Christiane Kriebel

Dita und die 70er


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seiner großen Matratze. Sein Zimmer quoll über vor Büchern, Schallplatten und Notenheften. Auf den braunen Dielen lagen seine Klamotten malerisch ausgebreitet. Er selbst trug seinen abgewetzten roten Cordanzug und zweifarbige Strümpfe. Peter las aus einem alten Artikel des „Spiegel“ vor, den er auf der Toilette, die sich eine halbe Treppe tiefer im Hausflur befand, gefunden hatte.

      „So sehen sie aus, Deutschlands Gammler, langhaarig". Er hob seinen Blick kurz und sah Klaus spöttisch an. Peter zitierte weiter: "trinkfest, schmuddelig, ernähren sich von milden Gaben“. Ich sah zu Klaus. Peter spendierte Klaus oft seine Hauptmahlzeiten. „Der hat genug Westknete“, verteidigte sich Klaus jedes Mal, wenn ich ihn deswegen zur Rede stellte. Peter las weiter: „Sie sorgen sich nicht um ihr Leben und erstreben keinen persönlichen Besitz.“ „Dass die Hippies gegen den Vietnamkrieg sind, steht da nicht“, konterte Klaus und sah zu mir. Das tat er immer, wenn ihn Peter foppte. Es ist einfach unvorstellbar, mitten im Frieden Krieg“, überlegte ich laut und nickte Klaus zu. Da kam mir eine grandiose Idee. „Wir Drei könnten doch einen Kurzfilm drehen, Karl Marx, Lenin und Jesus vereint als Hippies, demonstrieren gegen Gewalt“, schlug ich vor und war über meine Worte erstaunt, die so ungehindert aus meinem Mund heraus spazierten. Peter kritzelte etwas in sein Notizheft. „Tolle Idee, die muss ich festhalten“, sagte er. Darauf war ich nicht gefasst. Wir diskutierten die ganze Nacht. Vor meinem geistigen Auge entstand ein grandioser Film, der die Welt aufrütteln würde. Am nächsten Morgen fuhr ich übermüdet nach Thüringen. Mein Vater feierte seinen 50. Geburtstag. Der D-Zug aus Berlin hatte Verspätung. Wütend saß ich im Abteil. Mein Anschlusszug nach Dornburg sauste im Saaletal an mir vorüber. Ich würde das große Festmahl verpassen. Der Schnellzug fuhr langsamer als gewöhnlich an meinem Heimatbahnhof vorbei, ich griff ohne Nachzudenken zur Notbremse, der Zug quietschte, hielt, es polterte Gepäck durcheinander. Meine rechte Hand riss die Tür auf, ich sprang, rannte zur Böschung und kroch durchs Gebüsch bis zu den Treppen, die mich in die Bahnhofsgaststätte führten. Total erledigt bestellte ich mir einen Kaffee. Die Wirtin gähnte, der Morgen dämmerte zum Fenster hinein. Die Wirtin reichte mir den Kaffee, ich lief auf einen der freien Tische zu, entdeckte in einer Ecke unseren Nachbarn, der aus der Nachtschicht kommend, dort immer noch verweilte. Er winkte mich zu sich heran. „Willste`n Bier?“, fragte mich der sonst so stille Mann. Ich schüttelte den Kopf. Schweigend saßen wir am Tisch. Mein Knie schmerzte und meine Hand zitterte leicht, als ich die Mitropa-Tasse an meine Lippen führte. Gegen Mittag sagte er: „Meine Frau kommt bald aus Apolda, ich muss gehen.“ Wir liefen langsam die vielen Stufen zum Ort hinauf, müde trug er meinen Koffer. Mein Knie schmerzte unerträglich, doch glücklich gratulierte ich meinem Vater zu seinem Ehrentag. Am späten Abend kam ein unerwarteter Gast, ein Gartennachbar meines Vaters. Er war im Dienst. Bevor er meinem Vater gratulierte, zog er seine Polizistenuniform glatt. Dann tuschelten sie und blickten zu mir. Ich unterhielt mich mit unserer Nachbarin. „Dita ist gerade erst gekommen“, sagte mein Vater laut. „Nein“, sagte die Nachbarin, „Dita ist doch schon seit heut Morgen da, mit dem Frühzug zusammen mit meinem Mann, als der aus der Nachtschicht kam“. „Und wer hat den Schnellzug angehalten?“, fragte der gütige Polizist nach seinem dritten Bier. Keiner wusste es, auch die Gäste aus Sachsen-Anhalt nicht, die ebenfalls mit dem Schnellzug gefahren waren. „Gott sei Dank kamen keine Personen zu Schaden“, sagte der Ordnungshüter zu meinem Vater und schüttelte seinen Kopf. „Du bekommst von mir die neue Sorte Kartoffeln“, versprach mein Vater seinem Nachbarn, dem Polizisten. Am nächsten Tag, einem Sonntag, humpelte ich durch meine Stadt und wurde von jedermann gegrüßt. Dita hast du schon gehört, irgendjemand hat den Schnellzug angehalten, Personen kamen aber nicht zu Schaden“, sagten sie. „Das hätte schief gehen können“, raunten die Alteingesessenen hinter vorgehaltener Hand und zwinkerten mir zu. Dann gingen sie nach Hause, aßen ihre Thüringer Klöße und tranken Apoldaer Glockenhell.

      Der Monat April neigte sich seinem regenreichen Ende zu. Ich arbeitete das Treatment für unseren Film aus. Den Titel hatte ich schon: „Genosse Jesus und seine Brüder“. Mein Vater begann mit den Gartenarbeiten, neben ihm stand der Polizist und ließ sich erklären, wie er die neue Sorte Kartoffeln anbauen sollte. Ich fuhr zurück nach Berlin und freute mich auf meine Freunde. Als ich an Peter dachte, tanzten Schmetterlinge in meinem Bauch. Doch schon in der ersten Stunde unseres Wiedersehens spürte ich eine Spannung zwischen Peter und Klaus. Klaus hatte Peter im Alkohol einen Opportunisten genannt, mehr bekam ich nicht heraus. Auch mir gegenüber verhielt Peter sich merkwürdig. Griff ich nach seiner Hand, zuckte er zurück. Von meiner Filmidee wollte er nichts mehr hören. „Lass mich damit in Ruhe, lern lieber für die Prüfung“, fuhr er mich an und ließ mich einfach stehen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Klaus trank nur noch und lag mit der vollbusigen Kellnerin auf seiner großen Matratze. Die Tage vergingen. Mein Dozent Steil, ein zierlicher Mann Mitte Vierzig, nahm mich nach der Kameraprobe zur Seite und fragte mich: „Was ist denn los? So kenne ich dich gar nicht. Sitzt nur während der Proben und grübelst.“ Ich sah in seine großen braunen Augen. Und erzählte von Peter und von der Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. „Ich werde mit Peter sprechen“, versprach mir Steil. „Nein“, sagte ich, „werde meine Idee auch so durchziehen“. „Was für eine Idee?“, fragte er, doch wir wurden vom Kameraassistenten unterbrochen. „Ihre Frau wartet in der Requisite“, sagte er. Wir müssen sprechen“, sagte Steil und ging zu ihr. Am Wochenende lud Steil mich zu sich nach Hause ein. Er wohnte mit seiner Frau auf einem herrlichen Waldgrundstück in einem Vorort von Berlin. Am Abend tranken und aßen wir vorm Haus unter einer riesigen Blautanne. Nach der zweiten Flasche teuren Rotweins, seine Frau räumte den Tisch gerade ab und brachte die leeren Teller in die Küche, sagte Steil leise zu mir: „Wenn ich dir einen guten Rat geben kann, halt dich von Peter fern.“ Ich muss ihn so entsetzt angesehen haben, dass er aufstand und eine neue Flasche Wein holte. Ein Eichhörnchen flitzte im Morgengrauen über die taunasse Wiese, kletterte in Windeseile eine alte Eiche hoch und beäugte uns aus dem Wipfel. Wir sprachen über Ideale und Visionäre, von Peter sprachen wir nicht mehr. Einige Tage vor der Prüfung wurden Klaus und ich zu einem Gespräch in die Betriebsakademie eingeladen. Die Kommilitonen tuschelten und lernten eifrig für die Prüfung. „Das klingt wie eine Vorladung“, sagte die Tochter des Ministerpräsidenten freundlich, ich drücke euch die Daumen. Mit gemischten Gefühlen ging ich in die helle Baracke. Die Sommerhitze knallte auf das Dach. Mein Leinenhemd klebte an meiner Haut. „Was soll ich hier“? fragte ich mich immer wieder. Die große graue Uhr im Vorzimmer tickte wie ein Zeitzünder. Klaus kam aus der Tür des neuen Parteisekretärs, zog eine Grimasse und zuckte mit der Schulter. Ehe ich ihn etwas fragen konnte, wurde ich selbst zum Gespräch gebeten.

      Die grauhaarige Vorsitzende der Kommission fragte mich, wie es mir beim Deutschen Fernsehfunk gefiele, was ich von meinem Studium der Regie erwarte und wie ich zu dem Slogan „Ein Regisseur in unserem Staat muss parteilich sein“ stünde. Als ich antworten wollte, schnitt man mir das Wort ab. „Es ist bereits alles bekannt, ich möchte mir das nicht anhören", warf der Parteisekretär ein und schaute in die Runde. Die Vorsitzende atmete schwer. Für ihn sei es unerklärlich, warum ich das Andenken von Marx und Lenin in den Schmutz ziehen wolle. Nach wenigen Minuten durfte ich gehen. Klaus wartete am Ausgang auf mich. „Ich weiß nicht, was da vor sich geht“, raunte er mir zu. Er flüsterte den ganzen Weg und drehte sich laufend um. Ich lief zum Adlergestell, um zu Peter zu gehen. Klaus sträubte sich anfangs, doch dann trabte er willig mit. „Peter wird es uns erklären, er weiß doch immer alles“, versuchte ich Klaus zu beruhigen. Wir klingelten am kleinen Haus am Ende der Lindenstraße. Frau Seipel, seine Wirtin, öffnete. Sie sah uns erschrocken an, dann stützte sie sich auf ihre Krücke und flüsterte: „Peter ist weg. Er musste innerhalb von 24 Stunden die DDR verlassen.“ Sie wies mit ihrer Krücke in Richtung Westen. Danach schenkte sie selbst gemachten Eierlikör ein und erzählte uns in ihrer Wohnung von ihrem verstorbenen Ehemann Gustav. Ein feiner Mann war er, dazu ein Künstler. In der Oper hat er gearbeitet, sagte sie und blickte auf ein Porträt, das auf einer alten braunen Kommode stand. Ich konnte kaum zuhören, der dicke Eierlikör verklebte meine Gehirnwindungen, doch ich dachte die ganze Zeit, irgendwo, irgendwann wirst du Peter wiedersehen. Dann wirst du ihn fragen, was war da los? Spät in der Nacht fuhr ich in meine Studentenbude und schlief unruhig bis in den späten Nachmittag hinein. In meinem Kopf explodierten Gespräche, Wortfetzen erreichten mich und hämmerten gegen die Schläfen.

       Der Tag der Prüfung war gekommen. Die Aufgaben fielen mir leicht.