Christiane Kriebel

Dita und die 70er


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Brust im Wohnzimmer und zeigte mir dann die vielen Pflanzen auf dem Fensterbrett. Nachdem mir das Qualitätssiegel aufgedrückt worden war, fühlte ich mich wie Exquisitware. Ein Fest wurde veranstaltet und ich tanzte mit Gert, dem Vater von Hans, Walzer. Nach und nach stellten sich die Freunde, die Nachbarn und die entfernten Nachbarn aus dem Dorf ein. Die Funktürme thronten über den niedrigen Dächern des Dorfes und sandten die neuesten Nachrichten aus: Hans hat eine Freundin, die kann Walzer linksrum tanzen. Hans wohnte in einem Nebengebäude des Hotels. Wenn er auf der Arbeit war, kamen die Zimmerfrauen und reinigten sein Zimmer. Sie hatten bei ihm nicht viel zu tun, er baute sein Bett, wie er es bei der Armee gelernt hatte. Sein Zimmer befand sich direkt unter dem Dach des sechsstöckigen Gebäudes. Schien die Sonne, sah ich die „Goldelse“ aufblitzen im Tiergarten hinter dem Brandenburger Tor. Unerreichbar für mich und für jeden, der nicht so prominent war, dass er nach West-Berlin reisen durfte.

      Der Herbst zog ein, die Vögel versteckten sich im Weinlaub, das in allen Farben leuchtete. Weit über den mit Antennen beladenen Dächern der Stadt formierten sie sich zu einem großen offenen V. Sehnsuchtsvoll sah ich ihnen nach und fühlte mich eingeengt in der großen Stadt und von den vielen Menschen. Noch konnte Hans sein Motorrad benutzen, die Temperaturen verweilten bei 15 Grad. An einem freien Tag fuhren wir nach Potsdam, spazierten durch die so prächtig angelegten Gärten und tranken in einem Gartenlokal dünnen Kaffee. Hans erzählte von seinem Sommerurlaub am Schwarzen Meer. Ich konnte ihm nicht zuhören, neue, immer wiederkehrende Gedanken quälten mich. Mein Sommer war verflogen und meine Illusionen auch. Was sollte ich tun, fragte ich mich. Im Hotel bleiben, nur wegen der Aufenthaltsgenehmigung für Berlin? Ich sah, wie der Nebel sich über die Herbstblumen legte und wehmütig dachte ich an das farbenprächtige Laub im Garten meines Vaters. Hans legte seinen Arm um mich. Jetzt schmeckte sogar der quasi-Kaffee. Ich fühlte mich geborgen im großen herbstlichen Garten von Sanssouci. Von irgendwo klang eine Flöte. Hans hielt meine schmalen Finger in seiner kräftigen Hand. „Der Alte Fritz war ein bedeutender Feldherr“, platzte es unvermittelt aus ihm heraus. „Er hat auch Flötensonaten komponiert“, ergänzte ich. „Nee“, empörte sich Hans. „Das war ein anderer. Flöte passt doch nicht zu einem echten Preußen“. „Doch“, konterte ich, „und geschrieben hat er auch“. „Bei dir müssen wohl alle schreiben können.“ Hans grinste und zog mich fester an sich. Wieder spürte ich seine körperliche Anziehungskraft, nahm seine Hand, drückte sie leicht an meine Wange und umarmte ihn dann stürmisch.

      Am nächsten Tag hatte mich der Alltag wieder. Irgendwie fühlte ich mich im Hotel nicht dazugehörig. Hans fuhr den Direktor zu einem dreiwöchigen Lehrgang nach Dresden. Er fehlte mir, und ich sehnte mich nach seiner Nähe. Die Arbeit fiel mir schwer. Die Koffer zogen an meinen Armen. Die Geschwätzigkeit der Garderobiere zehrte an meinen Nerven. Anders verhielt es sich mit den Gästen, sie kamen aus dem Libanon, aus Zypern, aus Afrika, aus den USA. Frauen aus Ghana drückten mich freundlich an sich. Manchmal legte mir ein Gast schüchtern Trinkgeld in meine Hand, ich umschloss es mit meinen Fingern, verbarg es vor den Blicken der Garderobiere und der Zimmerfrauen. Sie empfanden mich als Kuriosum des Sozialismus, gaben mir Ratschläge, doch kaum einer half mir beim Tragen. Die Zimmerfrauen bekamen Seide aus Indien oder kleine Pyramiden aus Ägypten, Nicht selten schlenderte ich durch die Hotelgänge und so manches Mal verirrte ich mich. Mir fehlte ein Ort, an dem ich zur Ruhe und Besinnung kommen konnte. Endlich hatte ich einen ungewöhnlich schönen Schlupfwinkel gefunden, um in den wenigen freien Minuten zu entspannen, mein Brot zu essen und Kaffee zu trinken, und nahm ihn für mich in Beschlag. Es war eine enge fensterlose Kammer, sie lag unter der Treppe, die zum ersten Stock führte. Das Hotelpersonal benutze sie als Abstellraum. Verstaubte Akten lagen neben Handfeger und Schaufel. Ich räumte diesen Raum auf, ließ vom Hauselektriker die Lichtleitung reparieren und bezog mein „Büro“. Hinter den entstaubten Akten versteckte ich meine Bücher, die ich von meinem Trinkgeld gekauft hatte. In diesem engen Bretterverschlag fühlte ich mich wohl.

      Ende Oktober reiste ein junger Sudanese an. Der Empfangssekretär sah ihm unverhohlen interessiert in seine dunklen Augen. Der zierliche Sudanese schenkte ihm einen großen Bildband. Diesen Bildband schenkte der Empfangssekretär mir, dafür musste ich dem attraktiven Sudanesen am späten Abend einen Brief aufs Zimmer bringen. Mitten in der Nacht bat mich, der Empfangssekretär ihn zu vertreten, und verschwand im Zimmer des Sudanesen. Gegen Morgen kam er die Treppe heruntergeschlichen. Glücklich umarmte er mich. „Ich bin so verliebt“, schwärmte er. „Aber das bleibt unter uns.“ Sein Vertrauen ehrte mich und ich schwieg. Einer der Gäste, ein junger Schwede, hatte mich in der Spätschicht angesprochen. Dass er Nichtraucher war, gefiel mir und wir kamen ins Gespräch. Ich erzählte ihm von meinen Plänen und Absichten, er erzählte mir von seinem Studium in Ost-Berlin. Irgendwie kamen wir auf Godard zu sprechen. Meine Schwärmerei für Godard irritierte ihn. Er hatte Godards ersten Film „Außer Atem“ gesehen und schien nicht begeistert. „In der DDR gibt es doch so gute Regisseure und ihr macht tolle Filme“, bekundetet er lautstark seine Begeisterung. Ungläubig sah ich ihn an, seine blonden Haare hingen ihm ungekämmt über seine blauen Augen und beim Sprechen stieß er mit der Zungenspitze leicht gegen seine Schneidezähne. Wollte er mich für dumm verkaufen? fragte ich mich, doch gerade als ich gehen wollte, beugte er seinen Kopf zu mir und flüsterte: „Es stimmt, was ich sage, aber euer System muss sich öffnen, es ist alles zu dogmatisch. Er blickte mir in die Augen. „So schöne Mädchen haben die Deutschen“, sagte er, „aber die deutschen Mädchen müssen sich öffnen“. Er nestelte im dunklen Flur an meinem Blusenknopf. „Will mich nicht öffnen“, bekundete ich und klopfte auf seine Finger. „Musst du noch lernen“, erwiderte er mit einer Verbeugung und ging pfeifend davon.

      Am nächsten Tag fuhr er nach West-Berlin und brachte mir ein Buch mit. Er drückte es mir in die Hand, als ich mit ein paar Glühbirnen auf dem Weg zum Hauselektriker war. Der Umschlag des Buches leuchtete in einem warmen Gelb, in roten Lettern stand auf dem Umschlag „Stimmen und Visionen“. Wessen Stimmen, wessen Visionen? fragte ich meinen Schweden, konnte aber seine Antwort nicht abwarten, da die Kaderleiterin aus ihrem Zimmer kam. Der junge Schwede grüßte sie freundlich. Sie blieb stehen und lächelte. Er umgarnte sie und tat, als schwärme er für reife Frauen. Ich versteckte das Buch hinter meinem Rücken und ging. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl in die 5. Etage, dort wo die Putzfrauen ihr Lager hatten, setzte mich auf einen Stapel Wäsche und schnupperte an dem Taschenbuch aus dem fernen Westteil der Stadt. Es roch ganz anders als unsere Bücher aus dem Hause „Volk und Welt“. Ich blätterte, las Namen wie Carlos Castaneda, Herbert Marcuse und Norman O. Brown. Namen, die ich nie gehört hatte. Wen sollte ich fragen? Im Hotel gab es keinen, zu dem ich Vertrauen hatte. Ich stand auf und sah sehnsuchtsvoll aus dem Fenster. Vor mir lagen der Nordbahnhof und der Grenzstreifen. Ich fuhr nach unten und versteckte das Buch in meinem Büro zwischen den Akten, um es in einer ruhigen Minute zu lesen.

      Am nächsten Abend, es war ein nasskalter Novembertag, musste ich den Nachtportier vertreten, der grippegeschwächt im Bett lag. Als die letzten Gäste angereist und die Aschenbecher geleert waren, begab ich mich in meine Kemenate. Nun war es endlich so weit. Ich nahm das Buch aus meinem Versteck und las. Für mich öffnete sich eine neue Welt, Namen, die ich nie gehört hatte, Denkweisen und Ansichten über das Leben drangen in mein Bewusstsein. Je weiter ich las, umso verwirrter wurde ich und eine mächtige Wut kroch mir den Hals hinauf. Zum ersten Mal fühlte ich, dass die Luft in diesem engen Raum knapp wurde. Ich rannte raus, um vor der Eingangshalle Luft zu schnappen. Wenige Meter weiter wusste ich die Mauer. Scheinwerfer kreisten über dem totenstillen Grenzstreifen. Es sah gespenstisch aus. Der junge Schwede tauchte plötzlich auf, er kam aus der „Kleinen Melodie“, einer Nachtbar in der Friedrichstraße. In der Hand hielt er eine Flasche Schnaps. Wir gingen gemeinsam in die Halle zurück. Der rotblonde Schwede gab dem Empfangssekretär die Flasche zum Öffnen. Dieser öffnete sie, sah mich an und zischte: „Meine Süße, Du weißt doch, dass es verboten ist, sich mit den Gästen zu treffen“. Mir verschlug es die Sprache. Nachdenklich ging ich zurück in mein „Büro“ und las weiter. Gegen Morgen legte ich meinen Kopf müde auf eine der Akten und träumte von einem offenen sozialistischen System und dem jungen Schweden. Zum Schichtwechsel weckte mich der Empfangs- sekretär, er hielt sich an meinem wackligen Stuhl fest, da er kaum stehen konnte. „Dieser Schwede …“, lallte er und fiel um. Am Abend kam er nicht zum Dienst, von der hübschen Empfangssekretärin hörte ich, dass er krank sei.

      Ende