Jürgen H. Ruhr

Reise - Begleitung


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abzuzählen. Schließlich blickte sie auf: „Tja, ich weiß nicht. Der Chef war noch nie so ... Das letzte Mal, als ich ihn nach einem Vorschuss fragte, sagte er, ich solle ihm einen blasen. So könnte ich mir einen Zwanziger verdienen.“ - „Und, hast du?“ - „Natürlich nicht. Für nen Hunderter vielleicht aber nicht für zwanzig. Ich habe ihm dann klar und deutlich gesagt, was er sich selbst kann.“

      Agnes lachte. „Recht so. Das fette Schwein würde ich auch nicht über mich lassen. Nicht für zwanzig oder dreißig Euro.“ - „Aber vierzig, was?“

      Beide Frauen schwiegen wieder eine Weile. Ich hockte unbequem hinter meiner Deckung und wünschte mir, die beiden würden endlich verschwinden. Allmählich schliefen mir meine Beine ein und ich wagte es nicht, mich zu bewegen.

      „Und? Soll ich nun fragen oder nicht?“ Agnes schien immer noch unschlüssig. Aber die andere Frau zuckte nur mit den Schultern. „Versuch’s doch einfach. Mehr als ‚nein’ sagen kann er auch nicht. Oder er macht dir ein gutes Angebot, was ich aber nicht glaube.“ Sie lachte meckernd. Agnes hob unschlüssig die Hände, klopfte dann aber an die Tür. Von drinnen war ein unwirsches ‚Was ist denn?’ zu hören. Agnes trat in den Raum, ließ aber die Tür offen. Vielleicht erhoffte sie sich von ihrer Kollegin Rückendeckung.

      „Was ist denn, verdammt? Ich habe zu tun!“ - „Chef, ich wollte fragen, also ich ...“ - „Was? Raus mit der Sprache. Ich habe nicht ewig Zeit!“

      Agnes schien einmal tief durchzuatmen und so Mut zu fassen. „Ich wollte fragen, ob ich einen Vorschuss haben kann. Ich ha...“

      Krachend schlug eine Hand auf die Schreibtischplatte. „Vorschuss? Ich höre Vorschuss! Wie kommst du denn auf diese blödsinnige Idee? Seit wann gebe ich einen Vorschuss?“ Agnes schien ein wenig eingeschüchtert zu sein, denn ihre Stimme klang nun ziemlich kleinlaut: „Also, Chef. Ich dachte ja nur, weil du dem Paul so geholfen hast. Deswe...“

      Wieder krachte eine Faust auf den Schreibtisch. „Ich helfe niemanden. Das musst du dir mal klarmachen! Denkt ihr alle, ich wäre die Heilsarmee? Kann ich Gold scheißen? Wenn du Geld haben willst, dann kannst du mir einen blasen. Kriegst zehn Euro dafür ...“ - „Nur zehn Euro? Die Gerda sollte zwanzig kriegen.“

      In dem Büro herrschte Stille. Ich konnte sehen, wie die Kollegin Gerda grinsend dastand. Dann donnerte plötzlich die Stimme des Chefs auf: „Wieso habe ich dem Paul geholfen? Wer behauptet das?“ Agnes schien noch mehr eingeschüchtert. Leise und piepsend, so dass ich sie kaum noch verstehen konnte, drang ihre Stimme durch die Tür: „Aber du hast den Paul doch in die sichere Liegelage gelegt. Den Paul, der ohnmächtig vor der Tür liegt.“

      Jetzt plötzlich klang die Stimme des Chef ruhiger und er fragte: „Ich den Paul in was gelegt?“ - „Sichere Liegelage, so was lernt man beim Führerschein.“ - „Du meinst doch nicht die stabile Seitenlage?“ - „Keine Ahnung. Gerda sagt, das heißt ‚sichere Liegelage’.“

      „Verdammt, ich habe den Paul nicht in irgendeine Lage gedreht. Das muss einer von euch gewesen sein.“ - „Nein, das war keiner von uns. Paul lag die ganze Zeit alleine hier vor der Tür. Genau dort, wo Sanurski ihn hat fallen lassen.“

      Wieder folgte eine kurze Denkpause, dann stieß der Chef zischend die Luft aus: „Ihr wart es nicht, Bokowski und Sanurski waren es nicht und ich war es ganz bestimmt nicht. Wer also um alles in der Welt hat Pönkel dann so hingelegt?“ Schweigen. Eine längere Pause. Endlich schien der Groschen zu fallen: „Verdammt, verdammt. Alarmiere die anderen. Wenn Paul von keinem von uns umgedreht wurde, dann muss ein Fremder in der Halle sein. Oder kann Paul sich selbst so gedreht haben?“ - „Nein, der ist ja ohnmächtig und blutet.“

      Ich bekam ein ganz schlechtes Gefühl in der Magengegend. Gerda, die die Dialoge aus sicherer Entfernung mitangehört hatte, stürzte schon davon. In die Richtung, in der ich Sanurski und Bokowski vermutete. Sekunden später folgte ihr Agnes und es vergingen lediglich drei weitere Sekunden, dann stand der Chef in seiner ganzen Fülle im Türrahmen. In der Hand hielt er seinen Revolver. Suchend blickte er in die Halle. Ich duckte mich noch etwas tiefer. Es würde nicht lange dauern und die Gangster dürften mich nach einer kurzen Suche in meinem Versteck finden. Ich verfluchte meine Hilfsbereitschaft, die mich jetzt in außerordentliche Schwierigkeiten brachte.

      Nur Minuten später kamen die beiden Frauen mit den Männern angetrabt. Bokowski hielt die Ruger in der Hand, fuchtelte damit nervös herum und ich konnte unschwer erkennen, dass sich eine Patrone in der Kammer befand. Vermutlich war die Waffe auch nicht gesichert.

      Ich sah mich nach einer Fluchtmöglichkeit um, würde aber nicht unentdeckt bis zur Türe kommen. Zwischen nebeneinanderstehenden Paletten befanden sich immer wieder Lücken. Deckungsfreie Zonen, durch die ich wohl oder übel gelangen musste.

      Der Fette hatte sich angesichts der drohenden Gefahr jetzt auf das Flüstern verlegt und gab seinen Mitarbeitern Instruktionen. Dabei ließen die fünf ständig die Blicke schweifen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie mich entdecken würden. Ich beschloss die Flucht nach vorne. Vielleicht konnte ich so Zeit gewinnen.

      Grinsend erhob ich mich hinter dem Stapel, die Hände in Schulterhöhe. „Hier bin ich“, rief ich und löste damit eine Welle von Reaktionen aus. Die Frauen kreischten erschreckt auf, der Chef drehte sich in Zeitlupe um und Sanurski rempelte vor Schreck den ebenso verblüfften Bokowski an. Der machte eine halbe Drehung, wobei sich ein Schuss aus der Ruger löste. Durch das Krachen vernahm ich einen weiteren entsetzen Aufschrei der Frauen.

      Der Fette wurde herumgewirbelt und an seiner Schulter erschien ein Blutfleck, der sich rasch vergrößerte. Der Revolver fiel aus seiner Hand scheppernd zu Boden und der Chef sackte an der Wand neben der Tür zusammen. Mit stieren Blick auf seine Schulter begann er hemmungslos zu schluchzen. Der Revolver rutschte noch ein Stück über den Boden und lag dann still da. Das war meine Chance. Sanurski und Bokowski blickten entsetzt auf ihren Chef, wobei ihnen schlagartig das Blut aus den Gesichtern wich. Mir war nicht ganz klar, ob sie wegen des Treffers selbst oder der Konsequenzen, die diese Verletzung des Fetten nach sich ziehen würde, so reagierten.

      Jedenfalls handelte ich. Mit einem Hechtsprung über eine gefüllte Palette und anschließender Kampfrolle landete ich genau neben dem Revolver. Fast gleichzeitig mit dem Ende der Rolle hielt ich die Waffe auch schon in der Hand. Mich langsam aufrichtend, zielte ich auf den Mann mit der Ruger, Bokowski. „Waffe fallen lassen, sofort!“, rief ich in scharfem Ton. „Und keine Bewegung. Von niemandem.“

      Klirrend fiel die Ruger zu Boden. Gut, dass die Pistole über eine Sicherung verfügte, die verhinderte, dass sich beim Herunterfallen ein Schuss löste.

      „Die Hände über den Kopf - alle. Sofort!“, rief ich wieder laut und einschüchternd. Die Gangster folgten ohne zu zögern meinem Befehl. Lediglich der fette Chef reagierte nicht und sah mich mit jämmerlichen Blick an. Und natürlich Pönkel, der immer noch ohnmächtig in seiner stabilen Seitenlage verharrte.

      „Los, ihr stellt euch jetzt direkt neben euren Chef, so dass ich euch alle im Blick habe. Gibt es hier einen Verbandskasten?“, fragte ich anschließend.

      „Im Büro ist einer“, stöhnte der Fette.

      Ich nickte und zeigte mit der Waffe auf die Frau namens Agnes: „Du gehst jetzt in das Büro und besorgst Verbandszeug. Und komme nicht auf dumme Gedanken. Ich kann mit dem Revolver hier umgehen und ich würde nicht zögern zu schießen.“ Dann grinste ich sie an: „Auch auf Frauen, da habe ich gar keine Hemmungen.“

      Agnes nickte. Ich sah ihr an, dass sie keinen Ärger machen würde. Sie hatte viel zu viel Angst und schien mit der Situation völlig überfordert. Die Einzigen, die mir Sorgen bereiten sollten, waren der fette Chef und dieser Paul Pönkel. Und die waren beide außer Gefecht gesetzt.

      Agnes kam auch nach wenigen Minuten mit einem ziemlich neuen Verbandskasten zurück. So einer, wie er in Fahrzeugen Benutzung findet. „Los, du verbindest jetzt deinem Chef den Arm. Leg’ den Verband aber richtig fest an, um die Blutung möglichst zu stillen. Das wirst du doch wohl können.“

      Agnes nickte zögerlich, machte sich aber sofort ans Werk. Derweil überlegte ich mir, wie ich die