Christiane Kriebel

Dita und die 70er


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fassungslos an. „Du doch nicht“, stammelte er.

      3.Kapitel

      Das Angebot von Steil als Kameraassistentin zu arbeiten, lehnte ich ab. Aus Scham? Ich weiß es nicht mehr. Meine Aufenthaltsgenehmigung für Berlin wurde nicht verlängert. Damals brauchte jeder Bürger eine Genehmigung für die Hauptstadt, um dort arbeiten und wohnen zu können. Mitarbeiter des Fernsehfunks bekamen automatisch eine. Ich gehörte nicht mehr dazu, flog aus meiner Studentenbude, da sie dem Fernsehfunk gehörte. Den Sommer über schlief ich heimlich in meiner ehemaligen Studentenbude. Ich half der Kellnerin in der Eckkneipe. Sie fragte nach Klaus. Doch der ließ sich nicht sehen. Ende August kamen die Studentinnen frohgelaunt und erholt aus den Ferien. Den Mädchen tat ich leid. Sie teilten mit mir ihre Geheimnisse und ihr Brot. Eines Nachts kontrollierte der Verwalter die Wohnung, entdeckte mich und schmiss mich raus. Eine schlimme Nacht.

      Ich schleppte meinen Koffer in die Eckkneipe, die Kellnerin nahm ihn mir ab, deponierte ihn im Keller und spendierte mir einen Kaffee. Nach Schankschluss verließ ich die Kneipe. Müde schleppte ich mich zur letzten S-Bahn und fuhr zur Friedrichstraße. Stieg aus, lief zur Spree und setzte mich ans Wasser. Irgendwann lief ich die Friedrichstraße Richtung Osten, bis ich zur Invalidenstraße kam. Vor einem Hotel, es hieß „Neva“, standen russisch sprechende Gäste. Ich blieb stehen, blickte um mich. Die russischen Männer begannen leise zu singen. In der Ferne entdeckte ich eine Kirche mit einem wunderschönen schlanken Turm, der vom hellen Mondschein angestrahlt wurde. Ich lief weiter, angezogen von diesem Bauwerk, das Geborgenheit versprach. Ein metallenes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Zehn Schritte vor mir war eine hohe Mauer. Ich sah auf und blickte in die Mündung eines Maschinengewehres. Das Gewehr gehörte dem Posten, der seine Ehrenwache vor dem imperialistischen Schutzwall hielt. Kehrt Marsch, befahl mir eine innere Stimme. Auf meinem Rückzug in ungefährliche Straßenzüge sah ich an einem Hotel eine Tafel. Ein Sekretär und Hotelgehilfen wurden gesucht. In der Nähe befand sich ein kleiner Park. Ich setzte mich auf eine Bank. Der Mond strahlte auf ein Rondell, vergessenes Kinderspielzeug schwamm im Becken. Irgendwann, während die Zeit still zu stehen schien, schlief ich auf der Parkbank ein. Die ersten Sonnenstrahlen weckten mich, ich fror entsetzlich, stand auf und hüpfte auf der Stelle, um warm zu werden. Aus einer Fontäne begann Wasser zu sprühen. Ich hielt meinen Kopf darunter, bis ich hellwach war. Ein großer schwarzhaariger Mann tauchte auf, um seinen Hals hing ein Autoreifen. Er grüßte mich: „Olympiakader, wat?“ Ich nickte. „Gehste mit zu „Franken“ Kaffeetrinken?“ fragte er. Ich nickte. Wir tranken in der Kneipe einen starken Kaffee. „Bin Kalle“, stellte er sich vor, „arbeite in der Reifenbude, Chausseestraße, Hinterhof, wenn wat is, kommste vorbei“. Er stand auf und bezahlte beide Kaffee. Ich sah ihn erstaunt an. „Oder kommst hier in die Kneipe, ick sitze hier jeden Abend. „Muss jetzt malochen, bis dann“. „Danke“, sagte ich. Er gab mir seine große schwielige Hand und ging. Wenige Minuten später verließ ich die Kneipe. Wieder sah ich mich um, las die Straßenschilder, die Kneipe befand sich Ecke Novalisstraße. Muss ich mir merken, dachte ich und lief zur Invalidenstraße. Wo war denn dieses Hotel mit den Stellenangeboten? Ich überlegte und fand es nach wenigen Minuten. Ein großes fünfstöckiges Haus, gebaut um die Jahrhundertwende. Der blonde Empfangssekretär beorderte mich zum ersten Stock. Dort befand sich das Personalbüro. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich klopfte und eintrat. Die Kaderleiterin ordnete ihre Personalakten, bis sie in Reih und Glied standen. Dann blickte sie zu mir auf. Ich bündelte meine restliche Energie: „Ich möchte mich bei Ihnen als Empfangssekretärin bewerben“. Sie fragte mich kurz nach meinem Werdegang. „Abitur, Arbeit am Fließband ...“ Hier unterbrach sie mich. „Das sind gute Voraussetzungen. Arbeit am Fließband, Erzeugung von Pappe. Pappe wird in unserer Republik dringend gebraucht“. „Und beim Fernsehfunk hat es Ihnen nicht gefallen“. Sie blickte mich fragend an. „Prüfung verhauen“, sagte ich. „Nun, das macht nichts, auch hier können Sie etwas werden. Außerdem sind wir in der Lage, ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung für Berlin auszustellen“. Sie schob mir ein Papier zu, das ich unterschreiben sollte. In meinem Kopf hämmerte es: Unterschreib, du brauchst die Aufenthaltsgenehmigung für Berlin, du bist sonst eine illegale Person. Ich will hier nicht als Empfangssekretärin arbeiten, meckerte eine unterdrückte Stimme in meiner rechten Schädelhälfte. „Ingmar Bergmann, hilf mir“, flüsterte es in mein linkes Ohr. Erst jetzt fiel mir auf, in welchem Hotel ich gelandet war. Es gehörte dem FDGB, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund der DDR. Nun, das war mir egal. Nur das, was ich las, gefiel mir gar nicht. Du sollst nicht mit den Gästen aus dem kapitalistischen Ausland sprechen oder gar Freundschaft schließen. Es folgten weitere Verbote: Schriften jeglicher Art, Zeitschriften, Literatur, Propaganda müssen sofort der Hoteldirektion oder dem Parteisekretär übergeben werden. Die nächsten Punkte las ich nicht. Ich schob das Blatt zurück. „Unterschreiben Sie ruhig“, sagte die Kaderleiterin und lächelte mich freundlich an. „Es wird doch alles nicht so heiß gegessen, wie gekocht“, meinte sie augenzwinkernd. Ich würde viele Menschen kennen lernen, Menschen aus aller Herren Länder. Ich, dass junge Mädchen aus dem kleinen Ort über der Saale, ich würde mit ihnen reden, Französisch oder Englisch. Für einen Moment vergaß ich, dass meine Sprachkenntnisse eher mangelhaft waren. Ich würde viele Geschichten hören, lustige, spannende oder gar poetische. Vielleicht würde ich sogar einen Gast kennen lernen, in den ich mich verlieben könnte. Die Kaderleiterin brachte mich zur Tür und verabschiedete mich. Als ich am Empfang vorbeiging, sah ich eine zierliche Sekretärin bei der Arbeit. Diese bildhübsche Person strich sich über ihre Pagenfrisur und lächelte mich an, während ihr ein Kellner Kaffee servierte. „Constanze, dein Käffchen, meine Süße“, sagte er, küsste sie auf die Stirn und öffnete sich selbst eine Flasche Bier.

      Als ich meine Klamotten aus der Karlshorster Eckkneipe holen wollte, lief mir Klaus über den Weg. Einsamkeit schlich sich in mein Herz. Er umarmte mich, ich fror. Nach meiner Exmatrikulation mochte ich Klaus nicht sehen, ein Gefühl der Ohnmacht und der Wut beherrschten meine Gedanken. „War oft hier, hab nach dir gefragt“ eröffnete Klaus vorsichtig das Gespräch. Ich sah ihn an. Er kramte seinen Tabakbeutel aus seiner Tasche. Klaus trug eine neue Jeans und ein blaues Hemd. Seine Haare waren gewachsen und ordentlich gekämmt. Ich sah ihm in die Augen. Er strahlte. „Sei froh, dass du geflogen bist, die drehen total auf“, sagte er. „Wer nicht in der Partei ist, fliegt“. „Du übertreibst“, sagte ich und bewunderte weiter seine Jeans. Frau Seipel hat Peter in West-Berlin besucht“, erklärte Klaus, als er meine Blicke sah. „Tolle Levis“, sagte ich. „Hat er dir nichts ausrichten lassen?“, fragte ich ungehalten. Mein Herz begann zu jagen. Klaus gab mir einen Brief von Peter. „Flower Power“, sagte ich leise und sah Klaus an. Dann begann ich zu lesen. Peter überließ mir sein Zimmer bei Frau Seipel, er hatte für das nächste Quartal schon bezahlt. Ich suchte vergeblich ein persönliches Wort, eine Erklärung für all das, was geschehen war. „Ich muss was trinken“, sagte ich und bemühte mich nicht in Tränen auszubrechen. „Na, ab in unsere alte Kneipe.“ Klaus steuerte auf unsere Eckkneipe zu. Dort spielte er wie immer seine Rolle als armer Student, die Kellnerin spendierte Klaus ein Bier und mir eine Berliner Weise. „Vielleicht hab ich im Suff gequatscht“, sagte er. „Keine Ahnung.“ Klaus trank sein Bier in schnellen Zügen. „Vielleicht hat ihn sein Vater freigekauft. Der ist bei der ARD, hat dort einen guten Posten. Peter wollte immer rüber.“ Ich spürte Peters Lippen an meinem Ohr, hörte seine Worte: wegen dir würde ich im Osten bleiben.

      Nirgends fand ich eine klare Antwort auf meine Fragen. „Na gut, es war meine Idee mit dem Film, aber wir haben doch nur darüber gesprochen. Klaus, sag doch was!“, bat ich. Klaus starrte vor sich hin. „Ach, Marx, Lenin, ach, Jesus, warum habt ihr mir das angetan?“, fragte ich still. Nach dem dritten Bier schrie er mich an „Du bist nicht schuld!“ Die Spannung löste sich. Wie hätten wir auch schuld sein können? Wir hatten nichts getan. Klaus lallte: „Peter ist an allem schuld. Er hat uns verraten.“ „Und Du …?“, fragte ich ihn. Die Berliner Weiße schmeckte nicht, und Klaus schien mir fremd. Unter seinem Kragen lugte das Parteiabzeichen vor. Mein Hippie Klaus war in die SED eingetreten.

      Herbst 1970

      Nun gehörte mir Peters Zimmer. Verstaubte Bücher standen auf einem wurmstichigen Regal. Bücher aus dem alten Berlin, wie mir Frau Seipel versicherte. Ein Buch, in Leder gebunden, gefiel mir