Stefan Sprang

"Kriegt wer wen?" – Vom Ende im Anfang der Liebe


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Ich schreibe „Super!“ auf den Rand meines Heftes und schiebe es in ihre Richtung. Brandi liest, schaut auf – und dieses Mal lächeln auch ihre Augen. Aber ich, ich kann nicht zeichnen, kann nicht Gitarre spielen wie Sascha, der Schönäugige, bin nicht sehnig und kräftig wie Jens, der Athletische.

      Geduldig warte ich auf den Tag, an dem wir unseren Klassenausflug machen, nach Trier.

      Die Wetteraussichten: Die Bewölkung nimmt zu. Am Nachmittag Schauer bei zehn bis fünfzehn Grad. Der Wind kommt aus Ost bis Nordost und ist überwiegend mäßig. Weitere Aussichten: überwiegend stark bewölkt und kühler.

      „Kanada“ sitzt in der rechten Reihe vor mir am Fenster, neben Alexander, dem Adligen. Neben mir Ulli, das Tittenwunder. Die hat ihre Haare zu einem blonden Kranz geflochten; ein Bauernmädchen, auf den Wangen ein Rot wie aus einem ganzen Korb Erdbeeren. Das Holz vor ihrer Hütte, es reichte für mehr als einen Winter. Aber ich träume von anderen Jahreszeiten. Ich beuge mich vor und sehe zwischen den Sitzen hindurch: Alexanders Profil. Lange Buckel-Nase, verschlafener Blick. Er ist der junge Mann auf dem Zehn-Mark-Schein. Seine blonden Locken trägt er allerdings deutlich kürzer. Niemals geht er ohne sein dunkelblaues Sportsakko aus dem Haus. Seine Stimmung erkennt man daran, ob er den obersten Knopf seines weißen Hemdes geschlossen hat oder nicht. Alexander, der Adlige, hat den Knopf offen gelassen. Er redet auf Brandi ein, in perfektem Englisch. Er hat Verwandte in Yorkshire.

      Der einzige Satz, der mir in diesem Moment einfällt: „When the sun set in the east, King George was killed by an arrow in his eye.“

      Was ich könnte: den Anfang der „Odyssee“ im Original zitieren, über den Helden, den Listenreichen, dem vieles geschah, nachdem Troja fiel. Hat man in Kanada Altgriechisch auf dem Stundenplan? Worüber würde ich mit Brandi sprechen? Was hält sie von den amerikanischen Raketen, die bei uns aufgestellt werden sollen?

      Vielleicht will sie allein bleiben unter ihrem wolkenlosen Himmel, denn sie antwortet Alexander, dem Adligen, kaum – und sagt nach ein paar Minuten mit pädagogischer Ernsthaftigkeit: „Bitte rede Deutsch mit mir. Ich bin ja hier, um es zu lernen …“

      Dann schaut sie aus dem Busfenster, so wie ich es tu. Ulli, das Tittenwunder, liest ein Buch. Es ist von einem französischen Autor, den ich auch mag, denn er schreibt über das Absurde.

      Vor mir in diffusem Schnelldurchlauf: die Tankstelle mit der gelben Muschel und dem roten Schriftzug; auf einem Rastplatz Sattelschlepper mit schmutzigen Planen, von weither gekommen, noch lange werden sie unterwegs sein; jetzt wieder das flirrende Grün der Wälder, ein blaues Schild, das ich gerade noch entziffern kann: „Trier – 100 km“. Sehen wir dasselbe, frage ich mich und schließe die Augen – ein Frühling, warm wie ein Sommer, aber voller Blüten, die nie verwelken und Gras, das nie gemäht werden muss.

      Der Besuch an der „Porta Nigra“ ist der Höhepunkt unseres Rundgangs. Der Wetterbericht war korrekt. Herr Kluthmann, der Geschichtslehrer, kann den Regen ignorieren: Er trägt ein Toupet.

      Wie ein Shakespeare-Darsteller beginnt er zu zitieren: „Sie nannten es Marstor, nach Mars, den sie als Gott des Krieges ansahen. Wenn sie auszogen zum Krieg, marschierten sie zu diesem Tor hinaus. Schwarzes Tor aber wurde es genannt wegen der Trauer, mit der sie, wenn sie vom Felde flohen, durch es zurückkehrten.“

      Niemals will ich zu einem „Schwarzen Tor“ zurückkehren. Einen heiligen Eid lege ich ab – und lasse mich langsam und unauffällig zurückfallen.

      Brandi geht weit hinten. Sascha, der Schönäugige, ist bei ihr und Jens, der Athletische. Marcus, der Rebellische, hat die Daumen in den Gürtellaschen seiner Blue Jeans, er spreizt Federn, die er nicht besitzt, er drückt seine Brust heraus. Er erzählt seinen Witz von der schwangeren Nonne mit den Kerzen.

      Meiner ginge so: “Was hatten die alten Römer uns voraus? … Sie brauchten kein Latein zu lernen.”

      Aber Brandi ist schneller, hat kaum gelacht, aber die Hand gehoben. „Kennt ihr die Unterschied zwischen eine Jungfrau bei ihre erste Mal und Jesus …“ – sie spricht es „Tschisäss“ aus – „… am Kreuz? Das ist die Gesicht beim Nageln.“

      Aus den Augenwinkeln sehe ich ein endloses Grinsen auf ihrem makellosen Mund. Dann boxt sie Markus, den Rebellischen, in die Seite und geht zu Jutta, der roten Zora. Sie tuscheln und ich beschließe, ein Held zu werden.

      Am nächsten Tag sitze ich da und starre auf das weiße Blatt Papier auf meinem Schreibpult aus Plastik, grün und orange ist es und voller Bruchstellen. Es steht auf meinem Schreibtisch, seit ich Schüler bin. Aus der Schublade hole ich jenen Füller, den ich nur zu besonderen Gelegenheiten benutze, denn man muss ihn mit Tinte aus einem Glas befüllen. Ich erinnere mich an den Heimweg durch die Seitenstraße, die auf das Haus zuführt, in dem wir wohnen. Am Anfang steht ein alter Baum. Die Mauer, sie gehört zum Parkplatz dahinter, hat man um ihn herum gebaut. Einmal bin ich so hoch gesprungen wie ich konnte und habe nach jenem Ast gegriffen, der weit herunterhing über den Gehweg:

      Ahornzweig

      Geborgt im eiligen Sprung

      Jetzt wartend

      Verwelkt

      Die Zeichen haben getrogen

      Es ereignet sich nicht

      Was erwartet wird

      Es ändert sich kaum

      Was umgibt

      Denn die Bilder liegen seit je

      In meinem Kopf

      Die Bilder aufgehäuft

      Eine Flamme dazwischen

      Bald Rauch, bald Asche

      Ein leerer Briefkasten

      Warum findet man nicht

      Ein Ahornblatt in ihm:

      Darf auch spröde sein …

      Am nächsten Tag schleiche ich mich vor der Zeit in die Klasse. Ich bin Agent, ich habe eine Mission. Nicht die Welt will ich retten, sondern mich und meine Zukunft. Ein Stuhl, Brandis Stuhl, ist mein toter Briefkasten. Ich lege das gefaltete Blatt so, dass die eine Hälfte zwischen Sitz und Gestell klemmt. Es darf nicht verloren gehen.

      Vielleicht hätte es eine Chance gegeben.

      Es ist zu kühl für die Jahreszeit, Regenwolken hängen über den Hügeln, dem glatt lackierten See, dem Boothaus mit dem grünen Symbol unserer Schule auf dem Giebel. Wir haben eine Grillparty organisiert zu Brandis Abschied.

      Aus dem Aufenthaltsraum blicke ich ins Zwielicht: Es hat zu regnen begonnen. Ein Regen geht nieder, der alles trifft, nur nicht dieses Paar. Seine ulkigen Gesten sind es, die die Tropfen abwehren. Jens ist der Clown, der stutzt, der staunt und aus dem Schauer Sternenstaub macht.

      Gemessene Zeit für „Im-Regen-Stehen“: zweiundzwanzig Minuten.

      Der Sportunterricht hat alles verändert. Insbesondere meine Zukunft. Brandi hat einen engen blauen Dress an, ein weißes Gummi schnürt ihre Haare zum wippenden Pferdeschwanz. Basketball steht auf dem Plan. Es ist Brandis Stunde. Sie beherrscht den Ball, umdribbelt alle schnell und geschmeidig, eine Katze mit dem Auge eines Adlers, wenn sie aus großer Entfernung auf den Korb wirft. Sie verfehlt ihn selten. Ich werfe nie. Unser Team gewinnt dennoch haushoch. Nach dem Schlusspfiff steht sie am Anwurfpunkt, allein, die Hände auf die Schenkel gestützt, und ringt nach Luft.

      Ich sitze auf der Bank, schnüre meine Turnschuhe auf und mache wieder eine Schleife, die ich umständlich löse. Auch Jens ist geblieben. „Schau mal“, ruft er.

      Dann kippt er in den Handstand und beginnt auf Händen zu laufen, quer durch die Halle, an Brandi vorbei, die sich einen Schweißtropfen von der Nase wischt. Er läuft hin und läuft wieder her und noch einmal quer. Als er wieder auf den Beinen landet und ihr zuwinkt, da beginnt sie zu lachen: lacht und lacht, so laut und herrlich, wie sie in all den Monaten noch nie gelacht hat, mit den so weißen gerichteten Zähnen …

      Jens wird sie vom Bootshaus auf seiner brandneuen 80er-Enduro mitnehmen. Er hat einen zweiten Helm