Stefan Sprang

"Kriegt wer wen?" – Vom Ende im Anfang der Liebe


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hinterhältig vergiftet worden ist.“

      „Wie auch immer, da hatte es sich ausgegeigt.“

      „Du nimmst mich nicht ernst.“

      Sie lachte laut, lachte mit zügellosem Temperament. Er hatte alle seine Pläne für den Tag über den Haufen geworfen und war mit ihr rausgefahren in der „Bim“, der Straßenbahn. Sorgfältig überzog die untergehende Sonne alles mit Rotgold. St. Marx, erklärte sie mit der übertrieben gespielten Professionalität der Fremdenführerin, war längst stillgelegt.

      „Sehen Sie gleich den denkmalgeschützten Biedermeierfriedhof, ein Paradies für Melancholiker.“ Außer ihnen war niemand in dem kleinen Park. „Das ist meine Zeitmaschine. Hier kann ich zurückreisen“. Claudine schaute einen Moment in die Sonne. „Wenn sich der Boden unter mir schneller dreht, als ich mich bewege, wenn es dann wackelig, so sagt man doch, wenn es wackelig wird, steige ich ein.“

      Sie hob ihre Arme und nahm ihre Locken nach hinten zusammen, aber sie sah ihn immer noch nicht an. Efeu rankte an Grabsteinen herauf, die von Wind und Wetter ausgewaschen waren. Kopflose Engel thronten im Gewirr der Äste, amputierte und halbierte Figuren harrten aus, so gut es ging, seit über hundertfünfzig Jahren. Eine Frau aus Stein, ungewöhnlich gut erhalten, fasste sich bekümmert an die Stirn, als könne sie es immer noch nicht fassen. Im Grab daneben ruhte Anton Herder.

      „Bedauert von seinen ihn liebenden Eltern“, las sie.

      „Stein ist geduldig.“

      „Hey, ich glaube, sie haben Josef geliebt. Es muss schlimm sein, wenn die Kinder vor einem sterben. Wäre ich er gewesen, wäre ich schon seit vier Jahren tot.“

      „Na, eigentlich schon seit etwas mehr als hundertfünfunddreißig Jahren.“

      „Monsieur Statique. Sie Haarezerspalter. Ich meine vom Alter her. Er ist kurz vor seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag gestorben. Ich habe schon vier Jahre mehr geschafft. Hipp hipp hurra!“

      „Ob vor vier oder vor hundertfünfunddreißig Jahren. Es wäre schade gewesen um dich.“

      „Merci, très charmant.“

      „Reiner Egoismus. Ohne dich wäre ich nie hierhergekommen. – Woran er wohl gestorben ist?“

      „An gebrochenem Herzen.“

      „Ein Mann? Starben die damals nicht im Krieg?“

      „Wo ist der Unterschied?“

      Sie las die Inschrift auf dem restaurierten Grabstein vor:

      „Ihr weint weil ich von euch geschieden

      Weinet nicht

      Des Himels Frieden

      Des Ewigen Vaterlandes Heil

      aus Gottes Hand ward mir zu theil.“

      Dann lachte sie. „Ob es im Himmel damals wirklich okay war?“

      „Wie kommst du darauf?“

      „Damals hatte der Himmel nur ein M!“

      Sein Lachen mischte sich mit dem Rauschen des Verkehrs. Direkt hinter der Friedhofsmauer lag ein Knäuel aus Autobahntrassen. Auf der Südosttangente konnte man weiter Richtung Süden fahren. Oder den Bogen nehmen hinein in die Stadt. Ein Sattelschlepper schepperte vorüber und drückte unwiderruflich das Rascheln und Knistern der Blätter weg. Claudine war still geworden, ihr Körper versteinert, ihre Locken bewegten sich, als seien sie das noch einzig Lebendige an ihr: Luftwurzeln im leichten Wind. Mit einem Ruck kehrte sie zurück und fand jenen Blick wieder: „Ich bin eine lustige Melancholikerin, das musst du wissen.“

      Er schwieg.

      „Anderes Thema: Frierst du leicht?“

      „Nein, ich mag große Kälte. Und ich mag große Wärme.“

      „Bon, dann fahren wir jetzt an den Nordpol.“

      Am Nordpol war ihre Lieblingskneipe. Ein Wirtshaus mit abgewetzten Holztischen und böhmischer Küche. Sie teilten sich eine Portion Blinis, dann schaufelten sie süßes Kraut und Grammelknödel in sich hinein. Sie tranken dunkles Bier, und Claudine hielt mit und rauchte, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie stellten fest, dass sein Quartier nur ein paar Straßen entfernt von ihrer Wohnung war. Aber nicht nur das stellten sie fest, eingehüllt in den Dunst aus Wacholder, Zwiebeln und Kümmel.

      Am nächsten Tag fuhr er zurück mit dem Eurocity aus Budapest, fuhr über Linz und Passau. Schon bei Plattling telefonierte er mit ihr, die Verbindung brach andauernd ab, aber er wählte immer wieder ihre Nummer.

      Ein paar Tage später holte er sie am Flughafen ab. „Das ist mutig von dir, einfach zu kommen.“

      „Mutig wäre es, wenn ich Flugangst hätte.“ Sie lächelte und küsste ihn auf beide Wangen.

      Ab diesem Moment kamen sie über das Land als eine geballte Luftmasse, Jens und Claudine, ein ineinander verhaspeltes Wolkenknäuel am Himmel, auch als verschlungenes Gewächs rankten sie durch den Dschungel der Tage und Wochen, sie lebten überwölbt von einer kristallenen Glocke in einer Biosphäre der Zweifellosigkeit, sie waren Philemon und Baucis, die Lieblinge der Götter. Sie waren nicht vermögend, aber reich. Sie waren gastfreundlich. Sie hatten das Glück eingeladen. Ihre Sprache wandelte sich in einen zweistimmigen Gesang und gebar „Un“-Worte. Hätte man sie getrennt voneinander verhört, sie hätten das Geschehene in identischen Sätzen „unbegreiflich“ und „unfassbar“ und „unbeschreiblich“ genannt. In alle Welt mailten sie ein digitalisiertes Doppelporträt aus dem Passbildautomaten am Flughafen. „Glück“, schrieben sie in die Betreffzeile, und der Text lautete: „No comment.“ Sie hatten Recht und sonst niemand, denn es war anders.

      Dabei waren sie, hatte sein Partner Wolfgang berechnet, von den dreiundvierzigtausendzweihundert Minuten eines Monats meist nur neuntausendneunhundertsechzig zusammen. Aber so stimmte es natürlich nicht. In den übrigen dreiunddreißigtausendzweihundertvierzig Minuten lebten sie ihren Alltag für sich, hielt Jens entgegen, sie atmeten und schliefen für sich, aber ständig wussten sie, was der andere tat, „wo er turnte“, wie sie sagte, „wovon er in Anspruch genommen war“, wie er sagte. Sie existierten auf den Funkstrecken ihrer Mobilfunkanbieter und in den magischen Kabeln des Internets.

      Der Zug bremste stark ab. Hoffentlich keine Betriebsstörung, so hieß das doch, wenn … jetzt nicht anhalten. Jens drückte seinen Kopf in die Lehne und hörte den alten Damen zu.

      „So wie man das Leben sehen will, so schaut es einen an“, sagte eine der beiden. Dann machte sie eine Pause. „Das hat Franz mir bei unserem ersten Rendezvous gesagt. Ich fand es so schön, dass ich ihn gebeten habe, mir das aufzuschreiben. Er hat dann heimlich ein Stück Rand abgerissen von der Zeitung in dem Café und hat dann mit dem Bleistiftstummel … Ach, Franz hat ja immer noch so eine schöne Schrift.“

      Franz saß auf der anderen Seite des Ganges. Von dort hörte man ein kleines Grunzen und kurzes Röcheln. Franz war eingenickt und träumte vielleicht von diesem Tag in dem Café: wie er mit seiner Herzallerliebsten am Fenster sitzt und auf die Trümmer des Turmes schaut, der zu jener Kirche gehört, in der sie ein Jahr später heiraten werden.

      „Durch den Krieg hatte ich ja keinen Abschluss, aber Franz hat gesagt, ich solle mich einfach bewerben bei der Hauswirtschaftsschule. Damals hatte ich schon meinen Franz.“

      Franz und sie, sie schauten mittwochs immer die Wiederholungen vom Ohnesorg-Theater.

      Franz und seine Frau kamen aus einer Zeit, die Jens sich nur schwarzweiß vorstellen konnte. In der alles in kleinen Maßen gemessen wurde und seine Grenzen hatte. In der man, wenn überhaupt, einmal im Jahr mit dem Zug fuhr. Mit dem Reisebüro-Sonderzug, der Menschen wie Franz und seine Frau und die beiden Kinder an den Wörthersee brachte, wo man einen Wanderurlaub machte.

      Mindestens einmal im Monat war Jens von Nord nach Süd gependelt und zurück. Donnerstags stieg er um kurz nach zwölf in den Zug nach Wien, montags reiste er meist zurück, manchmal musste er schon am Sonntagmittag los. In der allgemeinen Sonntagsstille