tiefes Loch gefallen. Mehrere Stunden hatte sie damals in der Kälte ausharren müssen, bis Rettung gekommen war. Seitdem hatte sie eine Höllenangst davor, Wege zu betreten, die sie nicht klar vor sich sehen konnte.
Solana kniff angestrengt die Augen zusammen. Sie brauchte bald einen Unterschlupf, sonst würde sie total durchnässt werden.
Vorsichtig tastete sie sich weiter. Der Boden wurde etwas gleichmäßiger, aber auch härter. Sie spürte kleine Steinchen unter den Füßen, die sich bei jedem Schritt durch ihre dicken Stoffschuhe bohrten. Sie musste auf der Hut sein, damit sie nicht ausrutschte und stürzte.
Nur langsam kam sie vorwärts und die Kleider hingen ihr mittlerweile feucht am Körper. Auch der Wind hatte an Intensität zugenommen und blies ihr unfreundlich ins Gesicht. Solana fröstelte und bereute ihre Entscheidung, das Felsenlabyrinth der Gomas verlassen zu haben, zutiefst. Plötzlich hörte sie rechts von sich das Rauschen eines kleinen Baches. Solana ging dem Plätschern nach, und als sie vor dem Bächlein stand, erkannte sie schemenhaft ein großes Loch in dem massiven Felsen unmittelbar dahinter.
»Ob ich da drin wohl Schutz suchen kann?«, fragte sie sich. Nass war sie sowieso schon, also konnte sie ebenso gut durch den Bach waten. Solana zog ihre Schuhe aus und durchquerte langsam den nassen Strudel.
Der Bach war nicht tief, er bedeckte gerade einmal ihre Knie, nur die Steine im Wasser waren glitschig und sie musste aufpassen, dass sie auf ihnen nicht ausrutschte. Als sie wieder aus dem Bach gestiegen war, tastete sie sich vorsichtig in die Höhle hinein. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass sie nicht sonderlich tief war.
Solana holte trockene Kleider aus ihrem Beutel und zog sich um. Schon nach kurzer Zeit war ihr nicht mehr kalt. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte sich an den Felsen. Dann schloss sie die Augen und horchte auf das Plätschern des Baches und das Rauschen des Windes.
Sie dachte an Janis. Würde er sehr enttäuscht und traurig sein, oder würde er sie gar für ihr Weglaufen hassen? Dann kam ihr die Mutter in den Sinn und Tränen stiegen in ihr hoch. Ein paar von ihnen bahnten sich den Weg über ihre Wangen und sammelten sich oberhalb ihrer Lippen. Solana leckte sie mit der Zunge ab – sie schmeckten salzig.
Sie dachte an Janis’ Kuss und war sich sicher, dass er ein liebevoller Mann geworden wäre. Sie ertappte sich sogar dabei, dass sie ihn ein wenig vermisste.
Solana hätte gern geschlafen, aber sie war so aufgeregt, dass es ihr nicht möglich war. Zu sehr fieberte sie dem Morgengrauen entgegen, denn sie war gespannt, wie es hier aussah. Würde die Sonne sie verbrennen, falls sie schien? Gab es in der Gegend ein Volk, das dem der Gomas ähnelte, oder würde sie mutterseelenallein bleiben?
Sie hatte unendlich viele Fragen und sie war so mit ihnen beschäftigt, dass sie die aufgehende Morgensonne nicht bemerkte.
Plötzlich kreischte ein Vogel und sie zuckte erschrocken zusammen. Was war das? So etwas hatte sie noch nie gehört. Das Herz klopfte ihr erneut bis zum Hals und ihre Hände waren eiskalt, aber feucht.
Um sie herum wurde es langsam heller und sie konnte ihre allernächste Umgebung erkennen. Sie stand auf und trat vor die Höhle. Da flog auch schon ein großes schwarzes Ungetüm an ihr vorbei und gab dabei furchterregende kreischende Laute von sich.
Erschrocken sprang Solana zurück in die Höhle und lugte ängstlich durch die Öffnung. Auch andere, kleinere Wesen flogen vorbei und machten dabei zwitschernde Geräusche.
Was mochten das für Kreaturen sein? War es das Volk dieses Landes?
Plötzlich fiel ein schmaler heller Lichtstreifen in die Höhle. Solana sah zu dem Berg, den sie in der Ferne erkennen konnte, und beobachtete mit Spannung, wie ein kraftvolles Strahlenbündel hinter dem Gipfel aufstieg.
»Jetzt kommt die Todessonne«, flüsterte sie ehrfürchtig und wünschte sich, dass sie im Felsenlabyrinth der Gomas geblieben wäre.
Vor der Höhle standen mächtige Bäume und verhinderten, dass die Sonne ganz in die Öffnung des Felsens fallen konnte. Mit ihren üppigen Ästen und Blättern spendeten sie der Höhle zusätzlichen Schatten.
Solanas Magen knurrte, aber sie brachte vor Aufregung keinen Bissen hinunter. Wie gebannt sah sie auf den schmalen Sonnenstreifen, der vor ihre Füße fiel. Sie musste unbedingt herausfinden, ob die Sonne sie wirklich verbrennen würde. Wie sollte sie das nur anstellen?
Einfach aus der Höhle treten? Nein, das war ihr viel zu riskant, sie würde womöglich verbrennen.
Ganz in Gedanken spielte Solana mit dem Saum ihrer weißen Tunika. Ihr Blick fiel auf ihre Hände. Da hatte sie plötzlich einen grandiosen Einfall.
Auf welche Hand könnte sie eventuell verzichten? Sie dachte einen Moment nach, dann war sie sich sicher, es war die Hand auf der Seite ihres Herzens. Ängstlich stand sie auf und führte diese Hand zitternd ganz langsam zum Lichtstreif. Kurz bevor sie ihn erreichte, zog sie sie jedoch schnell wieder zurück. Ihr Herz pochte wild und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Solana hatte fürchterliche Angst. Würde sie den Schmerz überhaupt ertragen können?
Was würde anschließend mit ihrer Hand passieren? Würde sie höllisch schmerzen oder einfach abfallen?
Der Lichtstreifen wurde schmäler, denn die Sonne wanderte weiter. Solana wusste, dass sie sich jetzt überwinden musste. Sie nahm ihren restlichen Mut zusammen und startete einen neuen Versuch. Mit geschlossenen Augen streckte sie ihren Arm aus.
Aber nichts passierte, außer dass sie wohlige Wärme auf ihrer Haut spürte. Verwundert öffnete sie die Augen und erkannte mit Freuden, dass die Sonne ihre Hand und einen Teil ihres Armes bestrahlte, ohne dass etwas Schlimmes passierte.
»Was für eine angenehme Wärme!«, jubelte sie begeistert. Glücklich lief Solana hinaus und ließ sich von der Sonne bescheinen. Dabei kniff sie ihre Augen zusammen, denn sie konnte die unheimliche Helligkeit um sie herum kaum ertragen.
Nach einer Weile ging sie zurück in ihre Höhle und setzte sich auf den Boden. Endlich hatte sie Appetit bekommen, also packte sie ihre Vorräte aus, brach sich ein Stück Fladen ab und aß ihn genüsslich.
Nach dem Essen spürte sie, wie trocken ihre Kehle war. Ob das Wasser vor der Höhle dasselbe war wie das Wasser im Berg der Gomas?
Solana stand auf, ging hinaus zum Bächlein und bückte sich. Sie nahm etwas Wasser mit der Hand auf und kostete davon.
»Mmmh … fein das schmeckt wie bei uns!«, rief sie fröhlich aus. Jetzt hatte sie immerhin schon eine Unterkunft, in der sie schlafen konnte, und Wasser zum Trinken. Als Nächstes musste sie herausfinden, wie sie an Essbares kam, denn ihre Vorräte würden nicht mehr lange reichen. Solana war überzeugt, dass ihr auch das mühelos gelingen würde.
Stolz stieg in ihr auf, denn sie hatte sich in der fremden Welt bereits recht gut organisiert, und das ganz alleine – ohne Hilfe der Gomas.
Satt und zufrieden sah sie sich nach allen Seiten um.
Die Sonne stand hoch am Himmel und Solana sah zu den umliegenden Bergen. Alles war grün, bis auf ein paar Felsen, die aus dem Boden ragten. Am liebsten wäre sie gleich losgelaufen, um diese wunderschöne Umgebung zu erkunden, aber ihre Augen schmerzten zu sehr in dem gleißenden Tageslicht.
Sie würde abwarten müssen, bis es nicht mehr ganz so hell war, und ihren Erkundungsgang dann erst beginnen.
Also setzte sie sich in die Höhle und beschloss ein wenig über ihr Leben nachzudenken. Aber während sie nach draußen sah und die Blätter der Bäume beobachtete, fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.
Solana erwachte, als sie ein Kitzeln auf ihrer Hand spürte. Sie sah ein kleines Wesen, das über ihren Handrücken lief und im nächsten Moment abhob und wegflog. Was war das? Sie sah ihm neugierig nach, schließlich hatte sie noch nie eine Fliege gesehen. Sie war neugierig und bei Weitem nicht mehr so ängstlich wie bei ihrer Ankunft.
Schließlich wusste sie, dass ihr die großen Wesen, die sich in der Luft bewegten, nichts taten –