Stefan Sprang

"Kriegt wer wen?" – Vom Ende im Anfang der Liebe


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die sich langsam, aber sicher auf den kommenden Winter einrichtete.

      Er schaute sie an. Immer wieder und jedesmal länger. Sie hatte es bemerkt. Sie sah auf, legte den Kopf schräg und schaute von unten zu ihm herüber: Das ist ein Blick wie aus Fernost, wer will dem widerstehen – ein Blick aus Fernost, so anders.

      Ihr Vater war Georgier, erfuhr er später, die Mutter Französin. Schmale Augen unter hochgezogenen Brauen funkelten ihn an. Das sind die schwärzesten Augen der Welt. Aber zittern nicht ihre Wimpern? Könnte sie ärgerlich sein? Dafür sollte sie keinen Grund haben.

      Was starrst du so? Ihr Blick, eine Frage. Er sah die Sehnen und Muskeln an ihrem schlanken Hals hervortreten. Aber ihr gespitzter tiefroter Mund stellte wortlos fest: Ich interessiere dich also.

      Plötzlich eingeschüchtert, aber entschlossen zeigte er auf das Buch, machte eine interessierte Handbewegung.

      Sie hob das Buch hoch, hielt es ihm mit ausgestreckten Armen entgegen: Der kleine Hobbit in einer Originalausgabe. Über das Buch hinweg fixierte sie ihn frech, aber mit leiser Ironie. Er lächelte und nickte stumm.

      Tolkien also, ist das nicht ein Kinderbuch?

      Es war Claudines Lieblingsbuch. Dann zog er eine schwarzweiße Postkarte, die er im Museumsshop gekauft hatte, aus der Jackentasche und schrieb: Im Nordwesten der Alten Welt, östlich des Meeres.

      Kühn und kämpferisch stand er auf, ging drei Schritte und legte die Karte mit einer tiefen Verbeugung vor sie hin, ein gewissenhafter Diener in einem alten Film. Oder ein Ritter, der das alles entscheidende Turnier gewonnen hat.

      Er rechnete mit nichts. Oder einer bösen Bescherung. Einem Platzverweis. Sie las, lachte, winkte ihn mit zwei Fingern heran. Er nahm sein Bierglas und setzte sich ihr gegenüber.

      Claudine jobbte in der UNO-City.

      „Wusstest du, dass die Gebäude dort so gebaut sind, dass sie sich nicht gegenseitig in den Schatten stellen?“, hatte er sie gefragt.

      „Klar, ich muss es ja den Touristen erklären und allen, die es sonst noch wissen wollen.“

      Claudine war einunddreißig, sie machte Führungen im Vienna International Centre, informierte über die Arbeit der Vereinten Nationen und die Aufgaben der in Wien tätigen Organisationen. Sie hätte dort auch als Dolmetscherin arbeiten können.

      „Wenn, dann am liebsten beim Flüchtlingskommissariat. Oder bei denen mit den Weltraumfragen.“ Aber sie wollte sich nicht festlegen, noch nicht, nicht so. „Ich will Alltag ohne Alltäglichkeit. Nichts Einförmiges, so wie bei mir zu Hause. Meine Eltern sind Lehrer. Sie sind gerecht, aber geordnet. Wenn du weißt … Jedes Jahr sind wir für drei Wochen in ein kleines Haus gefahren im Süden … Jedenfalls, ich will, dass sich was verändern kann … Ich will was sehen von der Welt. Konkret, aber auch in einem übertragenen Sinne, wenn du weißt … mein Leben soll anders sein …“

      Er wusste. Jeden Sonntag hatte es bei ihm daheim um dreizehn Uhr das Essen gegeben. Pünktlich zu den Nachrichten hatte Vater das Radio eingeschaltet, danach kam eine Sendung, in der bedeutende Menschen aus ihrem Leben erzählten und klassische Musik einspielen ließen, die ihnen gefiel oder etwas Besonderes aussagte. Nach dem Nachtisch spülte Mutter das Geschirr, Vater machte einen Mittagsschlaf. Lokomotivführer Jens ging dann in sein Zimmer, zog den alten Drehstuhl an die Eisenbahnplatte. Der „Trans Europa Express“ wartete am Bahnsteig. Als er älter wurde und stärker, ging er bei Wind und Wetter hinaus, um zu joggen, mit einem Ball Kunststücke zu vollführen oder auf Händen zu laufen in der Garageneinfahrt.

      „… Ich bin noch jung, weißt du.“

      Claudine kam aus Straßburg, sie hatte Politik, Anglistik und Germanistik studiert. Sie sprach vier Sprachen verhandlungssicher und ein wenig Georgisch. Sprachen faszinierten auch ihn. Er beherrschte Englisch fließend, hatte es im Rekordtempo perfektioniert, als Brandi aus Toronto eines Tages in der Pausenhalle seiner Schule aufgetaucht war.

      Für Jorid hatte er begonnen, Schwedisch zu lernen. „Ich liebe Dich ….“ – „Jag älska Dig“. „Gifta sig“ – „Heiraten“.

      Er hatte sie auf einer Silvesterparty in Luxemburg kennengelernt. Eine Schulfreundin hatte ihn eingeladen, die dort bei einer Bank arbeitete. Jorid machte ein Praktikum in der Personalabteilung. In Stockholm auf der Brücke, unter der das süße Wasser schäumend und sprudelnd vom Mälarsee in die salzige Ostsee floss, unter einem Reiseprospekt-Himmel, hatten sie sich das erste Mal geküsst: „Jag älska Dig.“

      Sie sahen sich alle drei Wochen. Sie telefonierten jeden Abend, sie mailten jeden Mittag. Sie brauchten keine geprüfte Standsicherheit durch erfolgreiche Fernsehabende auf der Couch und stressfreien Hausputz. Jens kannte sich aus. „Stress analyst“, die englische Bezeichnung für Statiker. Nach einem halben Jahr trennten sie sich. Irgendwie schade, aber es war alles auch etwas anstrengend gewesen, Vorwürfe machen musste man sich jetzt ja nicht, es war wunderbar anders gewesen als bei so vielen Pärchen.

      „If I can't love you tonight, maybe tomorrow …” Jorid hatte ihm kommentarlos das mp3 gemailt. Eine Live-Version von Willy DeVille, heimlich von ihr aufgenommen. Jens gefiel besonders das Saxophonsolo.

      Claudine hatte ihn das erste Mal auf Bahnsteig sieben, Westbahnhof Wien, geküsst, ganz leicht nur und freundschaftlich. Sie hatte ihn zum Zug gebracht, war um ihn herumgelaufen wie eine Kamerafrau, tat, als wäre er ein frisch Verliebter, der bangend im Strom der Ankommenden nach jener Hälfte Ausschau hält, die er ein Leben lang gesucht hat. Warum da nicht mitspielen? Er spielte mit.

      „Zu dir passt keine, nicht mal ich, warte also nicht.“ Claudines Ironie.

      „Aber du wartest trotzdem das nächste Mal hier, wenn ich komme?“

      „Sehr wahrscheinlich.“

      Dann fiel sie ihm einfach um den Hals, war ein junges naives Frauenzimmer. Aber nein, sie blieb die Französin mit dem Blick aus Fernost. Ihre rote Kunstlederjacke knarzte, als sie sich an ihn drückte und ihm zuflüsterte, wo er hinschauen sollte. Zu dem Mann am Steuer des elektrischen Kofferwagens, der einen sensationell gezwirbelten Schnauzbart trug; zu dem Kind, das aus der Bahnhofshalle kam und an seinem Hotdog-Würstchen leckte wie an einem Eis. Claudine achtete auf Kleinigkeiten. Und sie liebte an ihm, dass er sehen wollte, was sie sah, und dass er manchmal aus dem Stand kuriose Dinge tat. Zum Beispiel auf Händen über den Bahnsteig laufen. Der Junge hatte vor Schreck seinen Hotdog fallen lassen.

      „Als du mir die Karte hingelegt hast, im Café … Du hast dich verbeugt wie ein russischer Diener. Als würdest du Anna Karenina einen Brief von ihrem Geliebten überreichen.“

      „Habe ich das? Und wer ist diese Frau Karenina?“

      „Es war lustig. Und sehr schön.“

      Neben ihm lachte jemand. Ein Glatzkopf mit sanftem Gesicht. Er hatte einen ungarischen Akzent. Er unterhielt sich mit einem jüngeren Mann am Fenster. Nein, ein Paar sind sie nicht, da fehlen die kleinen versteckten Gesten, sie müssen sich nicht darum kümmern, genug Abstand zu halten. Der jüngere Mann am Fenster freute sich darauf, seine Frau wiederzusehen. Die beiden kamen von einem Kongress. Etwas mit Medizin, Immunologie, eine Koryphäe hatte dort gesprochen. Der Jüngere zeigte dem Glatzkopf Familienfotos.

      „Das ist Leon.“

      Es war ein warmer Novembertag, an dem er Claudine kennengelernt hatte. Sie hatte es ihm leicht gemacht. Sie redete viel und fragte wenig. Aber das war gut so, denn er konnte sich in den schwärzesten Augen der Welt verlieren. Immer wenn er in Wien war, hatte sie ein Programm vorbereitet.

      „Kennst du St. Marx?“

      „Ich wusste gar nicht, dass man den heiliggesprochen hat.“

      „Den Friedhof, Monsieur, den Friedhof.“

      „Nein, ich kenne Wien ein bisschen, aber den kenne ich nicht.“

      „Monsieur Mozart wurde dort begraben. Drittklassig, wie die Österreicher eben sind. Das wäre uns nie passiert.“

      „Nachdem das hitzelige Frieselfieber