Christiane Kriebel

Dita und die 70er


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in den Zeigefinger, doch ich hielt durch und verdiente dreihundert Mark im Monat. Das war wahnsinnig viel Geld für mich. Ich ließ mir einen Minirock nähen und kaufte mir weiße Lackstiefel. Den Rest legte ich auf die hohe Kante, für schlechte Zeiten, wie mir meine Oma Tilde geraten hatte.

      Das Jahr verging wahnsinnig schnell. Beim Abschied von meiner Brigade heulte ich. Die sonst so harten Männer umarmten mich und drückten mir einen Präsentkorb in die Hand. Sie hatten für mich gesammelt. „Damit du in Berlin nicht verhungerst“, verabschiedete mich der Meister und drückte mir einen langen Kuss auf die Wange. Kati begleitete mich bis zum Fluss, dort zeigte sie mir ihr Sparkassenbuch. „Mit dem Geld fahre ich mit meinem Sohn in den Urlaub“, sagte sie stolz. Wir umarmten uns zum Abschied.

      Ein neuer Sommer schwebte überm Saaletal. Doch die Weiden trauerten und erzählten vom Abschied. Auch mein Vater sorgte sich um mein Wohlbefinden, stopfte mir kiloweise Gartenäpfel in den Koffer und hätte mir am liebsten noch ein Kellerregal voller eingeweckter Pflaumen, Kirschen und Erdbeeren mit eingepackt. Bevor ich nach Berlin fuhr, bemalte ich meine hellen Leinenturnschuhe mit Blumen, ließ mir von meiner West-Oma Schlaghosen schicken und nähte dünne Ketten an den Schlag. Nun konnte mein Studium beim Deutschen Fernsehfunk beginnen, ich war gewappnet. Ich fühlte mich glücklich und frei. Meine Locken waren nur durch ein breites buntes Stirnband zu bändigen. Die Nacht vor meiner Abreise schlief ich kaum. Ich dachte an meine Eltern: was sollte nun aus ihnen werden? Sie würden sich nicht mehr streiten. Meine Schwester bereitete ihnen nie Kummer, ganz im Gegensatz zu mir. Doch auch sie würde bald das Elternhaus verlassen. Mein Freund Fred war spät in der Nacht nach Hause gegangen, doch er fehlte mir jetzt schon. Nein, im Ernst. Panik überfiel mich, Berlin war riesengroß. Wie sollte ich mich da zurechtfinden, fragte ich mich und drückte mein Gesicht ins weiche Daunenkissen, das nach meiner Oma mütterlicherseits roch. Im Morgengrauen schoss mir die Frage durch den Kopf, ob ich überhaupt Regisseurin werden wollte. Nach dem Aufstehen packte ich Omas Kissen in meine Sporttasche. Meine Mutter sah das mit Besorgnis. Und umarmte mich. Mein Vater murmelte „wird schon, wird schon“, aber seiner Miene sah ich an, dass er das Gegenteil annahm.

      2. Kapitel

      Berlin, Herbst 1969

      Mein Stirnband gab mir in Berlin ein neues Image. Eine Rolle, die es auszufüllen galt. Meine Mitstudenten sahen in mir einen Menschen, der ich gar nicht war. Ich wollte nur meine allzu widerspenstigen Locken bändigen, das Stirnband aber brachte mir bei den Regiestudenten den Namen Blumenkind ein. Meinen richtigen Namen kannte kaum einer. Meine Mutter hatte mich Dita genannt. Der Name kam aus Friesland, das lag in der BRD und dazu noch im Norden Deutschlands. Deine Mutter ist schuld, sagte mein Vater, als ich mich über meinen Namen beschwerte. Meine Mutter war an allem schuld, auch an meiner Erziehung. Diese und ein warnendes Verbotsschild an der Tür hinderten mich nicht, auf unserem Dachboden herumzustöbern. Die Dielen waren morsch oder fehlten an manchen Stellen gänzlich. Fremde Katzen huschten übers Dach. Es knisterte geheimnisvoll. In einer alten braunen Kiste fand ich eines Tages Briefe, die mit einer roten Schleife zusammengebunden waren. Auf dem Poststempel konnte ich die Jahreszahl 1946 erkennen. Vorsichtig öffnete ich sie. Das Papier war vergilbt, doch die Schrift konnte ich gut lesen. Die Briefe erzählten von einer Liebesgeschichte meiner Mutter mit einem Dittmar aus Friesland. Ich fand dieses poetische Intermezzo höchst interessant und stellte voller Genugtuung fest, dass es für meine Mutter noch eine andere Welt gegeben hatte. Wenn auch nur für kurz. Dann kam mein Vater zurück aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft. Er sah meine Mutter beim Heimatfest und tanzte mit ihr zu den Klängen des Boogie-Woogie. Meine Mutter entschied sich für ihre Jugendliebe. Zwei Jahre später heirateten sie und wenige Monate später kam ich auf die Welt. Seit dieser Zeit heiße ich Dita Rolle.

      Die erste Hürde auf dem Weg zur berühmten Regisseurin war genommen. Ich lebte 1969 in Berlin, der riesigen Stadt an der Spree. So groß und verwirrend hatte ich sie mir nicht vorgestellt. Da gab es Straßenbahnen, S-Bahnen, U-Bahnen, breite Alleen, enge Gassen mit wandelnden Touristen aus aller Welt, pöbelnde Berliner in Kaufhäusern, hupende Autos und kesse Jören, die den Fahrern einen Vogel zeigten. Berliner haben es immer eilig. Was für ein Gegensatz zu den Thüringern, die gern einmal verweilen, eine Bratwurst essen und mitten auf der Kreuzung nach den Wolken sehen. In der Hauptstadt stand ich am ersten Tag meines Aufenthaltes aufmerksam an einer Ampel und wartete geduldig auf die Grünphase. Bei Grün darfst du gehen, bei Rot bleibe stehen. Aber noch während der Rotphase hatte eine alte Oma gerempelt und geschubst, „nu jeh endlich übern Damm oder willst hier übernachten“, motzte sie mich an. Die Begrüßung aller Studenten und die ersten Seminare fanden im großen Saal des Deutschen Fernsehfunks in Berlin-Adlershof statt. Jeden Morgen setzte ich mich in die S-Bahn, um zum Fernsehfunk zu fahren. Aber immer wieder landete ich, obwohl ich laut Karte in Adlershof landen sollte, in Berlin-Spindlersfeld. Nach einigen Wochen sagte mir ein Kommilitone, dem ich mich anvertraute: Du musst in Berlin-Schöneweide umsteigen.“ So kam ich anfangs immer zu spät. Ich betrat mutig den hell erleuchteten Seminarraum, zog mein Stirnband fest und lächelte schräg. Das empfanden meine Kommilitonen als stille Opposition. Nur meine blumenbemalten Turnschuhe hielten diesen Oppositionshabitus nicht lange durch, beim ersten Regen waren nur noch bunte Kringel zu sehen. Einerseits schmeichelte mir die Aufmerksamkeit meiner Studenten, aber irgendwie nervte sie mich auch. Ein stämmiger Typ unter ihnen, unter dessen Nase ein prächtiger Walrossbart prangte, zog ebenfalls die Blicke der anderen auf sich. Schon am ersten Tag war er mir aufgefallen, denn sein runder, kahl geschorener Kopf leuchtete im Neonlicht der Empfangshalle. Mit seinen blauen Knopfaugen musterte er die Runde und blieb bei mir hängen. Zuerst starrte er auf mein Stirnband, dann visierte er meine blumenverzierten Turnschuhe an. „Kommst du aus San Francisco oder aus Sachsen?“ Berliner mochten keine Sachsen, das wusste jeder. Der Kahlkopf war im Prenzlauerberg, in der Schönhauser Alle geboren, das hatte ich auf seinem Anmeldeformular gelesen. „Thüringen“, nuschelte ich. „Ah, Bratwurst“, sagte er und schmatzte. Mit seinem kurzen Zeigefinger zeigte er auf sich: „Bin Klaus und liebe Bratwurst“. „Ich mag es, in den Wald zu gehen.“ „Aha“, sagte Klaus und lächelte mich an. Von diesem Tag an waren wir Freunde. Er kam immer zu spät oder gar nicht. Wenn er in seinem roten Cordanzug den Hörsaal durchquerte und sich die letzten Frühstückskrümel aus seinem Bartgestrüpp zupfte, trommelten wir auf die Bänke. Er verbeugte sich, erklomm die Stufen zur letzten Reihe und setzte sich neben mich. Da saß oder lag er nun die nächsten Stunden und ließ die Ergüsse der jeweiligen Referenten über sich ergehen. Irgendwie sah er am Tag immer müde aus. In der Nacht erwachte er und sprühte vor Lebensfreude. Sobald Aufgaben verteilt wurden, wurde Klaus krank. Er hustete, röchelte und spülte seinen Hals mit hochprozentigem Alkohol. In den ersten Tagen hatten sich unter den Studenten Gruppen gebildet - die Angepassten, die Fleißigen, die Auffälligen, die stille Opposition, die Extremen, die Anarchisten. Es fiel mir schwer, mich irgendwo einzutakten. Manchmal schwieg oder träumte ich, ein anderes Mal stritt ich mit den Referenten und Kommilitonen. Mitunter neigte ich dazu, alles viel zu ernst zu nehmen. Egal – bald würde ich meine eigenen Filme machen.

      An den Wochenenden fuhr ich nach Hause. Während der langen Zugfahrt konnte ich es kaum erwarten, die Berge, den Fluss, meine kleine Stadt und meine Familie zu sehen. Meine Freunde nannten mich plötzlich die Berlinerin. Es klang wie: Du hast es geschafft. Auf dem sonntäglichen Tanztee forderte mich ein Junge auf, der mich früher nie angesehen hatte: „Du, Dita, wie ist es in Berlin“? Wann bist du mit deinem Regiestudium fertig?“ Ich fühlte mich plötzlich fremd. Mit dem Frühzug am Montagmorgen fuhr ich zurück in die geteilte Stadt an der Spree.

      Das nächste Wochenende blieb ich in Berlin. Ich wurde zur Party der so genannten Anarchisten eingeladen und nahm Klaus mit. Einer der Anarchisten, der mit den langen dunkelblonden Haaren und den lustigen Sommersprossen im Gesicht, forderte mich zum Tanzen auf. Eng umschlungen standen wir in seiner unaufgeräumten Küche. Auf der blau lackierten Anrichte stand ein nagelneues Tonband. Es dröhnten Songs der Stones durch die große Wohnküche. Unsere Körper bewegten sich zum Takt von „Sympathy for the devil“ und „Satisfaction“. Der Anarchist sprach von Trotzki und der kommenden Revolution. Klaus baggerte eine unscheinbare blonde Studentin an, die einsam auf einem dreibeinigen Stuhl kippelte. Er ließ sich vor ihren Füßen auf ein altes Bärenfell nieder und sprach unentwegt von Liebe und Kirschblüten. „Wer bist