Christiane Kriebel

Dita und die 70er


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Sie sprach liebevoll von ihrem viel zu früh gestorbenen Mann, der an der Staatsoper gearbeitet hatte. Am Abend hörten wir alte Schellackplatten von Caruso und die neuesten Aufnahmen ihrer Lieblingssängerin, der Callas. In der Nacht kreisten meine Gedanken um die Exmatrikulation. Am Montagmorgen lag ich wie eingegraben in meinem Federbett, konnte nicht aufstehen. Frau Seipel scheuchte mich auf. „Geh arbeiten“, schimpfte sie und drohte mit ihrer Krücke. „Du brauchst die Aufenthaltsgenehmigung. Ich muss sie den Behörden vorzeigen, sonst kannst du hier nicht wohnen“. Ich fuhr zum Gästehaus des FDGB und meldete mich bei der Kaderleiterin. Der Job als Empfangssekretärin war am Wochenende vergeben worden, obwohl sie ihn mir versprochen hatte. „Sie können bei uns auch ein Vierteljahr als Hotelgehilfe arbeiten“, schlug sie mir vor. „Was bleibt mir anderes übrig. Ich brauche die Aufenthaltsgenehmigung“, entgegnete ich trotzig. Ich fing noch am gleichen Tag an. Ich trug Koffer, sortierte Teller und Tassen, half alten Damen in deren Mäntel und musste mir den Tratsch der alten Garderobiere anhören. Sie musste einmal bessere Tage gesehen haben. An jedem Finger trug sie Ringe und um den Hals eine dicke goldene Kette. Manchmal kam der Empfangssekretär zu uns, dann standen sie nebeneinander und tuschelten. Oft schleppte ich die schweren Mäntel ohne Hilfe. Sie kassierte und bekam das Trinkgeld. Hatte meine Kollegin einen guten Tag, goss sie mir Westkaffee ein und erzählte von ihrer Liebe zu einem jungen Wehrmachtssoldaten. Dann veränderte sich ihr Gesicht. Ihre vom grauen Star gezeichneten Augen begannen zu glänzen, und Tränen rannen ihr über die welken Wangen. Ich nahm sie in den Arm. „Manche Wunden heilen nie“, schluchzte sie und schimpfte auf die Franzosen, die ihn erschossen hatten.

      Eines Tages im Oktober, der Wind pfiff über die Invalidenstraße, fragte ich sie nach der Kirche, die wir vom Garderobenfenster aussehen konnten. „Kennen Sie die schöne Kirche mit dem schlanken Turm?“ „Das ist die St. Sebastian Kirche“, antwortete die Garderobiere, ohne aufzublicken. „Wie komme ich da hin?“, fragte ich interessiert. „Da gehst du die verlängerte Gartenstraße lang über die Bernauer Straße.“ Sie hielt kurz inne, überlegte, schüttelte ihren Kopf, so dass ihre silbergrau glänzenden Locken hin und her flogen. „Ach, Quark mit Soße“, sagte sie ärgerlich, „da kommst du nicht hin, die Kirche ist doch im Wedding, also im Westen.“ Sie atmete tief ein. „Als Kind bin ich dort zum Religionsunterricht gegangen. Die Kirche befindet sich auf einem freien Platz, hinter dem Gebäude stehen Bäume und Büsche. Wie gern bin ich mit den Jungs auf diese Bäume geklettert. Sie goss mir eine dritte Tasse Kaffee ein. Das war noch nie vorgekommen. „Manchmal waren wir auch in den Büschen. Wenn det Muttern gewusst hätte“, bemerkte sie mit einem Augenzwinkern. „Das bleibt aber unter uns Pastorentöchtern“, sagte sie streng.

      Am Abend rief mich Frau Seipel in ihre gute Stube. „Was hockst du in deinem Zimmer und starrst auf die Straße?“, sagte sie. „Komm, wir machen es uns gemütlich, trinken ein schönes Fläschchen Wein und gucken in die Glotze.“ Gemeinsam sahen wir den französischen Film „Die schwarze Tulpe“ mit Alain Delon in der Hauptrolle. In der Nacht träumte ich von ihm. Am Morgen, als ich in der Empfangshalle des Hotels von wilden Gewerkschaftsbossen aus aller Welt umringt war, die ihre Koffer mit den Füßen in alle Richtungen stießen - manche trafen mich - wünschte ich mir exakt so einen Ritter herbei, der um sein Mädchen und für Gerechtigkeit kämpft. Dann kann er mir vielleicht auch beim Koffertragen helfen oder Aschenbecher säubern, dachte ich noch.nbUnd dann kam Er! Gemeinsam mit dem Direktor betrat er die Empfangshalle. Die Ähnlichkeit mit Alain Delon fiel mir sofort auf. Sonnengebräunte Haut, schulterlanges schwarzes Haar, mittelgroße, schlanke Statur. Der Direktor fragte etwas und der junge Mann schüttelte seinen Kopf. Weit und breit war kein einziger Gast zu sehen. Der junge Mann stierte zu uns rüber an die Garderobe. „Ach, der Urlauber ist wieder da“, sagte die Garderobiere. „Watt stehste da wie anjejossen …?“, rief sie ihm zu. Er kam langsam auf uns zu. Ich bemerkte, dass er seine Brust herausdrückte und beim Laufen sein linkes Bein leicht nachzog. Er trug eine schwarze Lederjacke, die ihm lose um seine schmalen Schultern hing. Unentwegt sah er mich mit seinen großen graugrünen Augen an. Schließlich beugte er sich über die Theke und stellte sich vor: „Ich bin Hans, fahr hier den Boss.“ Unsere Blicke begegneten sich erneut. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten und musste wegsehen. Er reichte mir seine Hand, sein Händedruck war angenehm. Sekundenlang schloss er seine Augen. Mir fielen seine seidig langen schwarzen Wimpern auf. Als er die Augen wieder öffnete, leuchteten sie meergrün. „Du gehörst nicht an die Garderobe“, sagte er unvermittelt. „Quatscht dich einer dumm an, sag mir Bescheid“. „Spiel dich nicht so auf“, sagte die Garderobiere, stellte sich neben ihn und bot ihm eine Zigarette an. Ich beobachtete, wie er rauchte. Er tippte vor jedem Zug die Zigarette mit dem Zeigefinger zwei Mal an, dann erst führte er sie zu seinen Lippen. „Wenn du Zeit hast, kannst du mich ja heute Abend nachhause fahren“, rief sie ihm nach. Er nickte ihr zu und ging zum Treppenaufgang. Auf der dritten Stufe drehte er sich noch einmal um und lächelte, so dass ich seine makellosen weißen Zähne sah. „Der ist nichts für dich“, flüsterte mir die Garderobiere zu. „Und außerdem ist er vergeben. Seine Braut hat hier mal gearbeitet, hinterm Tresen, jetzt ist sie Bardame. Die Helge ist eine für Männer - schick, teure Kleider, aber sie ist 10 Jahre älter als er.“ Sie wienerte ihren Ring. „Er ist nicht mein Typ“, sagte ich. Die alte Garderobiere sah mich erleichtert an.

      Hans war schon nach einer Woche mein Held. Als ich nach Dienstschluss die dunkle Invalidenstraße betrat, kam eine Gestalt, die an der Ecke lauerte, auf mich zu. Es war ein Hotelgast, der zu viel getrunken hatte. Er blieb vor mir stehen, umarmte mich und versuchte mich zu küssen. Als ich ihn abwehrte, griff er mich tätlich an. Plötzlich stand Hans neben mir, ich sah seine Faust an meinen Augen vorbeifliegen. Der betrunkene Mann stürzte und lallte etwas Unverständliches. Hans, mein edler Ritter. „Du zitterst ja“, bemerkte er und legte den Arm um mich. Er führte mich in die kleine Kellerkneipe neben dem Hotel. Wir setzen uns in eine Ecke und Hans bestellte Bier. Nach dem dritten Bier sah ich nur noch Alain Delon in ihm. Ich musste an „Die schwarze Tulpe“ denken. Der Titelheld beraubte als verkleideter Ritter seine reichen Freunde und schenkte das Geld den Armen. Er kämpfte für das Recht der Unterdrückten und Gedemütigten, dachte ich nach einem neuen Glas. Nach dem fünften Bier war Hans mein „Mein Held und Ritter“. Hans sah mich an. Dann fuhr er mich mit dem Dienstwagen des Direktors, einem großen, teuren Volvo nach Hause. Es nieselte. Die Gaslaternen zeichneten auf der regennassen Asphaltstraße helle Lichtinseln. Wir hielten in der stillen Nebenstraße, in der ich wohnte. Meine Hände zitterten vor Aufregung. Hans küsste mich, die Scheibenwischer rasten über die Frontscheibe. Er hatte vergessen, sie auszuschalten. Ich saß vollkommen durcheinander im warmen weichen Sitz des Autos. Gedankengewitter in meinem Hirn. Erst wurde ich durch einen betrunkenen Mann belästigt, jetzt streichelten mich die Hände eines anderen Mannes zärtlich. Mein Mund öffnete sich leicht, ich spürte seine festen warmen Lippen. Mein Herz schlug wie wild. Sein Verlangen wurde immer heftiger, doch irgendwann legte sich eine bleierne Müdigkeit über mich, so dass ich sein Begehren nicht erwidern konnte, ihn sanft von mir drückte. „War wohl ein bisschen zu viel für dich“, kommentierte er die Situation. Er gab mir einen Abschiedskuss und fuhr los. Hans trennte sich von seiner Freundin Helge. Sie nahm oft Freunde mit, um weiter zu trinken, während Hans zum Hotel fuhr, um zu arbeiten. „In der letzten Zeit haben sie sich sogar geschlagen“, vertraute mir die Garderobiere an. Es gab im Hotel nichts, was sie nicht wusste. Manchmal beobachtete sie mich heimlich. Ob sie etwas ahnte …?

      Hans hasste Tratsch und vermied es, seinen Arm im Hotel um mich zu legen, doch er brachte Selbstgekochtes oder Geschmortes für mein Abendbrot mit. Einmal stellte er uns Kuchen auf die Garderobe. „Hab ein neues Rezept ausprobiert, kostet mal“, sagte er. Das Stück Kuchen schmeckte sehr gut. Mir dagegen fehlte jegliches Interesse am Backen oder Kochen. Meine Mutter backte jeden Sonnabend herrlichen Kuchen. Sie freute sich, wenn es uns Kindern schmeckte. Rühren durften wir, auch die Schüssel ausschlecken, aber alles andere machte sie viel lieber selber. Hans erzählte mir von seiner Mutter Lore, dass sie Blumen liebe und im Sommer heizen würde. Sie wäre klein und quirlig, sein Vater Gert dagegen groß, dick, aber trotzdem sehr beweglich. Nun rief Hans seine Eltern an, erzählte seiner Mutter: ich hab jetzt eine neue Freundin mit Abitur. Mit ihr kannst du über Literatur sprechen und mit Vater kann sie Walzer tanzen, sogar linksrum. Seine Mutter lud uns fürs Wochenende ein. Schon am nächsten Tag rief sie Hans an und fragte, was sie für uns kochen solle. Hans grinste mich an. Am Wochenende fuhren wir aufs