Christiane Kriebel

Dita und die 70er


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Geschenke aus dem westlichen Ausland angenommen und selbige nicht gemeldet. Sie zeigte mir einen Bildband und fragte mich: „Kennen Sie den?“ So fangen eigentlich immer Witze an, dachte ich und zuckte gespannt die Schultern. Dann wurde aus einem Brief zitiert, den man im Zimmer des Sudanesen gefunden hatte. „Haben Sie den geschrieben?“ Ich verneinte. Der Empfangssekretär hat Sie aber mit diesem rosaroten Brief in der Hand gesehen. Ich schluckte. Er tat mir leid, der kleine Sudanese, der in sein Land zurückmusste, aber gern beim Empfangssekretär geblieben wäre. „Das ist nicht meine Schrift“, sagte ich leise. „Das kann ja jeder sagen“, konterte sie. Triumphierend holte die Kaderleiterin ein Buch mit einem gelben Umschlag aus ihrer Schublade. „Und was ist das?“, fragte sie. „Ein Buch“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ein Buch über freie Liebe“, sagte sie, „das lässt ja tief blicken. Liest man das in Schweden?“ Langsam wurde ich unruhig und fragte mich, Was will die Alte von mir? In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Jetzt verstand ich, warum mein Buch verschwunden war. Trotzdem wollte ich mir keine Blöße geben und antwortete freundlich: „Kann sein, die Schweden sind ja ziemlich offen für alles. Einige Schweden studieren sogar in der DDR.“ „Ach, Sie kennen sich ja aus.“ Dann sah sie mich an und schwieg. Ich grübelte. Hatte der Empfangssekretär das Buch mitgenommen? Und wenn ja, was war denn los mit ihm? Warum log er? „Ihr Herbert Marcuse ist ein Schwein“, begann sie voller Empörung das Gespräch von neuem. „Wenn alle Menschen ihren Trieben freien Lauf ließen, wo kämen wir da hin?“ Ich sah zu ihrem ringlosen Finger, musterte ihre strenge Duttfrisur und den Seidenschal um ihren dünnen Hals. Sie starrte auf meinen Maximantel. „Und das soll schön sein und das gefällt wohl ihrem Marcuse?“ „Nun gehen Sie aber zu weit, sagte ich. Marcuse ist ein marxistischer Philosoph. Der interessiert sich nicht für Mäntel.“ „Und Sie wollen Regie studieren in unserem Staat?“, begann sie ihr Fragespiel von neuem. Sie übersah mein wiederholtes Nicken und blickte zu dem Bild des Genossen Walter Ulbricht. „Ein Regisseur muss parteilich sein, fuhr sie fort, muss zu unserem Staat, zum Arbeiter- und Bauernstaat stehen, und nicht von Schweden träumen.“ Nun sah ich zu dem Bild des Genossen Vorsitzenden. Mir schien, als würde er abschätzig zu mir herabblicken. „Marcuse wendet sich gegen die leistungsorientierte Kultur, und er weigert sich, seine ehemalige Schülerin Angela Davis im Stich zu lassen.“ „Ja und? Was heißt das schon.“ Sie sah mich durchdringend an. In ihren blauen Augen erschienen Eissplitter. Doch ich wollte dem Frühling, dem Sommer und jedem Menschen gegenüber aufgeschlossen sein und die Welt lieben, so wie es Marcuse proklamierte. „Sie kennen doch Angela Davis?“ fragte ich freundlich, denn jeder Mann und jede Frau in der DDR, einfach Jeder, vom Krippenkind bis zum Veteran der Kommunistischen Partei, kannte unsere Angela. „Von wem haben Sie dieses Buch?“ „Warum fragen Sie, Sie wissen doch schon alles“, sagte ich. Daraufhin schlug sie mir vor zu kündigen. Sie legte mir ein vorgefertigtes Schreiben vor die Nase, dass ich augenblicklich unterschrieb. Zum Abschied hielt sie mein Buch triumphierend in ihren knochigen Fingern umklammert. Ich ärgerte mich fürchterlich, dass sie mein Buch behalten hatte und stieg schimpfend die Treppen hinunter. Unten in der Empfangshalle lächelte mich der neue Hotelgehilfe an. „Allet Jute“, sagte er freundlich und schleppte die schweren Koffer am Empfangssekretär vorbei. Der kramte, als er mich sah, in seinen Akten. Die alte Garderobiere reichte mir zum Abschied die Hand. „Wir wissen, wer dich angeschissen hat.“ Sie wies mit ihrem Kopf zum Empfangssekretär. „Aber der hat`s auch nicht einfach mit seiner kranken Frau und den drei Kindern“, enthüllte sie sein Geheimnis. „Nun verstehe ich gar nichts mehr“, sagte ich, umarmte sie und ging lächelnd, obwohl mir zum Heulen zumute war, am bemitleidenswürdigen Empfangssekretär vorbei.

      Als Hans von der Dienstreise zurückkam, erfuhr er im Hotel, dass ich dort nicht mehr arbeitete. Er besuchte mich bei Frau Seipel, die ihn argwöhnisch beäugte und ungern in mein Zimmer ließ. Er wollte mich aufheitern, zog den Ärmel seines rechten Armes hoch und ließ seine Armmuskeln anschwellen. „Das sind Muskeln“, protzte er, „die können Lasten schleppen. Fass mal an, die sind stahlhart“, forderte er mich auf. Ich mochte nicht aufgeheitert werden, dachte nur an meine Aufenthaltsgenehmigung. Als ob er meine Gedanken erraten hätte, sagte Hans: „Ich melde dich bei meinen Eltern als Untermieterin an. Das ist Kreis Oranienburg und gehört nicht mehr zu Berlin, da haste deine Ruhe und kannst arbeiten, wo du willst. Mein Retter - dachte ich. Aber so einfach ging es nicht, ich hätte das Zimmer bei Frau Seipel räumen müssen und das wollte ich nicht. Hans half mir bei meiner Suche nach einer neuen Arbeit. Wir fuhren durch Berlin, lasen Angebote, die an den Fenstern und Toren aushingen: Wir suchen Gabelstaplerfahrer, Ingenieure, Maurer, Sekretärinnen, Sachbearbeiterinnen, Bibliothekare. Aber keiner der Betriebe konnte mir eine Aufenthaltsgenehmigung für Berlin ausstellen, dafür waren sie für die Gesellschaft nicht wichtig genug. Weihnachten nahte. Frau Seipel reparierte ich die alten Plüschsessel, bezog sie neu, putzte die Wohnung und half ihr, wo ich nur konnte. Sie gab mir Geld dafür und schwärmte von ihrem neuen Bekannten, den sie auf dem Gemüsemarkt kennen gelernt hatte: „Da steht da son kleenet Männeken und kiekt mir an, wie ich so die Kohlköpfe ankieke.“ Wenn sie von ihm erzählte, leuchteten ihre sonst trüben Augen. Sie steckte ihren Dutt mit neuen Haarklammern fest, die er ihr geschenkt hatte und schimpfte auf ihre Krücke: Wenn ich die nur wegschmeißen könnte.

      Am 6. Dezember zum Nikolausfest kam ihr neuer Bekannter zum ersten Mal zu ihr. Frau Seipel wollte ihn ohne Krücken an der Haustür begrüßen. Wir übten den ganzen Tag. Als er an der Haustür klingelte, schrie sie: ich bin müde, legte sich auf ihr neubezogenes Kanapee und schlief sofort ein. Ich musste ihn einlassen. Er stellte sich vor: ich bin Opa Grobius. Er putzte seine beschlagenen Brillengläser, nahm seine Ohrenschützer von seinen großen Ohren und strahlte mich aus klitzekleinen blauen Augen an. Frau Seipel schläft, flüsterte ich ihm zu und wies ihm den Weg zum Wohnzimmer. Während er auf Socken in Frau Seipels Zimmer schlich, ging ich mit den Blumen, die er mitgebracht hatte, in die schmale Küche. Ich stellte sie in eine große alte Blumenvase, kochte Kaffee, schnitt den Kuchen an und brachte ihn in Frau Seipels Wohnzimmer. Als ich das Zimmer betrat, kniete Opa Grobius neben ihr und bewachte ihren Schlaf. Als Frau Seipel den Kaffeeduft in ihre Nase bekam, wurde sie prompt wach und ließ sich von Grobius aufhelfen. Grobius stocherte in dem selbstgebackenen Kuchen und schmachtete Frau Seipel an. Ich kam mir überflüssig vor und verabschiedete mich. Kaum hatte ich die Tür geschlossen, fingen sie zu sprechen an, später hörte ich sie lachen. Was könnte ich heute noch machen, überlegte ich. Hans hat keine Zeit, er fährt die Gäste des Direktors durch Berlin. Ich studierte den Theaterplan und entschied mich für das Deutsche Theater. Benno Bessons Inszenierung des Politmärchens vom Drachen wurde am Abend gegeben. Mich begeisterten die Klassiker, nun war ich gespannt auf die Inszenierung des Stückes von Jewgeni Schwarz. Lange musste ich an der Kasse anstehen, bis ich eine Karte in meiner Hand hielt. Hervorragende Schauspieler wie Rolf Ludwig, Esche, Franke und Horst Drinda trieben mir Tränen der Freude in die Augen und ließen mich meine Situation völlig vergessen. Horst Sagerts schwelgerische Ausstattung faszinierte mich ungemein, bislang hatte mich die Bühnenausstattung wenig interessiert und nun so etwas.

      Nach der Vorstellung stellte ich mich wieder an, dieses Mal, um in die Kantine des Deutschen Theaters zu kommen. Ich musste nicht lange warten, als Einzelperson kam ich schnell hinein. Als ich Horst Sagert in der Theaterkantine des DT sitzen und essen sah, wäre ich am liebsten zu ihm hingegangen und hätte ihn umarmt, aber er saß mit der wunderschönen Schauspielerin Gudrun Ritter zusammen. Ehrfürchtig setzte ich mich in eine Ecke und trank Unmengen von Fassbrause, bis mir der Bauch schmerzte.

      Eines Nachmittags, kurz vor Weihnachten, kam Klaus zu mir. Aus seiner alten Ledertasche zauberte er Schokolade, Weintrauben und frisches Brot. Frau Seipel begrüßte uns kurz, sie hatte Besuch von ihrem Busenfreund Grobius. Wir gingen in die aufgeräumte Küche. Seitdem es Grobius in Frau Seipels Leben gab, strahlte nicht nur sie, sondern die ganze Wohnung. Wir schnitten zwei Scheiben Brot von dem frischen Bauernbrot ab, legten dick Schokolade darauf und dazu, als Krönung des Ganzen, Weintrauben. Unser Menü trugen wir stolz in mein Zimmer. Wir aßen genüsslich und lümmelten auf meinem Bett. Die alte Vertrautheit hatte sich wiedereingestellt. Klaus erzählte mir von seiner neuen Freundin, sie studierte Produktion beim Fernsehfunk. „Gut, dass es sie gibt, das Studium draußen in Babelsberg gefällt mir nicht“, sagte er und leckte sich den Zeigefinger ab. „Meine Freundin lenkt mich ab.“ Ich betrachtete seine weichen Gesichtszüge, das breite Kinn und das