Christiane Kriebel

Dita und die 70er


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mit Nüssen geschmücktem Weihnachtspapier eingewickelt hatte. Das ist ein Geschenk, damit du immer an mich denkst“, sagte er leicht theatralisch. Meine Finger rissen ungeduldig an der roten Schleife. Ich ahnte, dass es ein Buch war. Erfreut las ich den Titel. Ulrich Plenzdorf - „Die neuen Leiden des jungen W.“ „Da staunste, was?“, sagte er, „hab ich unterm Ladentisch bekommen.“ Er strich zufrieden über seinen Walrossbart. „Na, du weißt doch …“, fuhr er fort, „alles reine Beziehungssache, kenne die Buchhändlerin.“ „Du Glücklicher“, konstatierte ich. Klaus grinste. „Das Buch soll eine echte Provokation für den DDR-Kleinbürger sein. Sollte erst nicht erscheinen, weil sich dieser Edgar das Leben nimmt, in der alten Fassung war es jedenfalls so.“ „Verrat doch nicht alles“, sagte ich. Dann umarmte ich ihn. Bei aller Freude - meine Gedanken weilten bei Peter. „Warum grüßt er mich nie?“ Klaus zuckte ratlos die Schultern. „Weiß er, dass du heute bei mir bist?“, fragte ich weiter. „Nee, woher denn? Wir schreiben uns nicht, wir telefonieren nicht, wird doch alles überwacht. Die Fresspakete schickt er an die Adresse meiner Freundin. Das Mädchen kommt aus Griechenland, alles klar?“ Langsam wurde ich wütend. Klaus merkte es und bot mir als Trost noch ein Stück Schokolade an. Ich schob es in den Mund und wollte es genießen, doch die Schokolade klebte auf meiner Zunge und schmeckte mir nicht mehr. In der Nacht las ich die „Neuen Leiden des jungen W“. Vorm Fenster rieselte der erste Schnee, bedeckte die Linde vorm Haus, die alten Laternen beleuchteten die kleine Straße, hüllten sie in ein warmes Licht und ließen die Schneeflocken wie weiße Segler erscheinen. Frau Seipel klopfte Mitternacht mit ihrer Krücke gegen meine Tür: „Schlafenszeit!“ „Nein, noch nicht, ist so spannend, muss weiterlesen.“ Sie lachte. Mein Held hieß von diesem Moment an Edgar Wibeau, ein 17jähriger Junge aus der Provinz, der aus seiner kleinbürgerlichen Umwelt ausbricht und, genau wie ich, in Berlin landet. Beim Lesen von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ entdeckt er immer wieder Ähnlichkeiten mit seinem Leben. Edgar haust in einer verlassenen Laube neben einem Kindergarten. Er verliebt sich in Charlie, eine Kindergärtnerin, die aber genau wie Werthers Angebetete schon vergeben ist. Edgars Sprache reizte mich zum Lachen, sie war in unserem Jargon, im Jargon der DDR-Jugend, gehalten, er sprach z. B. von Werther als „Old Werther“. Nachdem der junge Rebell Edgar von der Kunsthochschule abgelehnt wird, sich selber als verkanntes Genie sieht, fängt er als Anstreicher an. Um seinen Arbeitskollegen etwas zu beweisen, entwickelt er ein nebelloses Farbspritzgerät. Beim ersten Versuch, die Maschine in Betrieb zu nehmen, wird Edgar von einem Stromschlag getötet. Die ganze Nacht litt ich mit Edgar, verstand sein Auflehnen gegen gesellschaftliche und familiäre Zwänge. „Der Edgar in meinem Roman ist umgekommen, weil er an der Kunstschule nicht angekommen ist“, gestand ich morgens der Vermieterin. „Um Jottes willen“, sagte meine alte, müde Frau Seipel, „denn bewirbst du dich da nicht“.

      Am Donnerstag vor dem Weihnachtsfest bummelte Hans seine Überstunden ab. Wir schlenderten die Karl-Marx-Allee entlang. „Hier hat sich Stalin verewigt“, meckerte Hans und betrachtete die Hochhäuser, die rechts und links strammstanden wie die Soldaten. „Hier wohnen nur Bonzen“, sagte Hans missmutig, „unsereins wohnt in einem engen miefigen Gästezimmer und wird mittags rausgeschmissen“. „Nach dem Krieg war hier alles zerstört, was müssen die Trümmerfrauen hier für Steine geschleppt haben“, versuchte ich, die Stimmung zu retten, und dachte an einen Dokumentarfilm, den ich vor kurzem gesehen hatte. „Die hieß früher Stalinallee, weißt du das?“, fragte mich Hans. „Klaro“, sagte ich, „wir haben das in der 2. Klasse in der Fibel gelesen“. Hans sah mich von der Seite ungnädig an. Mir fiel der kurze Text, den wir als Kinder in unserer Dorfschule gelesen hatten, wieder ein. Er hieß: „Die schönste Straße Berlins“. In Berlin war ich damals noch nie gewesen, ich kannte nur mein Dorf, es hieß Altenberg. Ich kannte die Bewohner des Unterdorfs und die Bewohner des Oberdorfs, sie waren miteinander zerstritten. Ich kannte jeden Stein auf der Dorfstraße, die Kirche, den Wald mit den hohen Buchen, die Felder, die Ziegelei. Aber dieses Mädchen wohnte in der schönsten Straße Berlins, sie hieß Vera und auch sie ging, wie ich damals, in die zweite Klasse. Ich erinnerte mich wieder an die ruhige, sanfte Stimme der Lehrerin, als sie uns den Text vorlas. “Wenn Vera am Morgen erwachte, glaubt sie zu träumen. Aber Vera träumt nicht. Wirklich, sie wohnt in der schönsten Straße Berlins.“ Hier sah uns die Lehrerin aus ihren braunen Augen vielsagend an. Dann las sie weiter. „Auf dem Weg zur Schule bewundert Vera jeden Tag aufs Neue die herrliche Stalinallee. Die hohen, prächtigen Häuser sind mit gelben Kacheln verkleidet. Unten ziehen sich in langer Reihe die breiten Schaufenster der neuen Läden hin. Hier kann man kaufen, was das Herz begehrt." Als unsere Lehrerin diesen Satz vorlas, wurde ich wütend. In unserem Dorfkonsum gab es nicht einmal Schulhefte. Wir Kinder mussten bis ins nächste Dorf laufen, um Bleistifte, Radiergummi oder frisches Brot zu kaufen. Ich lief weiter in Gedanken versunken, bis mich Hans antippte. „Aber dass mein Vater hier am 17. Juni 1953 beinahe verhaftet wurde, als er mit den anderen Bauarbeitern gestreikt hat, das weißte nicht.“ Die Geschichte des 17. Juni wurde in der DDR verschwiegen. „Mutter hat ihm eins mit dem Löffel auf den Kopf gegeben, als sie davon erfuhr. Du alter Esel, hat sie geschimpft, setzt unsere ganze Zukunft aufs Spiel. Auf den Staat schimpfen ja, aber in Knast gehen, nee“. Hans` Augen verdüsterten sich. „Manchmal hatte mein Alter ne Meise“, sagte er und bog in Richtung Mokka-Milch Eis-Bar ab. „Ich finde das eher mutig“, sagte ich und sah ihn an. Doch Hans schwieg. „Überall musste anstehen“, schimpfte er, als er die wartende Schlange vor der beliebten Eis-Bar sah. Der Wind hatte die dichte Wolkendecke aufgerissen. „Wie schön das aussieht“, stellte ich fest, als wir am Kino International ankamen. „Das ist mein absolutes Lieblingskino“, verkündete ich in einem Ton, als wäre ich die stolze Besitzerin. „Wieso?“ Hans schaute mich erstaunt an, „verstehe ich nicht“. „Wenn ich die Treppen nach oben gehe, überkommt mich eine Hochstimmung und ich könnte singen und tanzen“. „Im Kino? Auf dem glatten Parkett?“ Hans begann an meinem Verstand zu zweifeln. „Ja das Parkett ist es, es riecht so gut. Und wenn ich dann im Foyer bin, dann gucke ich aus dem riesigen Fenster auf die Allee, sehe die Autos vorüberfahren und beobachte die Menschen, die ins Café Moskau gehen“. „Das machst du, wenn du ins Kino gehst?“ Hans sah mich amüsiert von der Seite an. „Und wenn du nach rechts blickst und Glück hast, kannst du die Spitze vom Fernsehturm sehen“, ergänzte ich voller Begeisterung. „Ich sehe mir im Kino Filme an“, sagte Hans. „Und weiter nichts. Was wird denn heute gespielt?“ Er sah in die Schaukästen. „Ach, ein DEFA Film“. Hans verachtete alles, was aus dem Osten kam. Ich dachte an die Worte des Schweden: Ihr habt gute Regisseure und gute Filme. Das konnte ich Hans nicht sagen. Er trommelte an die Glasvitrine und fragte laut und provozierend: „Oder willst du dir den Schrott ansehen?“ Ich antwortete: „Sie spielen heute Nachmittag den Märchenfilm „Dornröschen“, mit Vera Oelschlegel als 13. Fee. Plötzlich schien Hans wie verändert. „Die Vera ist doch die Braut von unserem obersten Boss“, sagte er. Den Film muss ich sehen. Aber erst gehen wir essen“. Wir versuchten die breite Karl-Marx-Allee zu überwinden, hatten Mühe über den Damm zu kommen. Eine Trabi-Lawine überrollte uns fast. Hans griff mich bei der Hand und lavierte mich durch die fahrenden Autos. „Ist hier irgendwo ein Nest?“, spottete er. Endlich standen wir vorm Café „Moskau“, einem neuen zweigeschossigen Gebäude an der Ecke Schillingstraße. Ich hatte von Klaus gehört, dass 160 Angestellte in diesem Haus arbeiten würden. Allein an der Tür standen schon fünf Personen, die einem den Zutritt verwehrten. Hans zog nach kurzer Zeit ein mürrisches Gesicht. Er trat ungeduldig von einem Bein auf das andere und überlegte, dann wandte er sich an den ersten Türsteher. „Kann ich mal den Restaurantleiter, Herrn Mischelwitz, sprechen?“ Der Angesprochene grinste: „Sag doch gleich, dass du bestellt hast. Er begleitete uns bis zur Garderobe. Hans drückte ihm Geld in die Hand. „Immer wieder gerne“, raunte der freundliche Mann. An der Garderobe standen die nächsten acht Angestellten und nahmen unsere Mäntel entgegen. Wieder gab ihnen Hans Trinkgeld. Ich sah mich indessen im Foyer um. Ah, da ist die Marmortreppe, die führt nach unten zur Natascha Bar, dachte ich. Klaus hatte mir die Einrichtung des Gebäudes genau beschrieben. Wir standen im Foyer im Erdgeschoss. Hier mussten die Galerie und der Russische Salon sein, und draußen im Wintergarten befand sich die Stein Bar. Auf dem Dach soll ein originalgetreues Abbild vom Sputnik sein. Das hat die Botschaft der UdSSR, unser Brudervolk, uns zur Einweihung geschenkt. Der Gastronomische Leiter, gefolgt von einer Begleiterin, erblickte Hans, als der sich vor einem großen Spiegel sein Haar kämmte. Er eilte auf Hans zu und