L.U. Ulder

Taubenzeit


Скачать книгу

zu haben.

      „Los, gib Gas. Wir müssen dichter ran, sonst verlieren wir sie im Gedränge.“

      „Ich kann doch nicht laufen mit dir im Rollstuhl, sieh zu, dass du sie nicht aus den Augen verlierst.“

      „Warum nicht? Zwei verrückte Weiber, die mitten in der Stadt für die Paralympics trainieren.“

      Die Zielpersonen passierten den Pavillon. An der Straßengabelung blieben sie stehen. Auf Valerie wirkte es, als wären sie unschlüssig, wie es weitergehen sollte. Aber sie schauten sich nur verliebt in die Augen, schmiegten sich noch enger aneinander und bogen in die nach rechts abgehende Straße. Die Verzögerung gab Valerie und Anna Gelegenheit, näher aufzurücken. Nach wenigen Metern überquerte das Pärchen die Fahrbahn und verschwand mit schnellen Schritten im Eingang des nächsten Hotels.

      Anna sah von unten zu Valerie auf.

      „Stil scheint er immerhin zu haben. Der große Showdown findet also im Vierjahreszeiten statt. Wollen wir uns auch mit in die Lobby setzen und zuschauen, wie ihm die fünfte Jahreszeit bekommt?“

      Valerie antwortete nicht, sie hatte bereits das Handy am Ohr, mit dem sie die betrogene Ehefrau instruierte.

      „Nein.“

      „Wir warten noch einen Augenblick, damit die beiden nicht wieder verschwinden. Seine Frau ist in einer Viertelstunde da. Dann hauen wir ab. Gleich kommt Nele mit Zoè vom Turnen zurück. Heute habe ich endlich mal wieder mehr Zeit für sie. Wir könnten zusammen etwas unternehmen. Hast du auch Lust?“

      „Ich dachte schon, du fragst nicht mehr.“

      Kapitel 6

      „Anna, Anna.“

      Zoè konnte es kaum abwarten, bis Valerie endlich die Tür aufgeschlossen hatte. Sie zwängte sich durch die entstehende Öffnung, stürmte wie ein Wirbelwind durch den Flur, umrundete im Wohnzimmer den Arbeitsbereich und lief in den Fitnessraum, in dem sie Anna vermutete. Auf dem Nachhauseweg hatte sie ihre im Kindergarten selbst gebastelte Papierblume stolz wie eine Trophäe getragen und wollte sie so schnell wie möglich präsentieren. Ihre Augen und ihr Mund öffneten sich enttäuscht, als sie in den leeren Raum schaute.

      „Hier bin ich, Prinzessin.“

      Anna kam aus dem Bad in den Flur gerollt.

      „Die Physiotherapeutin musste etwas eher weg, ich habe schon ...“, sie wollte wohl geduscht sagen, aber dazu kam sie nicht mehr.

      „Anna.“

      Zoè sprang mit soviel Schwung auf ihren Schoß, dass der Rollstuhl ein Stück zur Seite wegdrehte. Das Handtuch, das sie um ihre nassen Haare geschlungen hatte, löste sich und glitt auf den Boden.

      „Wow, ist das toll. Hast du das ganz allein gemacht?“

      Sie schaute sich die Blume ganz genau von allen Seiten an, während Zoè stolz nickte.

      Valerie beobachtete amüsiert die Szene und hob das Handtuch auf. Die beiden verstanden sich wunderbar, ohne irgendwelche Anlaufschwierigkeiten hatte sich die Kleine in das Leben der beiden Frauen eingefügt, als wäre es niemals anders gewesen. Besonders der Rollstuhl hatte es Zoè angetan. Anna drehte ihn so schnell um die eigene Achse, dass Zoè sich fest an sie drücken musste, sie quietschte vor Vergnügen.

      „Hört mal, ihr beiden. Ich muss Anna und mir jetzt etwas zu Essen machen.“

      „Und mir.“

      „Nein Zoé, du hast schon im Kindergarten gegessen.“

      „Ich will aber auch noch was essen.“

      „Du bekommst von mir ein bisschen Salat ab.“

      „Au ja, Anna. Dreh wieder, bitte bitte.“

      „Wie ist es mit der Physiotherapeutin gelaufen?“

      „Wie immer. Sie hat mich gequält, bis mir der Schweiß in Strömen gelaufen ist, aber gebracht hat es gar nichts.“

      „Es wird schon noch etwas bringen. Du musst Geduld mitbringen, das dauert eben. Wenn du Gefühl in den Beinen hast, ist das doch ein gutes Zeichen.“

      „Wenn morgens die Sonne scheint, ist das auch ein gutes Zeichen. Trotzdem kann es noch ein Scheißtag werden. Und jetzt lass Zoè und mich noch ein bisschen rumtoben.“

      Wieder abgewürgt. In den letzten Wochen war Valerie aufgefallen, dass Annas Motivation für ihre Trainingseinheiten nachließ. Außerdem wich sie jedem Gespräch dazu aus. Entweder zog sie alles ins Lächerliche oder sie blockte von vornherein ab.

      Nachdenklich verschwand sie in der Küche, bereitete einen Salat vor und backte ein Baguette auf.

      „He ihr Beiden, wir können essen.“

      Zoè befand sich immer noch auf Annas Schoß, als sie um die Ecke gerollt kamen.

      „Wir sind heute Abend bei Gesi und Thore eingeladen, hast du daran gedacht?“

      „Ja, natürlich“, antwortete Anna mit vollem Mund.

      „Ich würde Zoè gern mitnehmen. Was meinst du? Wenn sie müde wird, legen wir sie bei Gesi ins Bett. Ich möchte nicht schon wieder einen Babysitter für sie suchen. Schon gar nicht in dieser Phase.“

      Sie warf Anna einen vielsagenden Blick zu. Die nickte nur beiläufig und ließ sich nicht beim Essen stören.

      „Und vorher wollte ich mit Zoè noch auf den Spielplatz gehen, kommst du mit?“

      Zoè klatschte begeistert in die Hände.

      „Nein, ich hab noch etwas vor“, antwortete Anna, wieder mit vollem Mund.

      „Was denn?“

      „Ich treffe jemanden, an der Alster.“

      „Wen denn, wenn ich fragen darf?“

      „Jemanden, den ich kennengelernt habe.“

      „Oh, wo hast du denn jemanden kennengelernt?“

      „Im Chat. Das wolltest du doch hören, oder?“

      „Genau, das wollte ich hören. Sag mal Zoé, wo ist eigentlich deine Papierblume? Willst du sie nicht holen, damit wir sie hier auf den Tisch in eine Vase stellen können?“

      „Oha, die Inquisition beginnt“, raunte Anna, nachdem Zoè verschwunden war.

      „Bist du noch zu retten? Das Jugendamt schleicht hier ein und aus und du willst dich mit irgendeinem Fremden treffen. Zoè schnappt doch alles auf, und wenn die Frau beim nächsten Mal mit ihr spricht, wird sie alles brühwarm weitererzählen.“

      „Das ist doch nur eine lockere Bekanntschaft, nichts weiter, nix Streichelzoo oder Jugend forscht. Du hast doch selbst gesehen, wie die Jugendamtstante darauf reagiert hat, dass hier keine Männer sind, die irgendwie prägend für Zoè sein könnten. Da kann ein Mann wohl nicht schaden. Und bevor du jetzt weiter fragst, ja, ich habe ihm verraten, dass ich einen Stubenporsche fahre.“

      Valerie lehnte sich zurück und schaute die Freundin nachdenklich an. Die Vereinbarung zwischen ihnen war eine Wohngemeinschaft und seit dem Missverständnis beim Rechtsanwalt das Vorgeben einer Lebensgemeinschaft, bis Zoès Adoption endlich in Sack und Tüten war. Sie verlangte viel von Anna, dessen war sie sich bewusst. Konnte sie von ihr verlangen, dass sie sich völlig vom Leben zurückzog?

      „Okay, aber mach ihm klar, dass wir lesbisch sind und du eigentlich nicht auf Männer stehst. Damit er gar nicht erst auf dumme Gedanken kommt.“

      „Kommt er schon nicht. Er ist supernett, wirst schon sehen. Ich habe eine Bitte an dich. Komm nach ungefähr einer Stunde mit Zoè nach. Die Zeit reicht aus, um ihn einschätzen zu können. Danach entscheide ich dann, ob ich ihn überhaupt noch einmal sehen muss.“

      ****

      Am Nachmittag spazierte Valerie