war es nicht Bassam, von dem ich etwas hörte. Vielmehr schienen sich meine Eltern etwas zuzuflüstern. Ich tat so, als würde ich noch schlafen und belauschte das Gespräch.
„Das können wir nicht tun. Das würde zu weit gehen“, meinte meine Mutter.
„Weißt du etwa eine andere Möglichkeit? Er wird es irgendwann noch mal versuchen und uns verraten.“ Die tiefe Stimme meines Babas klang besorgt.
Ich wusste, dass sie über Bassam redeten. Allerdings konnte ich nicht ahnen, was ihre Worte zu bedeuten hatten.
Die Antwort darauf erhielt ich schon am folgenden Tag. Nach der harten Strafe wollte ich Bassam etwas aufmuntern, indem ich mehr Zeit als sonst mit ihm verbrachte. Zusammen saßen wir im Sand, wo wir mit kleinen Holzfiguren spielten, die mir mein Baba geschnitzt hatte. In unserem Spieltrieb vertieft stellten wir die Seeschlacht von Salamis nach, von der mir Nersy in der Schulpause erzählt hatte, allerdings die Bassam völlig unbekannt war. Mein Baradar wirkte abwesend und verstört. In seinem Gesicht konnte ich keine Spur menschlicher Emotion erkennen, als wenn etwas in ihm gestorben war. Vielleicht ein Stück seiner Seele.
Elham traute sich nicht mehr, Bassam allein im Haus zu lassen, daher beauftragte sie mich, im Dorf einige Besorgungen zu machen. Ich bemerkte, dass Bassam mir folgte, da er sich lieber bei mir aufhielt, als bei meiner Mutter. Schließlich schlug und beschimpfte ich ihn nicht.
„Du kannst nicht mitkommen“, ermahnte ich ihn, nachdem ich stehen geblieben war und mich zu ihm gedreht hatte.
Ohne auf mich zu hören, trottete er mir nach. Meine Mutter hing gerade nasse Wäsche an eine Plastikleine zum Trocknen auf. Heimlich hatte sich Bassam wieder von ihr davon geschlichen.
„Willst du wieder von Siamak verprügelt werden?“, warnte ich Bassam meine Stimme hebend.
Elham kam sofort zu uns gelaufen.
„Warum bist du nur so ungezogen“, schimpfte sie und zog Bassam am Ohr zurück zum Haus. „Hast du nicht schon genug Schläge bekommen!? Willst du noch mehr!?“
Bassam schrie, da sie so fest zog, dass sich der Knorpel dehnte und sein Ohr rot anlief. Alleine ging ich weiter. Gelegentlich blickte ich über meine Schulter zurück und sah noch aus der Ferne, wie meine Mutter drohend ihren Zeigefinger hob und laut fluchte, während Bassam beschämt auf den Boden blickte. Über die Jahre war sein Rücken etwas buckliger geworden. Die geschundene Seele hatte auch seine äußere Erscheinung geformt. Ein Teil seiner Wirbelknochen wölbte sich am Nacken auf.
„Pedarsag!“, beschimpfte meine Mutter ihn mehrmals laut. Obwohl sie meist das Fluchen vermied, tat sie es selten, wenn mein Baba nicht da war und sie dachte, dass ich es nicht hören würde.
Niedergeschlagen setzte sich Bassam auf den Rand des Brunnens, von wo er mir zaghaft zuwinkte. Elham widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Wäsche.
„Ich bin bald zurück!“, rief ich ihm noch zu. Doch er hatte mich nicht gehört. Gedankenverloren saß er da und blickte traurig in die Ferne.
Unser Dorf war nicht besonders groß, vielmehr war es nur eine kleine Ansammlung von Lehmbauten, aber man konnte hier alles Lebenswichtige finden. Vor manchen der zerfallenen Türen sah man eine Ziege oder ein Schaf, das einzige Anzeichen von Zivilisation. Ich sollte für meine Mutter etwas Brot, Knoblauchzehen und ein Dutzend Eier besorgen, da sie für Siamak Koukou-e-Sabzi, sein Lieblingsgericht, zur Belohnung für die harte Arbeit machen wollte. Der Brothändler, Zhaabiz, ein sehr alter Mann mit freundlichem Gemüt lächelte mir zu. Dabei kam es mir vor, als wenn er noch mehr Falten im Gesicht als gewöhnlich hatte.
„Wie geht es deinem Baba?“, fragte er mich. „Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
„Ganz gut, Zhaabiz“, antwortete ich, während ich den Korb, den mir Elham mitgegeben hatte, mit Brot füllte. „Er arbeitet viel.“
„Dann grüß ihn mal von mir“, meinte der Händler.
„Haben Sie auch noch altes Brot?“
„Ja, aber es ist steinhart. Willst du es wirklich haben?“
Ich nickte.
„Daryaa!“, rief er mit heiserer Stimme ins Haus.
Seine Frau, die viel jünger aussah, wusste sofort bescheid und kam mit einem Stoffbeutel, in dem sich alte Brotstreifen befanden, aus dem Haus direkt hinter dem Verkaufsstand. Als sie die Tür öffnete, konnte ich einen Blick in die Backstube erhaschen. Im Tandoor glühte die Kohle hellrot, über der frische Teigfladen gerade aufbuken, wie die Sonne stiegen sie hoch.
„Hier, mein kleiner Sultan.“ Sie übergab mir den Beutel, nachdem sie sich das Weizenmehl von ihrem schwarzen Kopftuch geklopft hatte. Kleiner Sultan so nannte sie mich immer, wenn ich bei dem alten Ehepaar einkaufte.
Ich hatte mich schon einige Meter von dem Stand entfernt, als ich wieder die heisere Stimme Zhaabiz´s vernahm.
„Djamal, was ich dich schon immer fragen wollte: Wofür braucht ihr eigentlich das ganze alte Brot? Das kann doch kein Mensch mehr essen.“
Mein Herz klopfte bei dieser Frage, weil ich ein schlechter Lügner war. Sichtlich fiel es mir schwer, Zhaabiz eine plausible und glaubhafte Antwort zu geben. Langsam drehte ich mich um. Ich erblickte das freundliche Gesicht des alten Mannes, dem ich nicht in die Augen sehen konnte. Zum Glück war Daryaa schon wieder ins Haus gegangen, um ihrer täglichen Arbeit nachzugehen. So musste ich nur den alten Mann anlügen.
„Ich füttere damit die Hühner des Nachbarn.“ Meine Stimme zitterte heftig. Zhaabiz´s sonst so vertrauenswürdigen Augen verformten sich zu schmalen Schlitzen. Er schien mir nicht zu glauben. Innerlich ärgerte ich mich, da ich mich verdächtig und den Händler mit meiner Antwort misstrauisch gemacht hatte.
„Wieso holst du die Eier dann nicht von deinem Nachbarn?“, fragte Zhaabiz, auf die Pappschachtel deutend, die sich in meiner Hand befand.
„Seine Hühner legen zu wenig. Er braucht sie selbst.“
Ich hoffte mit dieser Erklärung, die Neugier des Mannes besänftigt zu haben. Schnell lief ich davon.
Mein Baba war noch nicht zu Hause, als ich wieder zurückkam. Nur widerwillig berichtete ich meiner Mutter von dem Gespräch mit dem Brothändler. Da sie täglich dort ihre Einkäufe tätigte, war es besser ihr davon zu erzählen, falls auch er sie mal ausfragen würde. Schließlich dachte ich, dass sich unsere Geschichten gleichen mussten. Niemand im Dorf wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, dass wir ein Kind entführt und auch noch jahrelang misshandelt haben. Wir, die Husseins, waren sogar sehr willkommen, auch wenn ich und mein Baba nur selten ins Dorf kamen. Es war meiner Mutter zu verdanken, dass wir trotz unserer seltenen Besuche ein gewisses Ansehen genossen. Wäre die ganze Sache aufgeflogen, hätte man meine Eltern ins Gefängnis gesperrt und ich wäre als ein Waisenkind aufgewachsen. Dieser Gedanke machte mir die größte Angst, schon allein deswegen weil ich tagtäglich mitbekam, wie es Bassam erging. So versuchten wir gemeinsam als Familie, alles zu vertuschen. Meine Eltern luden nie Besuch ein und unsere Verwandtschaft, mit der wir uns ohnehin verstritten hatten, wohnte glücklicherweise in Mashhad, im Nordosten des Landes. Mein Baba verriet den anderen Feldarbeitern nicht, wo wir wohnten. Niemand wusste daher, dass am äußersten Rand des Dorfes überhaupt noch eine Lehmhütte stand.
„Mach dir keine Gedanken, sonst platzt noch dein hübscher Kopf“, scherzte meine Mutter. „Er hat es dir bestimmt geglaubt.“
Trotzdem beruhigten mich ihre Worte keineswegs. Zumal ich immer noch das argwöhnische Gesicht Zhaabiz´s im Kopf hatte. Von draußen hörte ich ein seltsames Geräusch. Es hörte sich wie ein Rasseln an, als wenn jemand zwei metallische Gegenstände aneinander reiben würde. In der Tür stand plötzlich