Peter Beuthner

Außer Gefecht gesetzt


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Eindruck. Im Obdachlosen-Milieu müssen wir ihn schon mal nicht suchen, wie es aussieht. Wie groß ist der eigentlich, haben Sie das schon gemessen?“

      „Ja. Er misst 1,75 Meter.“

      „Einmeterfünfundsiebzig“, wiederholte Walter langsam, „augenscheinlich gut trainiert und ziemlich schlank für sein Alter. Angegrautes, aber noch volles Haar. Wie alt wird der sein, was schätzen Sie?“

      „Ich würde ihn als Ü50 einordnen“, antwortete Dr. Lambrecht.

      „Hmm, das könnte hinkommen“, stimmte Walter zu. „Und seine Kleidungsgröße, wie ist die?“ Dabei untersuchte er die Kleidungsstücke, die er gerade in den Händen hielt. „Aha, da haben wir’s ja: Größe L fürs Hemd und auch für die Hose. Und die Schuhgröße? Die ist – Moment – da: die ist 44. Braune Schuhe und Strümpfe, dunkelblaue Hose mit braunem Gürtel, weißes Hemd – alles von guter Qualität. Okay, die Sachen braucht er ja vorläufig nicht. Ich nehme sie mal mit. Vielleicht kann man da irgendetwas herauslesen, über die Herkunft zum Beispiel, vielleicht auch mehr. Und wenn er sein Bewusstsein wiedererlangt, rufen Sie mich bitte umgehend an.“ Er gab Lambrecht seine Visitenkarte und verabschiedete sich. An der Tür drehte er sich plötzlich um und fragte: „Fast hätte ich das Wichtigste vergessen. Gibt es eigentlich Zeugen für den Sturz?“

      „Keine Ahnung“, antwortete Lambrecht, und auch die Schwestern zuckten mit der Schulter. „Aber Sie können mal die Sanitäter und den Notarzt kontaktieren, die waren ja vor Ort“, schlug Lambrecht vor.

      „Okay, mache ich, danke! Die Namen können sie mir bestimmt unten bei der Rezeption sagen, denke ich. Also dann.“ Damit verließ Herr Walter den Raum.

      Nachdem er sich bei der Rezeption des Krankenhauses nach dem Notarzt und den Sanitätern, die den Patienten an der Unfallstelle aufgenommen und erstversorgt hatten, erkundigt hatte, suchte er diese auf und befragte sie nach Auffälligkeiten. Leider konnten sie ihm auch nichts darüber sagen, wie es zu dem Sturz des Mannes gekommen war. Denn als sie dort eintrafen, lag der Mann ja bereits längere Zeit am Boden. Und sein Zustand ist seither unverändert. Aber es gebe ja eine ganze Menge Zeugen des Unfalls, vielleicht könne sich noch jemand von denen daran erinnern und berichten, wie es zu dem Sturz kam. Doch wer waren die Zeugen? Es wurde ja niemand namentlich notiert.

      Da hilft wohl nur eine Pressenotiz, dachte sich Walter, und ging zu seinem Vorgesetzten, Hauptkommissar Freigang, um sich mit ihm abzustimmen. Dieser äußerte allerdings Bedenken: „In diesem Fall müssen wir erst mal die Vermisstenstelle des Bundeskriminalamtes einschalten.“

      Wieso muss man das gleich so „hochhängen“, hatte Walter gefragt. Man könne doch einfach mal eine Suchanfrage mit dem Foto des Mannes und der Bitte um sachdienliche Hinweise an die Redaktion der Regionalzeitung schicken. Im Übrigen gäbe es ja bisher gar keine Vermisstenmeldung. Vielmehr sei der Mann ja da, er müsse halt nur identifiziert werden.

      Woher wissen Sie denn, dass der Mann nicht doch schon als vermisst gemeldet ist, ohne dass wir Kenntnis davon haben, hatte Freigang ihm geantwortet. Dann belehrte er seinen jungen, manchmal etwas zu forsch auftretenden Kollegen: „Zu den Aufgaben der beim BKA angesiedelten Vermisstenstelle gehört nicht nur die Fahndung nach vermissten Personen, sondern auch die Identifizierung von unbekannten Leichen und unbekannten hilflosen Personen. Und letzteres, nämlich unbekannte hilflose Person, ist der vorliegende Fall. Das BKA muss also auf jeden Fall informiert werden. Dort werden alle entsprechenden Fälle in die INPOL-Datenbank, das Informationssystem der Polizei, eingepflegt und stehen dann allen deutschen Polizeidienststellen für Anfragen zur Verfügung. Zuständig für die Sachbearbeitung einer Vermisstenangelegenheit, auch für die Erhebung von Identifizierungsmöglichkeiten, bleibt jedoch grundsätzlich die Polizeidienststelle, in deren Be-reich die vermisste Person ihren Wohnsitz oder letzten Aufenthaltsort hatte – also in diesem Fall wir. Das heißt, wir machen pflichtgemäß Meldung ans BKA, fragen dort an nach möglicherweise passenden Vermisstenmeldungen und bearbeiten dann den Fall in eigener Regie weiter. In der Reihenfolge. Also, dann fangen Sie mal an.“

      „Aha! So läuft das. Wieder was gelernt“, murmelte Walter und machte sich an die Arbeit. Nachdem er von der Vermisstenstelle keinerlei Hinweise mit Bezug zum vorliegenden Fall erhalten hatte, schickte er eine Suchanfrage mit dem Foto des Mannes und der Bitte um sachdienliche Hinweise an die Redaktion der Regionalzeitung.

      In der Uni-Klinik war zwischenzeitlich wieder ein schwerverletzter Mann in sehr kritischem Zustand eingeliefert worden, der die sofortige Aufmerksamkeit von Bernauer und Lambrecht erforderte. Bernauer sagte scherzhaft: „Das geht ja heute wieder zu wie im Bienenkasten.“ Beide machten sich auf den Weg zu dem Neuzugang und begannen mit dessen Untersuchung.

      Mittwoch

      Am nächsten Tag, nach Erscheinen der Tageszeitung, meldeten sich mehrere Zeugen des Unfalls am Telefon, die zur fraglichen Zeit gerade an der Bushaltestelle „Neue Mitte“ gestanden und gesehen hatten, wie der Mann auf sie zu kam und dann plötzlich zusammenbrach. Fremdeinwirkung habe es nicht gegeben. Und eine Tasche oder ähnliches habe er nicht bei sich gehabt. Aber mehr konnten sie auch nicht berichten.

      „Das ist mehr als dürftig“, sagte Walter zu seinem Chef. „Wenn da nicht vielleicht doch noch jemand mit weiteren Informationen kommt, dann haben wir ein Problem.“

      „Na, so wie es aussieht, wollte er doch vermutlich zum Bus“, sagte Freigang nachdenklich. „Jedenfalls nach allem, was wir bisher wissen.“

      „Das glaube ich nicht, Chef. Der Mann hatte doch überhaupt kein Geld dabei – und auch kein Handy, mit dem er hätte bezahlen können.“

      „Hmm . . . ja, stimmt. .... Dann kann das doch eigentlich nur bedeuten, dass er entweder aus einem nahegelegenen Hotel oder aus einem der umliegenden Häuser kam“, kombinierte Freigang.

      „Oder er ist beziehungsweise war geistig verwirrt, möglicherweise dement, und irrte vielleicht schon eine Weile in der Stadt herum und kam dann zufällig gerade dort entlang, wo er stürzte“, wand Walter ein.

      „Ja, das können wir auch nicht ausschließen. So etwas kommt ja leider immer wieder vor, und wir müssen dann jedes Mal den Hubschrauber über der Stadt kreisen lassen, um den Verwirrten zu finden. Ein teurer Spaß. Aber wenn es so ist, dann bekommen wir wahrscheinlich bald eine Vermisstenmeldung, die uns weiterhilft. Vielleicht ist der ja auch einem Pflegeheim entlaufen? . . . Ach, sagen Sie mal, wie alt schätzen Sie den Mann eigentlich?“

      „Der behandelnde Arzt, ein gewisser Doktor Lambrecht, schätzte ihn gestern als Ü50 ein. Kann sein, aber so alt ist der vielleicht doch nicht. Ich schätze ihn eher auf etwa 45, höchstens 50 Jahre. Und dann hätte er ja bis zur Demenz sicher noch ein paar Jahre Zeit.“

      „Das kann sein, muss aber nicht! Also, ich sehe schon, wir tappen noch ziemlich im Dunkeln. Und solange wir keine weiterführenden Informationen haben, klappern Sie jetzt erstmal mit dem Foto die naheliegenden Hotels ab. Vielleicht werden wir ja doch da irgendwo fündig.“

      „Okay! Dann mach‘ ich mich mal auf den Weg“, antwortete Walter und ging.

      Er war noch gar nicht sehr lange weg, da rief ihn sein Chef an: „Also, Herr Walter, jetzt haben wir erste konkrete Hinweise. Der Mann ist tatsächlich hier im Hotel abgestiegen, und zwar im ‚Goldenen Rad‘. Die haben soeben hier angerufen. Da gehen Sie jetzt gleich mal hin und suchen in seinem Zimmer nach seinen Papieren und möglichen Auffälligkeiten. Außerdem hat sich hier gerade auch noch ein Herr Dr. Michael Forrester, ein Amerikaner, gemeldet und mitgeteilt, dass er derzeit zusammen mit unserem Patienten einen wissenschaftlichen Kongress an der Universität besucht. Unser Patient heißt demnach Dr. Steven McMorris, ist 48 Jahre alt und ebenfalls US-Bürger. Ich habe Mr. Forrester gebeten, möglichst bald bei uns vorbeizuschauen, um uns mehr über McMorris zu erzählen. Er schien sehr besorgt und hat mir zugesagt, nach dem nächsten Vortrag, etwa gegen 11.30 Uhr, herzukommen.“

      „Okay, danke. Bis dahin werde ich sicher auch wieder zurücksein. Ich bin jetzt gleich im ‚Goldenen Rad‘.“

      Im