Stefan Sprang

"Kriegt wer wen?" – Vom Ende im Anfang der Liebe


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hat man kein Glück in der Lotterie. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Jemand steht hinter mir und schaut ebenfalls aus dem Fenster.

      „Ist doch eh bald vorbei“, sagt Sascha, der Schönäugige. Er hat sie schon vor Wochen in der Stadt gesehen. Händchen haltend kamen sie aus dem Kino.

      „Unsere Sportskanone will in den Ferien nach Toronto fliegen. Was soll das bringen? Vergiss Kanada … Übrigens, Nachrichtensprecher, kostenloser Tipp: du solltest etwas aufmerksamer sein, da gibt es …“

      Aber ich drehe mich nur weg und gehe hinaus in den Bootskeller, wo es nach Holz riecht und Schmierfett. Das Tor ist offen: draußen stehen die beiden genau im Fluchtpunkt unter einem faltenlosen Nachthimmel, aus dem Mondschein rieselt wie Grillasche. Wieder höre ich diesen Vogel rufen. Was er mir prophezeit?

      Dass ich es nie lernen werde, auf Händen zu laufen.

      Frankfurt – Wien - Frankfurt

      Sie hatten ein glückliches Leben, sie haben es noch. In immer neuen Anläufen fanden die alten Damen hinter ihm Erinnerungen, die das beglaubigen; getrocknete Blumen, aufbewahrt in einem dicken Buch. Für vier Tage waren sie in Wien gewesen: um über die Weihnachtsmärkte zu spazieren, Punsch zu trinken und die Sängerknaben zu hören.

      „Am Karlsplatz war es besonders schön.“

      „Oh ja, das Gehege mit dem drolligen Wollschwein, das hätte auch unserer Jenni gefallen.“

      „Ach, wie all die Kinder sich gefreut haben. Und der Sternentanz mit den Kleinen. So süß waren die verkleidet.“

      „Aber am Belvedere, da war es auch sehr stimmungsvoll. Das musst du zugeben.“

      „Schade, dass es schon vorbei ist.“

      „Nächstes Jahr fahren wir wieder.“

      Er sah sich um im Großraumabteil, ausgeleuchtet von hartem Licht aus den Röhren unter der Gepäckablage, blickte sich an in der Scheibe schräg gegenüber, beobachtete sich wiederum in einer bleichen Großaufnahme, die direkt neben ihm auftauchte. Auf seinem Fensterplatz in der Sitzgruppe in der Wagenmitte war er eingekreist von Doppelgängern. Er spielte mit ihnen, schnitt seinen Gegenstücken Gesichter, die sofort reagierten.

      Seit er ein Kind war, liebte Jens es, im Zug durch die Nacht zu fahren auf endlosen Gleisen.

      Sein Zimmer war groß genug gewesen, um an der Wand neben der Tür eine tischgroße Holzplatte aufzustellen mit einer H0-Eisenbahn. Das Doppeloval mit den Gleisen war eigentlich langweilig. Nur auf der äußeren Runde konnte ein Zug einigermaßen beschleunigen. Die Innenfläche war mit einer kleinen Siedlung bebaut. Auf der einen Seite gab es einen verfallenen Güterbahnhof, auf der anderen Seite den Hauptbahnhof „Steinheim“ mit seinen leuchtend roten Ziegeldächern. Eine Durchgangsstraße, ein Marktplatz mit zwei Fachwerkhäusern, am Ortsausgang zwei moderne Zweifamilienhäuser. Alle Gebäude waren illuminiert mit kleinen Birnchen, auf dem Marktplatz stand winters ein Christbaum mit gelben Leuchtdioden. Manchmal ließ er bei strahlendem Sonnenschein das Rollo herunter und ging auf große Fahrt. Langsam ließ er den „Trans Europa Express“ anrollen, neben sich auf einem Teewagen das Kursbuch, das sein Vater aufgetrieben hatte, und die Zugführer-Ausrüstung. Immer wieder neue Bahnhöfe fuhr Jens an, kreuz und quer durch Europa. Mal von Amsterdam nach Basel, mal von Hamburg nach Rom – auf dieser Strecke spannte er einen blauen Schlafwagen hinter die beige-rot lackierte Schnellzug-Lok, in der er saß, und fuhr und fuhr.

      Der Druck in den Ohren bei einer Tunneldurchfahrt, das Kitzeln in den Gehörgängen, er berauschte sich jedes Mal am Stroboskop-Effekt der Tunnelbeleuchtung. Claudine fuhr nicht gern durch Tunnel. Tunnel und Brücken machten ihr Angst. Das Fliegen liebte sie. Er jedoch hatte Flugangst.

      Drei Jahre lang war er regelmäßig nach Wien gefahren. Er konnte bei einer Freundin übernachten, die in der Nähe vom Augarten wohnte. Christina hatte er in Hamburg kennengelernt. Sie war damals mit einem seiner Studienfreunde zusammen. Die beiden waren längst getrennt. Jens war mit Christina in Kontakt geblieben.

      In Wien hatte er sich verliebt. Auf den ersten Blick, mit einem spöttischen Lächeln, aber freimütig glänzenden Augen. Diese Beschwörung imperialer Erhabenheit; wie viel Kitsch, per Sandstrahl aus den Sedimenten von Jahrhunderten herausgelöst; dieses steinerne Bühnenbild, wie albern war das, verrückt, ja, und genial anders als die Stadt aus der er kam – die war zusammengeflickt aus Kriegstrümmern mit hässlichen Lückenfüllern. Wien, so anders, so schizophren. Zwischen den protzigen Kulissen das ganze lässige Leben, selbstbewusstes 21. Jahrhundert, die jungen Leute, die – wie hieß das noch – vielen „Frauenzimmer“, so „fesch“ und charming mit ihrem Schmäh und den Stimmen, die irgendwie eine Spur tiefer klangen und wärmer.

      Wenn er durch die Straßen flanierte, schaute er wahlweise den Frauenzimmern nach und an den Fassaden hoch. Ihn beeindruckte die Leistung der Architekten, die all das mit Stift und Papier bewerkstelligt hatten – das nennt man Tragwerke für die Ewigkeit.

      Jens war Prüfingenieur für Baustatik, Fachrichtung: Steinbeton, Stahlbeton, Holzbau. Mit seinem Freund Wolfgang hatte er ein eigenes Büro gegründet. Sie wollten unabhängig sein und hatten Großes vor. Zunächst berechneten sie vor allem Standsicherheitsnachweise in der Bauklasse I: Einfamilienhäuser, die hochgezogen wurden auf geschleiften Militärsiedlungen, aufgelassenen Äckern am Stadtrand und Industriebrachen. Häuser, die aussahen wie aus dem Modellbahn-Baukasten, aber für ihre Bewohner Paläste waren. Traumschlösser, die sie vor langer Zeit für sich in Gedanken entworfen hatten und für ihre Partner und die Kinder, den Golden Retriever und den Bonsai-Baum: Junischnee auf der Fensterbank.

      Wolfgang und er rechneten nach, ob die Architekten an ein stabiles Gleichgewicht gedacht hatten, ob sich alles tragen würde und den Lasten standhalten.

      „Nur Wolkenkuckucksheime brauchen keine Statiker“, hatte Wolfgang einmal gesagt, als nichts mehr zu tun war und sie an einem Nachmittag einfach losgezogen waren, um ein Bier zu trinken.

      „Ist was dran. Trotzdem schön für unser Konto, dass es so viele Bausparermetastasen gibt“.

      „Weißt du, was das Verrückte dabei ist?“ Wolfgang grinste.

      „Nein, und ich ahne es nicht mal.“

      „Wir wissen, wie die Verhältnisse sein müssen, damit alles steht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag …“

      „Das ist unser Job.“

      „Aber darum wissen wir auch ganz genau, wo man das Dynamit anbringen muss, damit alles mit minimalem Aufwand fein säuberlich in sich zusammenklappt.“

      „Du meinst ratzeputz weg?“

      „Staub zu Staub.“

      Jens wusste damals nicht, ob Claudine es ernst gemeint hatte, ob sie mit jener Arglosigkeit sprach, die Teil ihres Charakters war. Oder ob sie ihn hochnahm mit jener Ironie, die auch in dieser Frau wohnte als ebenbürtige Nachbarin der Naivität. Er war verliebt in das eine wie das andere.

      „Monsieur Statique …“, fing sie an und machte weiter in Deutsch mit einem grazilen Akzent, „… bau uns ein Haus. Ein langes niedriges Haus, mit bauchigen Wänden und runden Fenstern und vielen Zimmern und viel Platz für alle Dinge, die man ansammeln kann, auch wenn man sie nicht braucht, ein Haus mit einem Strohdach, das nicht wackelt. Bau uns ein Hobbithaus.“

      Er war Claudine im Leopold-Café im Museumsquartier begegnet. Am Vormittag hatte er sich eine Ausstellung mit Bildern amerikanischer Fotografen angeschaut. Im Café wollte er etwas essen, etwas Schweres. Er hatte Hunger, er wollte ein großes Bier trinken, um dann wieder allein durch die Stadt zu streifen. Er fand einen Platz auf der verglasten Brücke. Claudine saß schräg gegenüber auf einer Bank. Sie trug ein verwaschenes T-Shirt, bauchfrei mit einem roten Stern auf der Brust. Claudine hatte sich breit gemacht an dem Vierertisch, als wäre sie dort zuhause. Bücher, ein Block, zwei Magazine lagen auf dem Tisch, Geschirr von einem großen späten Frühstück war fahrlässig gestapelt. Vor ihr stand ein halbvolles Glas Wein. Sie hockte auf der Bank, ein Bein untergeschlagen, und beugte