Stefan Sprang

"Kriegt wer wen?" – Vom Ende im Anfang der Liebe


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Aus dem Gedächtnis konnte er das Muster malen, mit dem Regen die Zugscheiben masert, wenn er durch ein Tiefdruckgebiet rast. Er ahnte mittlerweile voraus, wann der grauschwarze Streifen Wald begann, ein ausgefranstes Fries in jener Kulisse, zu der auch die Deutschlandfahne gehörte, die er geradezu antizipierte. Ein riesiges Ding in einem süddeutschen Garten an einem Mast, wie er selbst vor einem Ministerium mehr als verstiegen gewirkt hätte.

      Er hatte Claudine davon erzählt, und sie hatte sich eine Geschichte ausgemalt zu der Fahne und ihrem Besitzer, die er fast für die Wahrheit hielt, so wie er zu erkennen glaubte, wenn sich in den Ortschaften, an denen er vorbeifuhr, etwas veränderte. An das Tempo gewöhnt, konnte er die Eindrücke für sich verlangsamen. Die wichtigen Passagen zeichnete er auf und spielte sie sich verlangsamt ab. Manchmal ging er auf Standbild, ein Blick in einen Garten: eine schief aufgehängte Kinderschaukel, ein roter Sandkasten, dessen Füllung zu großen Teilen auf einer Gänseblümchen-Wiese verstreut war. Heimstätten, hatte man das nicht mal so genannt?

      Manchmal konnte er auch am Montag noch in Wien bleiben, wenn er vorgearbeitet hatte und Wolfgang einverstanden war. Claudine musste dann wieder in der UNO Führungen machen. Also bummelte er zum Naschmarkt, kaufte ein, kochte italienisch mit großem Geschick.

      „In Rom“, sagte Claudine, sobald sie die erste Nudel elegant um ihre Gabel gewickelt hatte, „da würde ich auch gern leben.“

      Alle zwei Wochen besuchten sie sich. Jens und Claudine ließen alle Fragen daheim und reisten nur mit leichtem Gepäck. Sie hatten ihren Rhythmus. Den Abend nach der Ankunft verbrachten sie allein zu zweit. Sie gingen essen, sie planten die nächsten Tage, obwohl die meisten Vorhaben schon skizziert waren. Wann traf man wen? Kam man noch rechtzeitig zum Konzert mit Adam Green, wenn man am Nachmittag die Ausstellungseröffnung besuchen wollte? Am ersten Abend gingen sie früh zu Bett. Erschöpft von der Nacht begannen sie am Morgen damit, alles in die Tat umzusetzen: Er lernte ihren Freund Hans aus dem Innenministerium beim Lunch am Samstag kennen und am Sonntag ihre Freundin Marie, die in einem kleinen Kabarett schauspielerte und in einer Bar kellnerte. Waren sie in seiner Stadt, verbrachten sie Abende mit Wolfgang und dessen Frau Hanna und mit seinem Nachbarn, der als DJ so prominent war, dass er sie in die neuen angesagten Clubs hineinbringen konnte.

      Der Zug verlangsamte die Fahrt, legte sich in eine Kurve, neigte sich einer Siedlung zu. Er sah in den größeren Straßen das Orange der Quarzlampen, die opalisierenden Carports und erhellten Fassaden. Er sah Fenster, geschmückt mit roten Herzen, illuminiert mit Lichterketten: kitschig glänzende Adventskalender-Türchen. Würde man sie öffnen, fände man friedvolle Szenen. Ein Junge oder Mädchen mit Zahnschmerzen, schlaflos, aber beruhigt in den Armen der Mama. Hinter anderen, den abgedunkelten Fenstern passieren andere Dinge, unzarte Kämpfe, das Tier mit den zwei Rücken.

      Claudine hätte ihn aufmerksam gemacht auf den blinkenden Stern von Bethlehem in einem Vorgarten: „So hat sich die Lage verändert, Monsieur Statique.“

      „Wie?“

      „Damals war der Stern oben und blinkte, und die Könige sind auf der Erde hinterhergewandert.“

      „Und jetzt …“

      „Jetzt sind die Sterne unten und morsen nach oben.“

      „Und was morsen sie?“

      „Vielleicht ist es ein Notruf, S.O.S. Hilfe, befreit uns …“

      „Wovon?“

      „Von allem …“

      „Und wer soll es sehen, da oben?“

      „Denk es dir aus.“

      Vor etwas mehr als sechs Wochen waren sie zum ersten Mal zusammen verreist. Mit dem Zug. Er hatte versprochen, dass es keine Tunnel und Brücken gab. Claudine hatte sich einen gemeinsamen Urlaub gewünscht und immer wieder davon gesprochen. Er hatte versprochen, alles zu organisieren. Hatte es immer wieder verschoben. Etwas hatte sich plötzlich getan in der Wirtschaft, die Konjunktur frischte auf, eine gute Stimmung manifestierte sich, man baute wieder und brauchte die Expertisen der Statiker, damit alles Bestand haben würde. Claudines Wunsch ließ er immer wieder hinunterkollern auf der Tagesordnung, wie ein Steinchen, das man auf einem steilen Pfad losgetreten hat. Bis sie nicht mehr erreichbar war für zwei Tage.

      Bis er ihre SMS las: Du liebst mich nicht mehr.

      Er schrieb zurück: Ich liebe Dich mehr denn je.

      Ihre Antwort: Nicht was wir sagen, was wir tun, ist entscheidend.

      Claudine wollte auf eine Insel im Meer, eine kleine, von Wellen umtoste Insel mit einem Namen, der rau und schroff klingen sollte. Sie wünschte sich nächtliche Strandspaziergänge und das Aroma der Gischt in der Nase, das in der Luft gelöste Salz, das einen schon nach ein paar Stunden husten ließ. Sie stellte sich eine Pension vor, die aussah wie das Hobbithaus. Er hatte für drei Tage eine kleine Ferienwohnung gebucht mit Namen Dornröschen.

      Sie waren am frühen Abend angekommen. Claudine hatte es kaum ausgehalten und während der Fahrt ernsthaft in Erwägung gezogen, ihn auf die Zugtoilette zu ziehen, um mit ihm, wie sie versprach, „unartige Dinge zu tun“, die sie nun tun konnten, bis ein anderer Hunger größer wurde. Sie hatten verpasst, sich etwas zu essen zu besorgen. Das einzige Restaurant in Dornröschens Nähe war winterfest verschlossen. Sie fanden eine Fischerkneipe und setzen sich mit voller Absicht nebeneinander an die gleiche Seite des Tisches. So machten alte Paare das gern, hatte sie beobachtet, Paare, denen es wichtiger geworden war, in die Welt schauen zu können. Claudine behauptete, diese Paare machten das, weil es in den Augen des anderen nichts mehr zu entdecken gab. Vielleicht ist das eine große Erleichterung, nichts mehr entdecken zu müssen, hatte er geantwortet. Und sie hatte prompt eine Ohrfeige angedeutet. Zusammen mit Männern, die stolz waren auf Wind-und-Wetter-Gesichter, tranken sie ein Bier ums andere und träumten von Fischbrötchen, die sie zum Frühstück am Stand an der Hauptstraße verschlingen wollten.

      Am Morgen hatten sie Glück, eine Brise hatte den Himmel aufgerissen für eine protzende Nordsee-Sonne, die auch noch schien, als sie in den Dünen Pause machten mit Schinken-Käse-Toasts und einer Thermoskanne. Eine Sonne, die sich langsam, aber sicher verabschiedete und Wolken mit schwarzen Rändern den Horizont überließ, als Jens nicht wusste, ob er Claudine in den Arm nehmen sollte.

      Sie hatte ihre frostig rosaroten Wangen abgewendet und schluchzte gegen den Wind: „Als hätte ich ein Schild am Kopf … Baise-moi, baise-moi, baise-moi …“

      Sie hatte Männernamen aufgezählt, in absteigender Chronologie, Namen von Liebhabern und Affären. Er zählte mit in Gedanken, an imaginären Fingern – bis zwei Hände nicht mehr ausreichten.

      „So lange wie mit dir, Monsieur Statique, war ich noch nie mit jemandem zusammen, verrückt oder …“ Sie wandte sich ihm wieder zu, lächelte, wischte die Tränen fort, stand auf, nahm seine Hand. „Komm, gehen wir, bevor wir den Weg zurück nicht mehr finden. Es wird dunkel, und es sieht nach Regen aus. Und wir haben keinen Schirm dabei.“

      Sechs Wochen später hatte er Claudine noch einmal weinen sehen.

      Am Nachmittag waren sie aus dem Museumsquartier zurückgekommen vom Brunch mit Claudines besten Freunden, mit Hans, dem Katastrophenschützer aus dem Innenministerium und Marie, der Teilzeitschauspielerin. Abends wollten sich alle wieder sehen auf einer Party im siebten Bezirk, die seine Freundin Christina gab. Claudine sagte, sie sei müde und wolle noch schlafen. Sie hatten sich hingelegt, aber er war derjenige, der schnell weggedämmert war. Seltsame Traumbilder zogen vorbei, von endlosen heruntergekommenen Zimmerfluchten. Irgendwo hörte er ein Schluchzen, das kein Traumgespinst war. Es weckte ihn. Claudine hatte in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers gekauert, die Knie fest angezogen saß sie auf dem Boden. Kein Wind, der ihr ein frostiges Rosarot auf die Wangen gemalt hatte. Sie hatte sich geschminkt. Der Mund leuchtete in einem Blutrot, das er an ihr nicht kannte. Sie trug eine Theaterperücke, ein drahtiges graubraunes Ding mit Plastikhaaren, toupiert zu einer, so stellte er sich das vor, Karikatur einer Hausfrauenfrisur aus den 60ern. Claudine hatte die Perücke tief in die Stirn gezogen, der Pony reichte bis an die Sonnenbrille. Er sah den Glanz der beiden Tränenspuren, die darunter auftauchten und sich an ihrem Kinn