L.U. Ulder

Taubenzeit


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dem Alsterpavillon kamen, umso angespannter und unruhiger wurde Valerie. In Sichtweite zur Außenterrasse blieb sie stehen und lehnte sich an das Geländer.

      So unauffällig wie möglich hielt sie Ausschau nach Anna und ihrer neuen Bekanntschaft.

      Wegen des frühsommerlichen Wetters waren alle Tische besetzt, es herrschte ein geschäftiges Gedränge auf der Terrasse. Endlich, ganz am Rand des Außengeländers, entdeckte sie die Freundin. Zoè war immer noch ganz in ihr Eis vertieft, sie schien noch nicht einmal registriert zu haben, dass sie stehengeblieben waren.

      Der Mann an Annas Tisch drehte ihr den Rücken zu, er war schlank und breitschultrig, seine Figur die eines Sportlers. Das dunkelblonde, kurz geschnittene Haar war gegelt, an den Seiten wirkte es stachelig, beinahe wie bei einem Igel. Er trug eine Jeans und ein dunkelblaues Poloshirt, ein sandfarbenes Sakko hing über den freien Stuhl an ihrem Tisch.

      Anna hatte eine schwarze Bluse angezogen, sie wirkte schmal, schlanker als sonst.

       Hat sie abgenommen? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.

      Jetzt fiel Valerie auch wieder ein, dass die Freundin am Tag zuvor unbedingt noch zum Friseur musste. Der Bob, den sie sich schneiden ließ, stand ihr sehr gut. Der Schnitt und die dunklen Haare betonten ihre großen Augen und ihren Schmollmund. Attraktiv und selbstbewusst saß sie in ihrem Rollstuhl und schien sich angeregt zu unterhalten. Ihre Körpersprache ließ nur einen Schluss zu, der Mann war ihr überaus sympathisch.

       Sie himmelt ihn ja richtig an.

      Valerie verspürte einen Stich bei dem Gedanken, dass sie das Geschehen vor über zwei Jahren nicht hatte verhindern können.

      Zoès Eis war aufgeschleckt, sie zupfte an Valeries Arm, augenblicklich kehrte sie in die Realität zurück.

      „Schau mal Zoé, da hinten ist Anna.“

      Sie hob die Kleine hoch, weil sie nicht über die Brüstung schauen konnte und zeigte mit der freien Hand in Richtung der Terrasse.

      Begeistert jauchzte die Kleine, obwohl Valerie bezweifelte, dass Zoè Anna überhaupt erkannt haben konnte. Das Mädchen strampelte und wand sich, bis endlich die kleinen Füßchen den Boden berührten. Augenblicklich stürzte sie los. Valerie erwischte im allerletzten Moment einen Zipfel der Kleidung, damit sie nicht entwischen konnte, und wurde dafür von der Kleinen durch den schmalen Gang zwischen den Stuhlreihen gezogen. Auf den letzten Metern war das Kind nicht mehr zu halten, Zoè riss sich los und stürzte laut rufend auf Anna zu.

      Als Valerie den Tisch erreichte, saß die Kleine bereits auf Annas Schoß. Sie tobte nicht mit ihr wie sonst, sondern starrte neugierig auf den fremden Mann, der mit am Tisch saß.

      „Hallo Süße“, sagte Valerie und beugte sich zu Anna hinunter. Die Freundin hielt ihr die Wange hin, sie aber machte eine schnelle Bewegung mit dem Kopf und küsste ihr mitten auf den Mund. Weil sie sich dabei mit beiden Händen an den Armlehnen des Rollstuhls festhielt und gegen sie drückte, spürte Valerie zwar den Widerstand, den Anna aufbaute, ausrichten aber konnte die nichts. Ein leidenschaftlicher Kuss zwischen zwei Liebenden, so musste es auf jeden Beobachter wirken.

      Als ihre Münder sich trennten, lächelte Valerie triumphierend, wohl wissend, dass der Mann am Tisch nur ihren Hinterkopf sehen konnte. Annas Augen sprühten giftige Blitze und funkelten die Freundin für einen winzigen Augenblick an, bevor sich der Gesichtsausdruck wieder entspannte.

      „Das ist übrigens Stefan, Valerie – Stefan“, sagte sie in bewundernswert liebenswürdigem Ton. Die rechte Hand unterstrich die Vorstellung, mit der linken wischte sie verstohlen über die Lippen.

      „Guten Tag, Stefan.“

      Der Händedruck war sympathisch kräftig, stellte Valerie fest. Genauso sympathisch wie sein markantes Gesicht mit dem gewinnenden Lächeln.

      „Er ist übrigens auch ein Bulle.“

      „Ein Bulle. Ein Bulle“, krähte Zoè fröhlich dazwischen.

      „Anna! Denk bitte an deine Wortwahl. Zoè plappert alles nach. Außerdem bin ich nicht mehr im Dienst.“

       Und ein Bulle hat mir gerade noch gefehlt.

      „Das habe ich ihm alles schon erzählt, auch, dass du vorher noch ein Jahr bei Europol in Den Haag warst.“

      „Und? Bist du sicher, dass du nichts ausgelassen hast?“ Jetzt funkelten Valeries grüne Augen.

      Stefan stand grinsend auf und streifte sein Sakko über.

      „Ich lass euch jetzt besser allein, muss sowieso noch etwas erledigen. Wir sehen uns.“

      Die letzten Worte waren an Anna gerichtet. Er unterstrich sie, indem er wie auf einer imaginären Tastatur mit den Fingerspitzen Wörter tippte. Die beiden Frauen starrten ihm nach, wie er sich seinen Weg durch das Gedränge bahnte, bis er auf die Kellnerin stieß. Er gestikulierte mit ihr und zeigte auf den Tisch, an dem er eben noch gesessen hatte. Am Ende drückte er der Frau Geld in die Hand und war aus ihrem Blickfeld verschwunden.

      Valerie und Anna erwachten aus ihrer Starre. „Das hast du ja toll hinbekommen. Keine fünf Minuten und du hast den nettesten Mann, den ich seit Langem kennengelernt habe, weggebissen wie ein Terrier.“

      „Ach. Ich dachte, ich sollte nach einer Stunde kommen und Anstandswauwau spielen.“

      „Wauwau ja, aber nicht gleich Kampfhund. Und was sollte das mit dem Kuss? Hätte nur noch gefehlt, dass du mir deine Zunge in den Hals gesteckt hättest.“

      „Ich war drauf und dran“, grinste Valerie.

      „Dann hätte ich sie dir abgebissen, darauf kannst du wetten.“

      „Und ich könnte darauf wetten, dass du ihm noch nichts von uns erzählt hast.“

      „Soweit bin ich noch nicht gekommen, eine Stunde gibt ja nicht viel her.“

      „Aber du hättest es vielleicht vorher schon mal schreiben können. Na ja, jetzt weiß er es. Lass uns nach Hause fahren.“

      „Der meldet sich bestimmt nie wieder, und er war so in Ordnung, richtig lieb.“

      „Du bist lesbisch und launisch, sitzt im Rollstuhl und hast schlechte Manieren. Wenn der sich wieder meldet, ist er wirklich in Ordnung. Aber musste es ausgerechnet ein Bulle sein?“

      „Ach Valli, wer eine Freundin hat wie dich, braucht keine Feinde mehr.“

      Sie blieben noch eine Weile auf der Terrasse sitzen und genossen die Sonnenstrahlen, wobei Valerie genoss, während Anna vor sich hin muckelte. Auch auf dem Weg zu Gesine und Thore blieb sie ungewöhnlich ruhig, erst während des Abendessens taute sie wieder auf und stellte die Schmollphase ein.

      Gesine war neben Anna Valeries engste Freundin. Die knapp fünfzigjährige Erste Kriminalhauptkommissarin leitete das 3. Kriminalkommissariat, zuständig für Betrugsdelikte. Die beiden Frauen hatten sich in Vallis aktiver Zeit als verlässliche Kolleginnen kennen und schätzen gelernt und daraus eine tiefwährende Freundschaft entwickelt.

      Zoè schlief bereits tief und fest in Gesis Bett.

      Deren Lebensgefährte Thore, der Wissenschaftsjournalist mit dem riesigen, gezwirbelten Schnurrbart, schenkte Rotwein nach. Gesi stand auf, um eine Flasche Mineralwasser aus der Küche zu holen. Valerie erhob sich und folgte ihr.

      „Die beiden haben wieder etwas zu tuscheln“, mutmaßte Anna, als sich die Tür hinter ihnen schloss.

      „Natürlich, jetzt werden wieder illegal beschaffte Daten ausgetauscht, was denn sonst. Dafür brauchen sie keine Zeugen.“

      Er kniff ein Auge zu und der graumelierte Schnurrbart wackelte wie ein Hundeschwanz.

      „Hier, sieh mal!“

      Mit der ausgebreiteten Tageszeitung raschelte er vor Annas Gesicht.

      „Hast du das gelesen? Ist gleich um die Ecke in unserer Nachbarschaft passiert.“

      Anna