hände in den Schoß legen. Sie muss etwas zu tun haben. Und so ein altes Haus wird, selbst wenn es den Umständen entsprechend noch gut in Schuss ist, einiges an Arbeit verursachen. Und da ihre Eltern nach dem Stopp auf Jamaica (oder war es Antigua?) bis in drei Tagen, wenn sie die nächste Insel anlaufen, nicht erreichbar sein werden, hat niemand Lotta hindern können, einfach einen Koffer zu packen, ein Bahnticket zu kaufen und gen Westen aufzubrechen. Der Schlüssel zu ‚Haus Westwind‘ soll bei einem Nachbarn liegen, hat Mama vom Notar erfahren.
„Meine Damen und Herren“, dringt die tiefe Stimme des Kapitäns aus den Lautsprechern und reißt Lotta aus ihren Gedanken. „Wir erreichen gleich die offene See. Zu Ihrer eigenen Sicherheit, nehmen Sie bitte Platz und geben Sie gut Acht auf Ihre Speisen und Getränke.“
Automatisch greift Lotta nach dem Cola-Glas und hält mit der anderen Hand den leeren Matjesteller fest. Ihre Reflexe sind beeindruckend. Das hat auch der große Autoschieber erfahren dürfen, den sie vorige Woche nach stundenlanger Verfolgung auf einem Rastplatz an der A7 gestellt haben. Natürlich, man kann der Verhaftung entgehen, indem man sich das vermeintlich schwächste Glied der Kette aussucht und die zierliche Jungkommissarin Carlotta Strandt über den Haufen rennt. Man kann es zumindest versuchen.
Beim Gedanken an das verdutzte dumme Gesicht des grobschlächtigen Mannes muss Lotta erneut in sich hinein grinsen. Sie sieht ihn wieder vor sich im Dreck hocken, noch ganz benommen von ihrem Yop-Chagi, einem seitlich gedrehten Tritt nach vorne, durch den sie mit der Fußaußenkante seinen Solarplexus so hart getroffen hat, dass er wie vom Blitz geschlagen zu Boden ging.
Ähnlich verhält es sich nun am Tisch schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Ganges, wo eine Familie mit drei erwachsenen Kinder sitzt und blitzschnell über den Tisch langt, dann aber wie gelähmt dem wie von einem plötzlichen Schlag getroffenen Mobiltelefon hinterher sieht, das unaufhaltsam auf die Tischkante zu rutscht.
„Verdammt, Kai!“ schreit das Mädchen wütend, das offenbar die Jüngste der Geschwister ist, und funkelt ihren Bruder an, der am Ende des Tisches sitzt, aber dennoch das Telefon nicht mehr erreichen kann. „Halt es doch fest. Das ist ein nagelneues iPhone 6, verdammt nochmal!“
„Du sollst nicht fluchen“, mischt sich die Mutter ein. „Wie oft hab ich dir das schon gesagt, Linda? Kai, nun beeil dich doch, bevor es runterfällt.“
Doch bevor der Junge das elegante Mobiltelefon erwischen kann, rollt das Schiff auf die andere Seite, sodass alles in die entgegengesetzte Richtung rutscht. Triumphierend greift der ältere Bruder das Mobiltelefon und hält es seiner Schwester mit einem „Wer ist dein Lieblingsbruder?“ unter die Nase.
„Ach, Mats“, lacht sie. „Du bist genauso schlimm wie er.“
Sie deutet auf ihren anderen Bruder, muss sich aber wie der