Christiane Kriebel

Dita und die 70er


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nur einen Arm hatte. Die junge Frau, die die ganze Zeit neben ihm gestanden hatte, holte auf einen kurzen Wink ihres Vorgesetzten einen Kellner herbei, der uns dienstbeflissen die Speisekarte vorlegte. „Wo wart ihr denn bei dem Wetter?“, fragte der Leiter. „Wir waren auf der Weberwiese“, entgegnete Hans. „Hab meiner Freundin das neue Berlin gezeigt“. „Mischelwitz“ stellte sich der alte Mann vor. „Hocherfreut“. „Weberwiese, ach, da hab ich als Kind gewohnt. Dort standen noch olle Mietskasernen, mein lieber Hans, und es roch den ganzen Tag nach Kohlsuppe. Wisst ihr denn, wie die Weberwiese früher hieß?“ Er hob seine Hand und schaute uns fragend an. Ich verneinte und bewegte unter dem Tisch vorsichtig meine Zehen, denn ich fror immer noch, obwohl es im Restaurant gemütlich warm war. „Ja“, sagte Hans. „Lausewiese“ - hast du mir oft erzählt“. „Haste jut aufgepasst“, lobte sein ehemaliger Lehrmeister. Hans lächelte erfreut. Herr Mischelwitz ging und begrüßte an einem anderen Tisch eine Gruppe Inder. Lange studierte ich die Speisekarte. Einige der angebotenen Gerichte kannte ich nicht. „Kannst du mir etwas empfehlen?“, fragte ich Hans. Er beriet mich fachmännisch, und ich staunte, wie gut er sich auskannte. Doch ich blieb beim Steak au four, denn das kannte ich. Nachdem Hans bestellt hatte, fragte ich: Wo war der Mischelwitz dein Lehrmeister? „Wollte mal Koch werden, bin krank geworden. Dann war Schluss“. Mir knurrte der Magen. Der Kellner kam und brachte die Getränke. Nach einer halben Stunde bekam Hans sein Riesenschnitzel. Ich wartete ungeduldig. Nach einer Stunde fragte ich beim Kellner nach. „Kommt gleich“, flötete der Kellner und lief zur Küche. Wieder vergingen Minuten. Mein Steak wurde endlich von einem Lehrling gebracht. Hungrig steckte ich den ersten Bissen in meinen Mund. Ich erstarrte, denn es war kalt. Auch Kartoffeln und das Erbsengemüse. Ich schüttelte mich. „Wat is?“ fragte Hans erstaunt. „Das Essen ist kalt“. Hans rief den Kellner. Nach wenigen Minuten kam er wieder und reichte mir freundlich meinen Teller. Ich griff nach dem Teller und verbrannte mir die Hand. Langsam wurde ich wütend. Der Kellner hatte sich durch eine Stoffserviette geschützt. Wieder begann ich zu essen, wieder erstarrte ich. Das Essen war immer noch kalt. „Das hat die Küche nur auf den heißen Herd gestellt“, bemerkte Hans. „Das esse ich nicht“, sagte ich ungehalten. „Mach doch hier nicht solch einen Aufstand, was soll der Mischelwitz von mir denken“, schimpfte Hans genervt. Ich winkte dem Kellner. Mit einem mürrischen Gesicht kam er. In diesem Moment steuerte Herr Mischelwitz auf uns zu. Der Kellner griff nach dem Teller, verbrannte sich, fluchte leise, eilte mit meinem Teller Richtung Küche und kam binnen weniger Minuten mit einem saftigen Steak zurück. „Na, schmeckt`s?“, fragte freundlich Herr Mischelwitz. Als dieser die leichte Verstimmung zwischen mir und Hans bemerkte, brachte er echten russischen Wodka. Der Abend wurde noch sehr lustig und irgendwann nachts landeten wir in der Natascha Bar.

      Weihnachten 1970

      Weihnachten fuhr ich mit Hans zu meinen Eltern. Sein Chef hatte Hans erlaubt, das Betriebsauto zu benutzen. Als wir in den kleinen Ort kamen, standen einige Bewohner schwatzend an der Straßenseite. Sie sahen den dicken Volvo. Als sie mich erkannten, grüßten sie. „Wie die alle kiecken“, wunderte sich Hans und zündete sich eine Westzigarette an, ein Geschenk der Garderobiere aus dem Hotel. Meine Mutter wartete vorm Haus und begrüßte uns herzlich. Sie umarmte mich und dann Hans. Er war darauf nicht gefasst. Meine Schwester stand daneben und grinste. Hans stellte unter Anweisung meines Vaters den großen Wagen in den Innenhof, neben unseren kleinen blauen Trabi. Die Nachbarin beobachtete aus ihrem Fenster das Schauspiel, sie öffnete trotz der Kälte ihr Fenster und kreischte lachend: “Lasst ja für meinen Schlitten auch noch Platz.“ Eine Stunde später schon saß Hans mit meiner Mutter in der Küche und half ihr bei der Zubereitung des Gänsebratens. Er stellte sich geschickt an und sammelte Pluspunkte. Nach dem Essen begleitete Hans meinen Vater in den nahen Wald. Gemeinsam fällten sie ein schönes Bäumchen. Meine Mutter begutachtete das Bäumchen und schien zufrieden. Das erste Mal seit Jahren lobte sie meinen Vater: „So ein schöner Baum.“ Sie war froh, dass mein Vater heil an der Dorfkneipe vorbeigekommen war. Mein Vater zwinkerte Hans zu, denn beide waren auf einen Schnaps in der Dorfkneipe hängen geblieben. Da aber Hans das Bäumchen nachhause trug, konnte mein Vater sich erholen und erschien topfit. Das Baumschmücken dauerte so lange, bis die Flasche Korn ausgetrunken war. Meine Mutter merkte die Bescherung erst, als mein Vater hochrot aus dem Wohnzimmer kam und freudig ein “Fertig“ lallte. Nach der Bescherung spazierten Hans und ich durch den kleinen verträumten Ort. „Ist ja schön hier, hätte ich nicht gedacht.“, sagte er. Dabei zog er an seinen neuen Lederhandschuhen, die ihm meine Mutter geschenkt hatte. Er musste sie weiten, denn sie waren ihm zu eng. Noch immer schien es ihm peinlich zu sein, etwas geschenkt bekommen zu haben. „Der wird ja ganz rot“, hatte mir meine Schwester zugeflüstert, als Hans versuchte die engen Handschuhe über seine breiten Hände zu ziehen.

      1971 Frühling

      Nach dem strengen Winter kam ein wunderschöner hellgrüner Frühling. An der Spree blitzen die ersten Sonnenstrahlen übers Wasser, die zarten grünen Triebe drängten ans Licht. Die Büsche wurden von den heimkehrenden Vögeln bevölkert. Hans sorgte für mich. Wenn er nicht arbeiten musste, wohnten wir in seinem kleinen Zimmer. Wir gingen essen, ins Kino oder fuhren zu seinen Eltern. Da ich noch keine passende Arbeit gefunden hatte, ließ ich mich mehr und mehr auf Hans ein. Mir gefiel seine zupackende Art. Gemeinsam erkundeten wir Berlin oder lagen Sonntagmorgens im Bett und lasen. Hans las immer wieder in einem Buch mit braunem Ledereinband. Es waren die „Heldensagen“ von Gustav Schwab. Er liebte dieses Buch, das ihm sein Vater kurz vor dem Mauerbau 1961 aus West-Berlin mitgebracht hatte. Und wieder kam so ein Sonntagmorgen, Hans räumte den Frühstückstisch ab, polierte ihn dann, wusch sich danach die Hände und suchte anschließend sein Buch. Ich lag zufrieden in meinem Bett und schlug Wilhelm Raabes „Die Chronik der Sperlingsgasse“ auf. Während Hans schon mit hochrotem Kopf in allen Ecken suchte, las ich genüsslich die Geschichte. Aus den Augenwinkeln sah ich Hans auf mich zukommen. Er beugte sich wie zum Kuss über mich, ich verzog meinen Mund zu einem freudigen erwartungsvollen Lächeln. Seine Hand griff nach meinem Buch, entriss es mir und seine graugrünen Augen blitzten auf. Hans sprang mit zwei Schritten zum Fenster, öffnete es und schmiss „Die Chronik der Sperlingsgasse“ auf die Eichendorffstraße. „Wenn ich nicht lese, hat hier keiner zu lesen!“, schrie er. So kannte ich Hans nicht. Was war los mit ihm? Es gab keinen Grund, das Buch aus dem Fenster zu werfen. Es gehörte nicht mir und außerdem mochte ich es. „Ist gut“, stotterte ich, stand auf und zog mich an. „Nur raus hier“, dachte ich. Hans ging unter die Dusche. Ich suchte indessen sein Buch, fand es bei den Arbeitssocken, legte es auf sein Kopfkissen und schrieb einen Zettel: Viel Spaß beim Lesen. Hans schrubbte sich unter der Dusche und pfiff laut und falsch. Das brachte mich endgültig auf die Palme. Wie konnte ein Mensch am Sonntagmorgen so laut falsch pfeifen? Das beleidigte meine Ohren. Ich schloss die Badtür und verließ sein Zimmer. Ich stieg die gebohnerten Treppen hinunter, durchschritt einen langen dunklen Flur, öffnete die große schwere Eingangstür und trat in gleißendes Licht. Auf die Eichendorffstraße segelten kleine Aprilflocken, die nahe Golgathakirche rief ihre Gläubigen zur sonntäglichen Morgenandacht. Die Turmuhr schlug 10 Mal. Hundebesitzer zogen ihre Tiere übers Kopfsteinpflaster. Ein kleiner brauner Dackel trug stolz meine „Chronik der Sperlingsgasse“ in der Schnauze. Sein Herrchen kannte ich vom Sehen. Er besaß einen kleinen Friseursalon. „Tag, Freddy“, grüßte ihn eine alte Frau, die von ihrer Bulldogge an uns vorübergezogen wurde. „Morgen, Oma Thielecke“, grüßte Freddy freundlich zurück. Dann widmete er sich wieder seinem Hund: „Da wird sich Frauchen aber freuen, dass wir ihr ein so schönes Buch mitbringen. Gib Herrchen den Schmöker.“ Doch Waldi behielt seine Beute in der Schnauze und zog sein Herrchen zur nächsten Eiche. Ich ging weiter. Ich wollte den stolzen Hundebesitzer wegen des Buches nicht ansprechen. Ich würde Frau Seipel ein neues Buch kaufen müssen, denn sie hatte es mir nur geliehen. Doch ich hatte dafür kein Geld. Ich musste mir endlich eine Arbeit suchen, anders ging es jetzt nicht mehr. Lange genug lag ich Hans schon auf der Tasche. Am Himmel tummelte sich kein einziges Wölkchen und für einen Frühlings- sonntagmorgen war es schon zu heiß. Hinter mir hörte ich eilige Schritte. Ich kannte diesen Schritt und kannte dieses Parfüm. Ich hielt mein Bündel fest umklammert, „Warte doch mal!“ Ich liebte den Sonntagmorgen, aber nicht diese aufbrausende Art von Hans. Ich lief weiter. Hans rief: „Tut mir leid!“ Auf einmal schrie er auf. „Was ist das?“ Ich blieb stehen und drehte mich um. Hans hatte Friseur Freddy erreicht und starrte den Dackel