Peter Beuthner

Außer Gefecht gesetzt


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Doktor Bernauer, hereinkam – ein jovialer Herr mittleren Alters mit bereits leicht ergrautem, schütterem Haar und einem Schnurrbart. Er hatte zuvor eine Operation durchgeführt und hätte sich jetzt am liebsten eine Verschnaufpause gegönnt. Aber nun stand er schon wieder vor dem nächsten Fall, und ließ sich berichten, was vorliegt und welche Feststellungen bereits getroffen wurden. Dann wandte er sich dem Patienten zu.

      „Also, was haben wir: Sein Kreislauf ist okay, die Atmung funktioniert. Die Augen sind geöffnet, aber der Patient zeigt keine äußerlich erkennbare Bewusstseinsregung, ist nicht ansprechbar. Die lebenswichtigen Funktionen scheinen in Ordnung zu sein, aber Bewegungen oder gar Anzeichen für Kommunikation waren bisher nicht festzustellen. So weit sind wir bisher mit der Diagnose, ja?“

      „Ja, das ist korrekt. Und die Platzwunde am Kopf, die er sich beim Fallen zugezogen hat, haben wir inzwischen versorgt“, entgegnete Lambrecht.

      „Gut. Wissen wir sonst schon was über den Patienten?“

      „Nein, leider nicht. Er hat keinerlei Papiere bei sich gehabt.“

      „Aha, wieder mal ein Fall von ‚Unbekannter männlichen Person‘.“

      „Genau so haben wir ihn auch erst mal in die Dokumentation aufgenommen.“

      „Hmm . . . Wir wissen also weder, wer er ist noch woher er kommt“, murmelte Bernauer.

      „Nein, keine Ahnung“, entgegnete die Schwester, die dessen Sachen untersucht hatte, „aber das kann er uns ja vielleicht erzählen, wenn er wieder bei Bewusstsein ist.“

      „W e n n!“ wiederholte Dr. Bernauer betont langgezogen. „Und wenn nicht? Wenn hier zum Beispiel eine symptomatische Hypotonie oder Herzinsuffizienz vorliegt, dann kommt es zu einer Minderversorgung des Gehirns mit sauerstoffreichem Blut und dadurch zur Bewusstlosigkeit, die dann möglicherweise eine längerdauernde Verwirrtheit nach Wiedererlangen des Bewusstseins nach sich zieht. Und im Ernstfall wacht er gar nicht wieder auf.“

      „Oh!“ Die Schwester klang sichtlich erschrocken.

      Bernauer hatte ihre Betroffenheit sofort bemerkt. Es war aber gar nicht seine Absicht gewesen, sie zu verängstigen, denn er pflegte eigentlich eine von Teamgeist geprägte Arbeitsatmosphäre. Deshalb sprach er in versöhnlicherem Ton weiter: „Naja, es muss ja nicht gleich der schlimmste Fall eintreten. Jedenfalls müssen wir schnellstmöglich wissen, mit wem wir es hier zu tun haben, um eine Anamnese aufnehmen zu können. Und da der Mann offenbar im Koma liegt, was unter Umständen lange dauern kann, müssen auch die Angehörigen umgehend informiert werden. Ich werde mich gleich mal mit der Polizei in Verbindung setzen, damit die sich um seine Identifikation kümmern. Das kann ja nicht unsere Aufgabe sein.“

      Während er die Nummer wählte, beauftragte er Lambrecht, sich um die beiden verletzten Unfallopfer zu kümmern, die immer noch im Vorraum auf ihre Behandlung warteten. Dann wandte er sich wieder dem Unbekannten zu. Er übte verschiedene Schmerzreize auf den Patienten aus, um irgendeine Reaktion zu provozieren. Aber der Patient bewegte sich nicht, zeigte weder Schmerzreaktionen noch Schutzreflexe, auch keine Pupillenreaktion. Hier haben wir es offenbar schon mit einer Komatiefe vierten Grades zu tun, dachte er, eine schwere Hirnschädigung, das ist sehr bedenklich. Dann untersuchte er den ganzen Körper auf mögliche äußere Verletzungen oder besondere Merkmale, indem er den Kör-per des Mannes hin- und herwendete. Dabei entdeckte er schließlich eine merkwürdige kleine Stelle seitlich an dessen Brust, die er sich nicht erklären konnte. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Was könnte das sein, fragte er sich. Es sah für ihn so aus wie ein verblichener Abdruck eines Stempels oder etwas ähnliches. Er berührte die Stelle mit seinem Finger, und sie schien ihm leicht klebrig. Merkwürdig, dachte er.

      Während er noch so grübelte, kam Lambrecht herein und fragte ihn, ob es schon neue Erkenntnisse gebe. „Schauen Sie sich das mal an, Lambrecht“, antwortete er und zeigte dabei mit dem Finger auf die betreffende Stelle. „Haben Sie so etwas schon mal gesehen? Ich habe keine Erklärung dafür.“

      Lambrecht kam zu ihm und schaute sich die bezeichnete Stelle an. Dann schüttelte er den Kopf: „Nein, damit kann ich auch nicht wirklich was anfangen. Ich meine, beim Disko-Besuch bekommt man ja manchmal eine Markierung auf die Hand gedrückt, aber eben auf die Hand beziehungsweise auf den Handrücken. Doch nicht auf die Brust. Und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass dieser ältere Herr hier noch in Diskos geht.“

      „Schade, ich hatte gehofft, Sie könnten aufgrund Ihres jugendlichen Alters vielleicht Dinge kennen, mit denen man in meinem Alter üblicherweise gar nicht mehr in Berührung kommt. Na, gut. Vielleicht finden wir noch jemanden, der uns dabei helfen kann. Auf jeden Fall sollten wir gleich mal ein Foto davon machen, denn solche Hautabdrücke halten nicht ewig.“

      „Okay, das mache ich gleich“, antwortete Lambrecht. „Und haben Sie sonst noch etwas herausgefunden?“

      „Apropos herausgefunden: „Was ist mit den beiden Unfallopfern?“

      „Die sind gerade beim Röntgen. Ich gehe gleich wieder rüber und schaue mir die Aufnahmen an.“

      „Gut“, antwortete Bernauer. „Der vorliegende Fall hier ist sicher ernsthafter und schwieriger zu diagnostizieren. Denn in Anbetracht der Symptome kommen mehrere Ursachen infrage.“

      „Zum Beispiel?“

      „Vorbehaltlich einer gründlicheren Untersuchung könnte es sich zum Beispiel um ein Apallisches Syndrom handeln, also um einen funktionellen Ausfall der gesamten Großhirnfunktion oder zumindest sehr großer Teile. Dafür sprechen eigentlich alle Anzeichen. Wir wissen allerdings noch nicht, ob hier ein persistent oder permanent vegetative state vorliegt, das lässt sich erst nach längerer Beobachtung sagen.“

      „Also, Sie meinen, ob sein Zustand zumindest teilweise rückbildungsfähig ist oder ob er einen dauerhaften Schaden behält?“

      „Ja, das meine ich; das lässt sich im Moment nicht beurteilen. Und leider kennen wir auch die Ursache dafür noch nicht. Es könnte sich aber auch um ein Locked-in-Syndrom handeln. Die Abgrenzung gegen äußerlich so ähnliche Krankheitsbilder wie Koma und Locked-in-Syndrom ist nicht ganz einfach. Da gab es schon des Öfteren nachgewiesenermaßen Fehldiagnosen ...“

      Plötzlich wurde er durch die Ankündigung eines neuen Notfalls unterbrochen. Im Gehen sagte er noch zu Lambrecht: „Also, der Mann bleibt für heute sicherheitshalber in der Intensivstation unter Beobachtung. Die basalen Lebensfunktionen werden ja durch das autonome Nervensystem aufrechterhalten, und das funktioniert augenscheinlich einwandfrei. Darum brauchen wir uns vorerst keine Sorgen zu machen. Wir werden ihn dann morgen gründlich weiteruntersuchen.“

      „EEG und Kernspintomographie?“

      „Ja!“

      Lambrecht beugte sich noch einmal über den Patienten und musterte dessen Gesicht und insbesondere dessen geöffnete Augen, während er mit seinen Händen heftige Bewegungen direkt vor dessen Gesicht vollführte, um vielleicht doch irgendwelche Reaktionen, und wenn auch nur Augenzuckungen, zu provozieren. Aber auch er konnte keinerlei Reaktion feststellen. „Okay. Dann fotografiere ich jetzt das Brust-Mal unseres Unbekannten“, sagte er schließlich, während die Krankenschwestern das Bett in den Beobachtungsraum schoben.

      Zwei Stunden später war Oberkommissar Walter vom Kriminaldauerdienst, dem rund um die Uhr tätigen Bereitschaftsdienst der deutschen Kriminalpolizei, da, machte Fotos von dem Mann und ließ sich erzählen, was man über den Fall bisher wusste. „Das ist ja nicht viel“, sagte er nach einer Weile, „eigentlich gar nichts. Wo soll ich denn da zu suchen beginnen?“

      „Ja, wenn’s einfach wäre, dann hätten wir das auch selber geschafft“, entgegnete Lambrecht.

      „Ja, ja, ich weiß schon, dass es meine Aufgabe ist, den Mann zu identifizieren. Ich hoffe, die Fotos helfen uns weiter. ... Ähh ... Was hat er denn eigentlich angehabt?“

      „Nur Hemd und Hose.“

      „Kann ich die mal sehen?“

      Die Schwester reichte ihm die Sachen.

      „Hmm