Silke May

Treppe zum Licht


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ausgestreckten Hand anfangen sollte. Schließlich hielt sie ihre eigene Hand ebenso vor sich wie Alwin und sah überrascht, dass er nach ihrer Hand griff und sie sanft umklammerte.

      Sie spürte die wohlige Wärme, die von seiner Hand ausging.

      »Warum isst du nicht lieber die Erdbeeren?«, fragte er und deutete auf die kleinen Pflanzen, die unterhalb des Busches wuchsen und ebenfalls rote Früchte trugen. Skeptisch sah sie ihm zu, wie er sich hinkniete, ein paar davon pflückte und sie ihr hinhielt. Er lächelte sie ermutigend an, während sie ihm zögerlich ihre Hände entgegenstreckte und ihn die Beeren hineinlegen ließ.

      »Hier, probier mal – die sind schön süß«, forderte er sie auf.

      Zögerlich nahm Solana eine Beere und kostete sie. Tatsächlich mundete sie ihr so sehr, dass sie sofort eine weitere nahm und sich dann gar den Rest auf einmal in den Mund schob.

      »Mmmh … fein.«

      Alwin setzte sich neben sie ins Gras und pflückte noch ein paar Beeren, um sie ihr zu reichen.

      »Lass sie dir schmecken«, sagte er fröhlich und fragte:

      »Woher kommst du? Ich habe dich noch nie hier gesehen.«

      Solana deutete den Berg hinauf.

      »Von dort.« Alwin grinste.

      »Nein, ich wollte eigentlich wissen, wo du lebst«, hakte er nach. Solana verstand nicht, was er meinte. Schließlich kam sie aus dem Berg und wohnte jetzt auf dem Berg. Was für eine Erklärung wollte er denn noch haben?

      »Ich komme aus dem Berg und lebe jetzt auf dem Berg«, sagte sie deshalb so klar und deutlich, als würde sie mit einem Begriffsstutzigen sprechen. Doch Alwin sah sie nach wie vor mit fragendem Blick an.

      »Habe ich dich richtig verstanden?« rätselte er und wiederholte Solanas Worte dann in derselben überdeutlichen Tonlage, was sie mit einem zustimmenden: »Ja, genau - du hast es erfasst« bekräftigte.

      »Das musst du mir näher erklären ..., wie kann man in einem Berg leben?«, fragte Alwin neugierig und Solana erklärte ihm daraufhin alles ausführlich. Sie erzählte ihm die ganze Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Flucht, und schließlich berichtete sie auch von ihrem Vater und der bevorstehenden Verschmelzung mit Janis. Ihr Zuhörer kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er konnte kaum glauben, dass er ein Mädchen vor sich hatte, das bis vor zwei Tagen noch nie das Tageslicht gesehen hatte. Als Solana fertig erzählt hatte, dachte er nach.

      »Du kannst also nicht mehr nach Hause, weil das Risiko zu hoch wäre. Am Ende würden sie dich noch töten! Wie soll dein Leben denn jetzt weitergehen?« Mit nachdenklichem Blick sah sie ihn aus ihren schwarzen Augen an.

      »Ich weiß nicht … vorläufig habe ich ja einen Unterschlupf in der Höhle.«

      »Das mag sein, aber bald kommt der Herbst. Wir haben jetzt schon gleich Anfang September«, gab Alwin zu bedenken.

      »Was ist der Herbst?«, fragte Solana. Entsetzt schüttelte der junge Mann den Kopf.

      »Puh … ich habe so das Gefühl, das ich dir eine Menge Dinge erklären muss, damit du in meiner Welt zurechtkommst. Hast du heute eigentlich außer diesen Beeren schon etwas gegessen?« Solana nickte.

      »Ich habe von zu Hause ein Fladenbrot mitgebracht. Aber für heute Abend muss ich mir etwas suchen, denn der letzte Rest ist für mein Frühstück morgen.«

      »Dann würde ich vorschlagen, wir setzen uns ein Stückchen näher zu den Erdbeeren. Du kannst nebenbei essen, während ich dir ein bisschen was erkläre«, schlug Alwin vor.

      Sie gingen ein paar Meter in Richtung Sträucher, ließen sich dort nieder und Solana begann sofort damit, die roten Früchte zu pflücken und mit Genuss zu verspeisen, während Alwin zu sprechen begann.

      »Nun gut … das, was du gerade isst, sind Erdbeeren, eine Fruchtsorte. Es gibt verschiedene Sorten Beeren, aber dazu komme ich ein anderes Mal. Im Moment interessiert mich nämlich das, was uns betrifft, viel mehr. Mein Volk nennt man Menschen – und deines?«

      »Mein Volk sind die Gomas«, erwiderte Solana, und in der Folge tauschten sich beide ausführlich über ihre Völker aus. Dann erzählte ihr Alwin von der Beschaffenheit der Natur, dem Rhythmus der vier Jahreszeiten sowie von besonderen Gefahren wie zum Beispiel starken Gewittern. Er erklärte ihr, wie sie sich im Ernstfall verhalten sollte, sprach aber auch von schönen Naturereignissen wie bunten Blumen und Schneebällen und machte ihr jede Menge Mut.

      Schnell erkannte Solana, dass das Leben außerhalb des Berges gar nicht so kompliziert war. Solana fragte sehr viel, berichtete aber auch vom Leben der Gomas, sodass dann Alwin derjenige war, der sie mit Fragen löcherte. Plötzlich sprang er auf.

      »Meine Güte, ich habe ganz vergessen, dass ich Tannenholz holen soll. Mein Vater räuchert Schinken und dafür braucht er reichlich davon. Kommst du mit? Wir könnten uns auf dem Weg weiter unterhalten.«

      »Gerne! Aber nur wenn ich wieder heimfinde«, machte Solana zur Bedingung. Alwin reichte ihr seine Hand und zog sie hoch.

      »Natürlich, wir kommen am Ende wieder hierher – versprochen.«

      Gemeinsam stiegen sie den Berg hinauf und Solana genoss die schöne Aussicht. Als sich ein kreischender Vogel in die Luft erhob, zuckte sie zusammen und fragte erschrocken:

      »Hilfe, was ist das?«

      »Das ist ein Vogel, genauer gesagt eine Krähe, und sie ist keine Gefahr für uns«, erklärte ihr Alwin.

      »Wie alt bist, du eigentlich?«

      »Ich bin siebzehn Jahre und du?«

      »Ich bin neunzehn Jahre alt und denke noch nicht ans Heiraten, wie man bei uns dazu sagt. Bei eurer Verschmelzung seid ihr wirklich noch sehr jung.«

      Solana nickte. Sie sah zu einem Baumstumpf, neben dem ein schöner roter Pilz wuchs.

      »Kann man das da essen?«, wollte sie wissen.

      »Nein, Solana, von diesen Gewächsen lässt du besser die Finger. Sie heißen Pilze und sehr viele von ihnen sind ungenießbar oder sogar giftig. Ich zeige dir morgen noch ein paar Früchte, die du essen kannst. Vorläufig bleibst du bei den Erdbeeren, einverstanden?«

      Prüfend sah er sie an und wartete auf eine Antwort.

      »Ja, das mache ich, ganz bestimmt.«

      Nach einem längeren Fußmarsch erreichten sie die Stelle, an der das vorgeschnittene Holz aufgeschichtet lag. Alwin zog sein Hemd aus und fing damit an, die vorbereiteten Stücke in kleinere Teile zu brechen. Solana beobachtete ihn dabei. Sie bewunderte seine braune Haut und das Spiel seiner Muskeln bei jeder Bewegung. Ihr gefiel dieser Mann, er war so ganz anders als Janis. In seiner Gegenwart fühlte sie sich geborgen und beschützt.

      Alwin legte das zerkleinerte Holz in einen Leiterwagen und zog sein Hemd wieder an. Dann machten sie sich mit dem Gefährt auf den Weg den Berg hinunter.

      Die Sonne verschwand schon hinter den Bergen, als sie beim Schafpferch ankamen.

      »Solana kommst du morgen wieder hierher?«, fragte Alwin mit einem Blitzen in den Augen und die junge Frau entgegnete begeistert:

      »Ja, gerne! Wenn die Sonne so steht wie heute?«

      »Einverstanden, ich freue mich schon.«

      »Warte hier bitte noch einen Augenblick auf mich.

      Ich bin gleich wieder da!«, sagte Alwin und lief mit schnellen Schritten zum Haus. Er verschwand für eine Weile und kam dann mit einem kleinen Beutel und einer Kanne wieder heraus zu Solana.

      »Schau, hier hast du eine Kanne Milch zum Trinken. In das Säckchen habe ich ein bisschen Brot und Käse gepackt und dazu ein wenig Obst«, erklärte er und gab ihr die Sachen in die Hand. Solana nahm das Essen entgegen und grinste ihn an.

      »Das reicht ja ewig«, erwiderte sie begeistert.

      »Na ja, es würde dir nicht schaden,