Jürgen H. Ruhr

Reise - Begleitung


Скачать книгу

Schlimmer noch als die schwere Last, war der schiefe Gesang des Betrunkenen zu ertragen. Birgit schien dies eher lustig zu finden, aber sie musste ja auch nicht tragen helfen. Als sie dann noch ein Foto mit ihrem Handy von uns machen wollte, erklärte ich ihr mit harschen Worten, dass dies doch bestimmt nicht ihr Ernst sei. Mit einem gespielten Schmollen steckte sie das Handy wieder ein. „Das hätte sich gut in meiner Sammlung gemacht. Und natürlich auf Facebook“, grinste sie.

      „Untersteh‘ dich. Das würde uns gerade noch fehlen, auf diese Art und Weise veröffentlicht zu werden.“ Dann fiel mir ein weiteres, wesentlich gewichtigeres Argument ein: „Außerdem solltest du die Verschwiegenheitsklausel in deinem Vertrag einmal genauer lesen. Danach darfst du nicht einmal einen Facebookaccount oder Ähnliches besitzen!“ Christine nickte: „Das ist kein Scherz, Birgit. Hier geht es um unsere Sicherheit, denn die Jobs, die wir erledigen, sind nicht ungefährlich.“ Dann lachte sie: „Aber das hast du ja heute am eigenen Leib erlebt ...“

      Birgit nickte ernst. „Vermutlich habt ihr Recht. Ich werde mich gleich morgen darum kümmern.“ - „Nicht nur vermutlich“, bestätigte ich, „sondern ganz bestimmt.“

      Mittlerweile steuerten wir auf den Parkplatz zu. Wir befanden uns kurz vor der Einfahrt. „Kannst du mich einmal kurz ablösen?“, fragte Chrissi und sah Birgit fragend an. „Ich gehe dann schon zum Wagen vor.“ - „Kein Problem, den Opa kriegen wir schon geschaukelt“, lachte Birgit. Weser blickte beim Wort ‚Opa’ auf, sah sich irritiert um und nutzte die Gelegenheit, als Chrissi ihren Griff lockerte, um sich komplett loszureißen. Mir entfuhr ein ‚Scheiße’, dann blickte ich Weser besorgt hinterher, der jetzt über die Straße torkelte. Dummerweise näherten sich mit ziemlich hoher Geschwindigkeit zwei Scheinwerfer, die ein großes Fahrzeug dahinter vermuten ließen. Den Bruchteil einer Sekunde ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass das kommende Unglück alle meine Weser - Probleme beheben würde, dann stürmte ich aber automatisch hinter dem dicken Alten her.

      Eine Sekunde später als Christine, die schneller reagierte als ich. Mit einem riesigen Sprung erreichte sie den Mann, gab ihm den rettenden Stoß und sauste Sekunden später von der riesigen Stoßstange des Fahrzeuges erfasst durch die Luft. Bremsen kreischten, dann gab der Fahrer des Wagens Vollgas und raste mit quietschenden Reifen davon.

      Weser, durch den Stoß zu Fall gekommen, rappelte sich gerade wieder auf und glotzte blöd in der Gegend herum. Ich rannte zu Christine. „Chrissi, alles in Ordnung?“ Das Mädchen lag mit dem Gesicht auf der Straße, das rechte Bein merkwürdig abgewinkelt. Jetzt war auch Birgit heran. „Einen Krankenwagen, schnell“, befahl ich ihr. „Schon unterwegs.“ Das Mädchen war wirklich auf zack. Vorsichtig nahm ich Chrissi hoch und trug sie zum Gehweg. Dabei achtete ich besonders auf ihr gebrochenes Bein; aber auf der Straße hier konnte sie ja auch nicht liegen bleiben. Ich kniete neben meiner Kollegin und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann fühlte ich den Puls und seufzte dankbar auf.

      „Wwwasss isch n passschiert?“, nuschelte eine Stimme neben mir und ich blickte in das dümmliche Grinsen Wesers. Sekunden später lag der alte Mann neben Chrissi auf dem Pflaster und ich rieb mir die Fingerknöchel.

      „Christine, hörst du mich?“ Vorsichtig streichelte ich ihr über das Gesicht und betrachtete dabei ihren Kopf. Keine Anzeichen eines Schädelbruches, das Gesicht zeigte allerdings eine ganze Anzahl an Kratzern von der Landung auf dem Asphalt. „Wo verdammt bleibt der dämliche Krankenwagen?“, schrie ich und blickte Birgit fragend an.

      „Jonathan, es sind erst zwei Minuten seit meinem Anruf vergangen“, erklärte sie. Birgit kniete jetzt ebenfalls neben Christine und hielt ihre Hand. Mir kam das Ganze wesentlich länger vor, alles schien in Zeitlupe abzulaufen. Dann endlich hörte ich die Sirene.

      Birgit kümmerte sich um Weser. Als die Sanitäter einen zweiten Krankenwagen rufen wollten, winkte sie ab: „Der ist nur betrunken. Ich bringe ihn nach Hause.“ Von all dem bekam ich allerdings nicht viel mit. Weser war mir scheißegal. Dennoch erklärte ich Birgit wohl, wo der Mann wohnte, bevor ich zu Christine in den Krankenwagen stieg. „Mädchen, bleib’ bei uns, wir brauchen dich doch“, redete ich auf die Bewusstlose ein. Auch wenn sie mich nicht hören konnte, so musste ich jetzt einfach ein paar Worte loswerden. Das beruhigte mich und vielleicht half es ihr ja, meine Stimme zu hören.

      Dann saß ich im Krankenhaus in einem Wartezimmer und wartete. Die Situation vor dem Parkplatz ging mir immer und immer wieder durch den Kopf. Hin und wieder keimten Mordgedanken an Weser in mir auf, doch ich wusste, dass ich den Alten nicht zur Rechenschaft würde ziehen können. Der Schlag mit der Faust war schon zu viel des Guten und ich schämte mich, dass ich mich in dem Moment so wenig unter Kontrolle gehabt hatte.

      Die Zeit verging und mit jeder verstreichenden Minute wurde meine Angst größer. Warum dauerte das so lange? Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass gut eine Stunde vergangen war. Wie schwer war das Mädchen verletzt? Vor meinem Auge spielte sich die Szene auf der Straße ab. Der Stoß, der Weser vom Wagen weg beförderte. Die kreischenden Bremsen, der dumpfe Aufprall. Chrissi am rechten Bein von der übergroßen Stoßstange erfasst. Wie sie dann durch die Luft flog und ihre instinktive, durch jahrelanges Krav Maga geübte, Reaktion, sich beim Aufprall mit den Armen zu schützen.

      Der Wagen! Dieses Schwein hatte Fahrerflucht begangen. Der Mann musste eindeutig zu schnell unterwegs gewesen sein. Die Farbe schwarz oder dunkelblau, bei der Dunkelheit war das nicht zu erkennen gewesen. Auch nicht der Fahrzeugtyp oder gar das Kennzeichen. Ich seufzte auf und blickte wieder einmal auf die Uhr. Anderthalb Stunden.

      Irgendwann musste ich trotz allem eingenickt sein, denn plötzlich fasste mich jemand an der Schulter. „Warten sie auf einen Arzt? Sind sie verletzt?“ Die Schwester sah mich mitfühlend an. „Oder wollen sie hier nur die Nacht verbringen? Im Trockenen und Warmen?“

      Ich schüttelte den Kopf. „Ich warte wegen Frau Weru hier. Die wurde heute Abend eingeliefert.“ - „Heute Abend? Sie meinen gestern Abend. Wir haben fünf Uhr morgens. Meine Frühschicht beginnt gleich und ich kam hier zufällig vorbei. Hat man sie vergessen?“

      Fünf Uhr morgens? Ich blickte auf die Wanduhr und fand ihre Worte bestätigt. War Christine tot? Ich hatte dem Sanitäter doch ausdrücklich gesagt, dass ich hier warten würde und man mir unbedingt mitteilen sollte, wenn es Neuigkeiten gab. Gab es nun keine Neuigkeiten? Chrissi war tot. Anders konnte es nicht sein. Angefahren von einem Verkehrsrowdy und das durch die Schuld eines alten Säufers. Ich spürte, wie eine Träne meine Wange herunterlief. Christine, die vor Jahren als meine Sekretärin begonnen hatte und mit der ich schon zahlreiche Abenteuer erlebte. Christi...

      „Hallo, sind sie wieder eingeschlafen?“, fragte die Frau. „Kommen sie doch einmal mit. Wir schauen, ob wir etwas über ihre Frau Wedu herausfinden können.“

      „Weru“, korrigierte ich und trottete hinter ihr zur Rezeption.

      „Frau Weru liegt auf Zimmer zweihundert und elf“, erfuhr ich nach einigen Minuten und mir fiel ein Stein vom Herzen. Wenn das nicht gerade die Pathologie war, musste Chrissi leben.

      „Wie geht es ihr?“ - „Den Umständen entsprechend gut.“ Komisch, dieser nichtssagende Satz munterte mich auf. Irgendwie realisierte ich ja auch nur das letzte Wort ‚gut’. Chrissi ging es gut! Wunderbar. „Kann ich zu ihr?“

      Die Dame hinter der Rezeption sah mich fragend an: „Sind sie ihr Ehemann? Oder mit ihr verwandt?“ - „Ich bin ihr Arbeitskollege - und Freund“, erklärte ich.

      „Wir haben zwar keine festen Besuchszeiten“, meinte die Frau, „aber vielleicht können sie zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen? Jetzt schlafen unsere Patienten noch. Kommen sie doch um neun oder so wieder.“

      Ich nickte. Das machte Sinn. Aber ich musste unbedingt genau wissen, wie es Chrissi ging. Man hatte mich nun lange genug warten lassen, vergessen quasi, und die Pauschalaussage, dass es ihr ‚gut’ ging, reichte mir natürlich nicht. „Kann ich denn mit jemandem sprechen, der Bescheid weiß, was Frau Weru fehlt?“, versuchte ich es erneut. Irgendwie musste doch ein Weg zu ihr führen.

      „Ruhe fehlt ihr. Und der behandelnde Arzt ist auch noch nicht im Haus. Gedulden sie sich! Außerdem bin ich nur vertretungsweise hier,