Stefan Sprang

"Kriegt wer wen?" – Vom Ende im Anfang der Liebe


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verzerrte Doppelgänger der gewaltigen Neonreklamen, die am Highway stoisch und stolz ihre Werbung machen. Sie erkennt den Schriftzug ihres Lieblings-Burger-Restaurants und das Logo einer „Seventy-Six“-Tankstelle. Plötzlich …

      Sie schreckt auf.

      Es ist nur ein harter Schnitt, eine Kreuzung, ein hupendes Auto.

      Sie legt ihren Kopf etwas zur Seite und sackt noch tiefer in den Kinosessel. Aus dieser Position kann sie den Film mit einer Augenbewegung ausblenden und die Silhouette neben sich beobachten. Im Licht der Leinwand sieht man sein Gesicht, erhellt für einen Moment, dann fällt es ins Dunkle, um schimmernd wieder aufzutauchen. Seine Nase ist lang und irgendwie elegant, seine Haut sieht aus, als habe er gerade erst ein heißes Bad hinter sich. Samtweich, denkt sie.

      Sie hatte ihre Freundin gebeten, Daniel zu überreden, mit in das kleine Programmkino zu kommen; ein Road-Movie aus den Achtzigern, gezeigt in einer Reihe zu Ehren des Regisseurs, der in diesem Jahr sechzig wird. Daniel kannte dessen Namen irgendwie. Und alles mit Road ist klasse, befand er, auch wenn er Filme vorzog, in denen der Held Schüsse abfeuerte und Autos spektakulär zu Schrott wurden. Aber wenn ich zwei so attraktive Ladys begleiten kann, wäre ich verrückt, nein zu sagen.

      Daniel arbeitet am anderen Ende des langen Ganges, dort wo die Abteilung beginnt, in der auch ihre Freundin ihr Büro hat. Manchmal treffen sie sich alle in der Teeküche oder am Fahrstuhl. Ulli lächelt Daniel dann an und macht eine banale Bemerkung, und er lächelt zurück, grüßt mit einem harmlosen Satz und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass er auf ihre Brüste glotzt. Es macht ihr nichts mehr aus. Schon in der Schule hatten die Jungs Ulli, das Tittenwunder, entdeckt.

      Der Schattenriss beugt sich jetzt vor in einer federnden Bewegung. Daniel nimmt seinen Becher aus der Halterung und nimmt einen tiefen Schluck von seiner Light-Cola genau in dem Moment, als der Pickup-Fahrer durch die letzten Regentropfen fährt. Der heißt Tucker und fährt immer weiter, jetzt unter einem Himmel, der aussieht, als sei eine Packung Blutorangensaft darauf geplatzt. Das wilde Rot ist ein schönes Symbol, findet sie. Es erinnert daran, wie sehr Tucker liebt. Er hatte Jodie vor Jahren verloren, trotz der glücklichen Zeit. Aber weil Glück ihm zu wenig gewesen war, hatte er an den Spieltischen hoch gepokert, um am Ende alles zu verlieren bis auf den babyblauen Chevrolet. Mit dem durchquert er nun das Land, fährt und fährt und fährt auf der Suche nach seiner Jodie. Tucker ist keiner, das hat Ulli sofort gesehen, der nur tut, was ohnehin zu tun ist. Er widersetzt sich, fährt an gegen das Schicksal – vor einem Sonnenuntergang, der jetzt auch auf Daniel abfärbt, der dort sitzt, aus Fleisch und Blut, der sich nicht auflösen kann wie ein Nachbild, wenn man wieder die Augen öffnet. Wenn das Licht im Saal anginge, wäre Tucker verschwunden und Daniel noch da.

      Er war zu spät gekommen und hatte sich an der Kasse zu ihr und ihrer Freundin vorgedrängelt. Wenn einer der Wartenden deshalb meuterte, machte er eine launige Bemerkung, reimte „nicht zur rechten Zeit“ auf „hat `ne schlechte Beinarbeit“. Das gefiel ihr. Er ist selbstbewusst. Er ist schlagfertig. Er hat Humor. Wichtig ist das, auch wenn er vielleicht nie so romantische Gedichte schreiben wird wie jenes, das sie eines Morgens in der Klasse gefunden hatte. Es war um Ahornzweige und einen leeren Briefkasten gegangen.

      Nachdem sie die Karten gekauft hatten, entschuldigte sich Daniel noch einmal: Er müsse telefonieren. Ja, er wisse selbstverständlich, das sei unhöflich, aber, da bitte er um Verständnis, ein Geburtstag, es sei wirklich wichtig. Ihr war, als hätte er dabei gezwinkert. Auf dem Weg in den Zuschauerraum hatte sie ihre Freundin noch einmal gefragt, ob Daniel ganz sicher Single sei und ob er etwas gesagt habe zu der Kinoeinladung. Nein, gesagt habe er nichts, außer, dass so ein Film mal was anderes sei. Und das mit den „attraktiven Ladys“ erwähnte sie noch einmal, und ja, ganz sicher, er habe ganz sicher keine Freundin.

      Sie hatten es so eingerichtet, dass der freie Platz zwischen ihnen war. Daniel kam, als der Saal schon dunkel war, er glitt an ihr vorbei, klappte den Sitz herunter, und kaum dass er saß, lehnte er sich zu ihr herüber und machte einen Witz, etwas über Frauen und Telefone. Die Pointe gefiel ihr und sie lachte so laut, wie es nicht mehr oft vorgekommen war in den letzten Jahren.

      Daniels Gesicht, das jetzt durch eine taghelle Szene wieder deutlicher wird, ist hübsch, ganz anders als das von Tucker, der jetzt eine menschenleere Straße in einer Kleinstadt überquert. Tucker hat einen schmalen Mund und presst meist die Lippen zusammen, die Haare stehen struppig von seinem Kopf ab. Er schlurft mehr, als dass er geht. Jetzt starrt er durch die schmierigen Fensterscheiben eines Waschsalons auf eine wahnsinnig dicke Frau. Die glotzt auf eine Waschmaschinentrommel, in der nur eine Handvoll Wäschestücke wirbelt. Tucker zögert.

      Plötzlich kippt Daniel zur anderen Seite. Er beugt sich, das kann sie fühlen, ganz dicht zu ihrer Freundin, ganz nah kommt er ihrer Wange und ihrem Ohr. Er flüstert etwas. Sie glaubt als Antwort ein Kichern zu hören und dann eine Satzmelodie, deren Schlusspunkt … ein Fragezeichen?

      Schnitt. Spärliche aber durchdringende Gitarrenakkorde setzen ein und übertönen die Stimme. Gleichzeitig wird es Nacht auf der Leinwand, und um sie herum wird es finster. Darum hat sie es auch kaum gemerkt – oder zu spät erst – Daniels Finger, sie haben ihre Hand gestreift. Er tastete anscheinend nach der Lehne, auf der sich doch schon ihre Hand ausstreckte, ausgestreckt hatte. Ein Reflex. Sie hatte zurückgezogen, aber das Nachgefühl auf ihrem Handrücken war eindeutig: „Cremeweich“, denkt sie.

      Daniel scheint nichts gemerkt zu haben, nichts merken zu wollen. Der Moment war kurz gewesen, eine Zehntelsekunde vielleicht. Aber er hatte gereicht, um über ihre Nervenbahnen einen schönen Schauder in ihren Körper zu schicken, ein hitziges Frösteln, das sie an vieles erinnerte.

      Popcorn knackt, tief unter dem Kino rumpelt eine U-Bahn, eine seltsame Untermalung zu dem weiten, mit traurig braunen Grasflecken gesprenkelten Land acht Reihen vor ihr. Tucker steht am Straßenrand und weint. Aber sie achtet nicht darauf, auch wenn sie gern mit dem Mann leiden würde. Da ist Daniel. Er gefällt ihr und er hat sie berührt. Doch sie, mit diesem dummen Reflex, hat ihre Hand weggezogen. Das Schaudern ist verflogen, die Überraschung und das gewichtslose Gefühl weichen einer neuen Art von Spannung. Verzweifelt versucht sie, sich zu erinnern: Aber da ist kein Eindruck mehr. Daniels Hand ist aufs Neue ein großes Geheimnis.

      Tucker klettert wieder in seinen Pickup, und ebenso entschlossen wie er dabei ist, trifft auch sie ihre Wahl. Sie will alles auf diese eine Karte setzen, den alles entscheidenden Moment. Daniels Hand hat die Lehne erobert, sie hat nichts zu verlieren. Der Chevy frisst wieder Meile um Meile des mürben heißen Asphalts, die Hitze lässt die Luft am Horizont kochen. Berggipfel flirren vor ihren Augen, aber sie lässt sich nicht verwirren. Sie spürt seine Haut, trocken, aber cremeweich. Dreist hat sie seine Finger gestreift. Und hat noch dazu einen Moment innegehalten, der ihr so lang erschienen ist wie ein ganzer Film.

      Sie lächelt, den Blick auf die Leinwand gerichtet. Tucker kämpft sich mit seinem Wagen auf einer vielspurigen Autobahn durch den Feierabend-Verkehr. Er muss das Durcheinander um sich herum im Blick behalten. Aber auch die grünen Tafeln an den vielen Schilderbrücken. Die Strahlen der Abendsonne blenden ihn immer wieder, ein grelles Stroboskop. Wenn Tucker die richtige Abfahrt verpasst, wird das Zeit kosten und alles zunichtemachen. Er muss zum Flughafen, wo Jodie schon darauf wartet, in ein fernes Land und ein neues Leben zu starten. Wird die Geschichte ein gutes Ende haben? Ja, sie wird eines bekommen, da hat sie nun keinen Zweifel mehr, sie ist erleichtert und stolz auf sich, sie blickt hoffnungsvoll nach vorn. Und wird unaufmerksam. Daniel dreht sich ein wenig in seinem Sitz. Er schaut sie direkt von der Seite an. Sie spürt diesen Blick mehr, als dass sie ihn sieht. Sie wendet sich ihm zu und glaubt, ein Lächeln zu erkennen. Sie ist entschlossen, sich ganz dicht zu ihm zu beugen, seiner Wange und seinem Ohr so nah wie möglich zu kommen und ihm etwas zuzuflüstern.

      Der Donner kommt aus dem Nichts. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen schließt sie ein. Der ganze Kinosaal zittert durch den Schalldruck des startenden Jumbos. Die Triebwerke lärmen noch, als die Maschine längst nach rechts auf und davon ist. Daniels Hand liegt nicht mehr auf der Lehne. Geschmeidig beugt er sich wieder zur anderen Seite hinüber. Sie schaut nicht hin, sieht stattdessen Tucker. Inmitten eines nasskalten Neonlichtes steht der Jodie gegenüber. Es ist ein schäbiges Motelzimmer, aber das bemerken die beiden nicht. Er geht auf sie