etwa genauso alt und groß wie Sebastian, ebenfalls blond, aber noch weitaus besser aussehend. ‚Beinah schon Model für Männerunterwäsche‘, denkt Lotta und spürt, wie ihr das Blut in die Wangen schießt.
‚Lieber Himmel, Lotta! Reiß dich zusammen!‘ schimpft sie in Gedanken mit sich selbst und drückt sich mit einer Hand den Unterkiefer nach oben, während sie mit dem anderen Handrücken einen dünnen Speichelfaden aus ihrem Mundwinkel wischt. ‚Wie peinlich!‘
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Ungeduldig wirft Moritz einen Blick auf seine sportliche Armbanduhr. ‚Nur kurz das Geschirr zurückbringen‘, hat Basti gesagt, bevor grinsend durch den Gang in Richtung Essensausgabe verschwunden ist. Eine Entfernung von höchstens vier Metern. Wieso braucht man für diese Aktion mehr als fünf Minuten?
Nachdenklich lässt Moritz seine grün-grauen Augen über die anderen Fahrgäste an Bord der MS Ostfriesland schweifen. Viele von ihnen sind bereits leicht grün im Gesicht, da das rollende Auf- und Niederstampfen der Autofähre beständig zunimmt, je weiter sie sich von Emden entfernen.
An den meisten Tischen sitzen Rentner oder junge Mütter mit Kleinkindern. Im Winter nimmt die Zahl der Grauköpfe offenbar überproportional zu, wenn nicht mehr Familien-Strandurlaub angesagt ist, sondern Kur und Wellness. Es wird herrlich ruhig sein in der gemütlichen Ferienwohnung im Dachgeschoss der alten Signalstation, die sie bereits im Sommer bewohnt haben.
Zwei Wochen Urlaub, eine Woche Erholung und den Rest der Tage Lernen für die Prüfungen, die Ende Januar anstehen. Warum nur hat er Mathe als zweites Hauptfach gewählt? Nicht, dass Basti mit Biologie einfacher dran wäre, aber irgendein ‚Laberfach‘ als Ergänzung zu Sport hätte es auch getan. Aber im Nachhinein ist man ja immer klüger.
So ist es mit allem, auch mit Frauen. Meistens hat er erst festgestellt, dass sie nicht zueinander gepasst haben, nachdem endgültig Schluss war. Nicht, dass sich jemals eine von ihm getrennt hätte. Dazu muss er nur einen Blick in den Spiegel werfen, um das ausschließen zu können. Aber sie sind alle langweilig geworden, mal früher, mal später, aber mit unausweichlicher Gewissheit. Sie sind austauschbar gewesen wie Barbie-Puppen. Ein bezauberndes Lächeln, ein makelloser Modelkörper, aber ohne Geist und Verstand.
Im Grunde genommen hat er mit keiner von ihnen mehr als drei zusammenhängende Sätze gewechselt. Wenn ihm oder ihr nichts mehr eingefallen ist, sind sie stets wie Tiere über einander hergefallen, um in körperlicher Ekstase den Ersatz für die Leere und Langeweile zu finden, die ihr Zusammensein mit sich gebracht hat. Aber er weiß, dass dies nicht alles sein kann.
Ohne es sich selbst oder Basti jemals offen eingestanden zu haben, sehnt er sich nach einer Frau, mit der er wirklich sein Leben teilen kann. Eine Frau, die ihn fasziniert, überrascht, begeistert und gleichermaßen erregt. Eine Frau, mit der er reden kann, wenn ihm danach ist, und die ihn nach einer langen Nacht des Lernens für einen herrlich langen Moment sanft in den Arm nimmt und zärtlich auf die Stirn küsst, wenn sie das gemeinsame Bett verlässt, um zur Uni oder zur Arbeit zu gehen.
‚Wunschträume!‘ schimpft Moritz in Gedanken mit sich selbst. ‚So eine Frau gibt es nicht, Momo. Die müsstest du dir schon selber backen…‘‘
Mit einem Seufzen denkt er zurück an den vergangenen Sommer, den er mit Basti auf Borkum verbracht hat. Sechs herrliche Wochen lang haben sie in der gemütlichen Ferienwohnung gewohnt und den Sommer genossen. Basti hat als Surflehrer gejobbt, Moritz selbst als Surf- und Segellehrer. Er hat es aufgegeben zu zählen, wie oft sie die Bucht am Hauptstrand hinauf und hinunter gekreuzt sind, vorbei an der Seehundbank und mit ausreichendem Sicherheitsabstand zur Badezone.
Er hat es ebenfalls aufgegeben zu zählen, wie viele Mädchenherzen sie in ihrer Rolle als coole Wassersportlehrer entflammt und dann am Ende der Ferien gebrochen haben. Besonders dieses eine Mädchen (hieß sie Lina oder Linda?) hat an Basti gehangen wie Fliegen an einem Löffel mit Honig. Es ist beinah schon amüsant gewesen, wie dämlich sie sich benommen und sich ihm schamlos an den Hals geworfen hat. Wenn Basti gewollt hätte, wäre sicherlich mehr daraus geworden. Aber neben Maja Lundqvist, der hübschen langbeinigen Schwedin, die ein wahres Naturtalent auf dem Surfbrett gewesen ist, hat sich jede andere verstecken müssen. Moritz kann verstehen, dass Basti sich sofort Hals über Kopf in die sonnengebräunte blonde junge Frau verliebt hat. Für einen Urlaubsflirt hält die Geschichte schon ziemlich lange, immerhin hat Basti bereits drei Wochenenden bei Maja in Stockholm verbracht.
Nachdenklich lässt Moritz seinen Blick weiter wandern, streift den kastanienbraun gelockten Hinterkopf einer zierlichen jungen Frau, die rechts an einem der Fenstertische sitzt, und fällt schließlich auf einen Tisch schräg davor am Gang, in dem soeben Basti aufgetaucht ist. Offenbar hat er eine Runde um die Kombüse gedreht und kommt nun durch den anderen Gang zurück, um die junge Mutter, die ihr strampelndes Kleinkind im Gang auf der linken Seite zum Stillsein ermahnt, nicht noch mehr zu stressen.
Im ersten Moment glaubt Moritz seinen Augen nicht zu trauen. Dann fällt ihm ein, dass viele zur Weihnachtszeit ihre Verwandten auf Borkum besuchen. Und, wenn er sich recht erinnert, dann hat Linda dort einen Großvater.
Hektisch reißt Moritz einen Arm hoch, um Sebastian zu bedeuten, nicht weiterzugehen. Noch hat Linda ihn nicht gesehen. Ein Glück, dass sie sich den Tisch ganz hinten genommen haben, hinter dem immens beleibten Rentnerehepaar, das mit Sicherheit zur (Abmagerungs-)Kur auf die Insel fährt. Warum sie das ausgerechnet über Weihnachten machen, muss niemand verstehen.
Sebastian hat alle Hände voll zu tun, auf dem schwankenden Schiff nicht hinzufallen. Doch er sieht Moritz und braucht zwar ein, zwei Augenblicke, um zu begreifen, dann aber hat er Linda und ihre Familie gesehen. Moritz erwartet, dass sein Freund nun schleunigst den Rückzug antreten und zurück um die Kombüse herum gehen wird. Stattdessen sinkt Sebastian, offenbar von den Bewegungen des Schiffes unterstützt, auf die freie Bank am Tisch der jungen Frau mit den kurzen kastanienbraunen Locken.
Grinsend beobachtet Moritz, wie sein Freund seinen ganzen Charme spielen lässt, um bis zum Ende der Fahrt nicht in Lindas Blickfeld geraten zu müssen. Denn dann wäre nicht nur Holland in Not. Dann wäre es vor allem dahin mit der Ruhe, auf die sie sich bei einem Besuch auf der winterlichen Insel so freuen.
Als die Fähre schließlich an der Hafenmole anlegt und alle Passagiere hektisch aufstehen und zu ihrem Gepäck in den Ablagefächern rennen, wartet Moritz mit abgewandtem Blick, bis Linda samt Familie an ihm vorbei zum hinteren Gepäckbereich gegangen ist. Dann steht er rasch auf und blickt zu Basti hinüber, der ihm fröhlich zuwinkt.
Gerade will Moritz seinen Platz verlassen und zu ihm gehen, da wendet die zierliche Frau mit den kurzen dunklen Locken den Kopf und folgt Sebastians Blick. Auf die Entfernung von drei Metern kann Moritz nur erkennen, dass sie dunkle Augen und ein fein geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen hat.
Sebastians Winken folgend, geht Moritz hinüber und schiebt sich hinter seinem Freund und der zierlichen jungen Frau, die ihm gerade mal bis zum Kinn reicht, den Gang entlang in Richtung Ausgang.
Sebastian hilft ihr galant mit ihrem, für eine Frau erstaunlich kleinen, Koffer, der allen Anschein eines Kurzbesuchs auf der Insel macht. Moritz schultert die Reisetasche, in der sie den Großteil ihrer Kleidung untergebracht haben, da der stabile Flugkoffer mit vier Rollen voller Lehrbücher ist. Schweigend lassen sie sich von den übrigen Passagieren über die klappernde Rampe vom Schiff an Land schieben. Linda und ihre Familie sind glücklicherweise irgendwo weiter hinter ihnen im Gedränge verschwunden.
„Aua!“ japst die junge Frau unvermittelt, als sie die treu wartende Borkum-Bahn erreichen und sich in Richtung des Waggons ‚Muschelfeld‘ wenden.
Instinktiv greift Moritz nach ihrem daunen-ummantelten Arm und hält sie fest. Ärgerlich wendet er sich an den älteren Mann im dunklen Wintermantel, der ihr offenbar sein klappriges Herrenfahrrad in die Fersen geschoben hat. Doch dieser ignoriert jeden Protest und starrt die junge Frau mit offenem Mund an.
„Lena!“ flüstert er heiser.
„Lotta“, korrigiert sie automatisch und setzt sich eine taubenblaue Wollmütze auf ihre kurzen kastanienbraunen Locken.