eigenen Weg.
Die Zeit verging und der besagte Tag, an dem Solana das erste Mal zusammenkommen sollten, rückte immer näher.
Da schlich Solana sich eines Morgens aus ihrem Zimmer und tappte den dunklen Korridor entlang in Richtung der Zimmer, die für sie bis jetzt stets verboten gewesen waren.
Leise öffnete sie die erste Tür einen Spalt und schlüpfte hindurch. Sie horchte in die Stille, und als sie nichts hörte, zündete sie die Fackel an der Wand an. Jetzt konnte sie erkennen, dass sie sich in einem kleinen Raum befand, an dessen Hinterseite ein großer Tisch stand. An einem der Tischenden lag ein schweres Kissen – dick genug, um sich im Sitzen daran anzulehnen. Auf einem kleineren Tisch daneben waren fein säuberlich zusammengelegt mehrere Tücher neben einer großen Schüssel gestapelt.
Auf einem weiteren Beistelltisch stand ein größerer Korb. Solana wurde schlagartig klar, dass dies der Raum war, in dem die Kinder geboren wurden.
Sie beeilte sich, das Zimmer zu verlassen und geräuschlos die Tür hinter sich zu schließen. Im Dunkeln betrat sie das nächste Zimmer. Sie staunte nicht schlecht über das, was sie da sah: Die Felswände des ganzen Raumes waren mit Brettern versehen, auf denen mehrere Ballen mit Leinenstoff lagen, also dem Material, das die Gomas auch für ihre Bekleidung verwendeten.
Woher kam diese Menge an weichen, flauschigen Stoffen? Solana war sprachlos. In der Kammer befand sich auch eine Truhe, verborgen in einer dunklen Nische. Neugierig ging sie darauf zu und klappte den Deckel hoch. Sofort bekam sie große Augen.
In der Truhe lagen Männerkleider aus dunklem Stoff – und so etwas hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Wem das wohl gehörte? Daneben befanden sich Schuhe aus einem harten Material, ganz anders als die aus weichem dicken Stoff, die sie und das ganze Volk trugen.
Plötzlich hörte Solana Schritte. Rasch schloss sie die Truhe geräuschlos, huschte zur Tür und löschte die Fackel. Im nächsten Moment stand Janis neben ihr.
»Was machst du denn hier? Du weißt doch, dass es uns strengstens verboten ist, diese Räume zu betreten!«, schimpfte er sie.
»Das weiß ich doch – ich habe mich … mich verlaufen«, stotterte Solana.
»Wer’s glaubt! Wenn dich dein Vater oder einer der Wächter hier erwischt, bist du dran. Los, komm, lass uns verschwinden!«
Janis packte sie an der Hand und zog sie mit sich fort.
Während sie durch den Korridor liefen, plapperte Solana aufgeregt drauflos.
»Janis, ich habe in der Truhe etwas Sonderbares gesehen …«, fing Solana zu erzählen an. Aber ihr Begleiter winkte mit der Hand ab.
»Ich möchte nichts davon hören! Komm weiter, bevor uns noch jemand erwischt. Janis zog sie energisch mit sich.«
Erst als sie ihr Zimmer erreicht hatten, ließ er sie wieder los.
»Geh rein und denk über deinen Fehler nach. Und vor allem: Mach so etwas nie wieder! Früher oder später erwischt dich der Falsche«, ermahnte er sie noch einmal eindringlich.
»Bitte komm mit«, flüsterte Solana und zog ihn am Ärmel.
»Nein, das geht nicht. Schon vergessen? Wir dürfen ab jetzt nicht mehr allein in einem Zimmer sein«, belehrte sie Janis.
»So ein Blödsinn, was sollte denn passieren?«, schmollte sie.
Janis grinste sie an.
»Na, was wohl? Dreimal darfst du raten!«
»Ich glaub’s nicht! Gibt es in diesem Berg denn noch ein anderes Thema als unsere Verschmelzung?«, fragte sie genervt. Dann schlug sie ihm die Tür wütend vor der Nase zu, warf sich auf ihr Kissenlager und starrte missmutig an die Felsendecke. Sie wollte diese Verschmelzung nicht. Ihr ging das alles viel zu schnell.
Natürlich mochte sie Janis, aber es war die Art von Gefühlen, die man für einen lieben Bruder hatte. Bei seinem Wangenkuss heute, hatte sie allerdings eine Ahnung davon bekommen, dass es noch ein anderes Gefühl von Liebe gab – aber das musste sich erst entwickeln. Sie wünschte sich, es noch viel stärker zu spüren, erst dann würde sie sich mit der Verschmelzung anfreunden können. Mata kam herein.
»Was hast du mit Janis gemacht?«
»Nichts, warum?«, fragte Solana.
»Eben wirkte er auf mich regelrecht wütend. Er hat mich angerempelt und sich nicht einmal entschuldigt«, erklärte ihre Mutter.
»Was weiß ich, welche Laus ihm über die Leber gelaufen ist«, entgegnete Solana achselzuckend.
»Hör mal, meine Tochter, ich weiß genau, dass du ihn verärgert hast. Du wirst dich bei ihm entschuldigen – verstanden?«, befahl Mata streng. Solana brummelte ein genervtes »Ja, ja, ja …« zurück, denn sie wusste, dass ihre Mutter nicht gehen würde, bevor sie nicht dieses kleine Wörtchen mit zwei Buchstaben von ihr gehört hatte.
Als sie endlich allein war, lümmelte sie sich wieder in ihre Kissen und starrte an die Decke. Viele Dinge gingen ihr durch den Kopf, aber vor allem zu einem Punkt kam sie immer wieder zurück.
Bevor sie der Verschmelzung mit Janis zustimmen würde, wollte sie etwas erleben. Sie hatte vor, sich endlich den Berg anzusehen, den sie seit ihrer Geburt vor siebzehn Jahren bewohnte und von dem sie bis jetzt nur einen Bruchteil kannte. In der kommenden Nacht, wenn alle schliefen, würde sie ihren ersten Gang wagen.
Am meisten lockte sie das Zimmer der Verurteilten, von dem man sich hinter vorgehaltener Hand viele Schauergeschichten erzählte. Außerdem wollte sie die zahlreichen Produktionsräume sehen, in denen ihre Kleidung gefertigt und das Essen zubereitet wurde. Nie hatte sie erlebt, welche Prozeduren ein Lebensmittel durchlief, ehe es auf den Tisch kam, denn sie sahen stets nur die fertig zubereiteten Speisen.
Dieser Berg steckte voller Überraschungen und sie wollte diese unbedingt auskundschaften – schließlich war sie die Tochter des Anführers und musste über solche Dinge Bescheid wissen. Gedankenverloren nickte Solana wie zur Bekräftigung, dann drehte sie sich zur Seite und schlief ein.
Sie hatte über eine Stunde geschlafen, als sie ein Geräusch vernahm und aufschreckte. Ihr Vater hatte das Zimmer betreten und rief jetzt mit donnernder Stimme: »Was ist los, meine Tochter? Kommst du heute nicht zum gemeinsamen Mittagsmahl?«
»Es tut mir leid, ich muss eingeschlafen sein«, flüsterte Solana beschämt.
Sota reichte ihr beide Hände und zog sie vom Kissenlager hoch. Er schob sie vor sich her aus dem Zimmer und sie schritten den kahlen Korridor entlang, der von vereinzelten Wandfackeln spärlich beleuchtet war.
»Das war hoffentlich das erste und das letzte Mal! Was glaubst du, wie peinlich mir das war? Meine Tochter erscheint nicht pünktlich zum Mittagsmahl! Tz..tz..tz …« dabei schüttelte Sota seinen Kopf.
»Verzeih Vater, es wird nicht mehr vorkommen«, flüsterte Solana beschämt und lief hinter ihrem Vater her.
Wenig später betraten sie den großen Speisesaal, in dem bereits alle an den Tischen saßen und warteten.
Neugierige Blicke verfolgten Solana, als sie sich setzte.
In ihr stieg bereits wieder der Zorn hoch. Sie verabscheute es, der Mittelpunkt des Berges und aller Leute Gesprächsstoff zu sein. Warum zerrissen sie sich ausgerechnet über sie die Mäuler? Zahllose junge Mädchen wurden zu Frauen, ohne dass dies derart hochgespielt wurde. Nur weil sie die Tochter des Anführers war, machte man so ein Spektakel daraus.
Ihr Blick traf den von Janis und der grinste sie fast unverschämt an. Der Vater eröffnete unterdessen das Mittagsmahl mit seinem täglichen Ausspruch:
»Stärkt euch … und arbeitet heute für den Erhalt unseres Volkes.«
Solana nahm ihren Löffel und tauchte ihn in den Brei, zum Essen trank sie einen Becher heiße Ziegenmilch. Als sie ihn zur Hand nahm, wurde sie stutzig und hielt inne. Plötzlich musste sie daran denken, dass sie noch nie eine Ziege gesehen