Silke May

Treppe zum Licht


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hörten alle auf, zu essen. Irgendjemandem fiel sogar der Löffel aus der Hand. Noch nie hatte jemand gewagt nachzufragen, woher ein Lebensmittel kam. Über diese Dinge wurde bei den Gomas nicht gesprochen. Sofort ermahnte ihre Mutter sie laut und schüttelte entsetzt den Kopf.

      »Das hat dich überhaupt nicht zu interessieren, meine Tochter! Kümmere dich lieber um deine eigenen Pflichten!«

      Aber anstatt mit verschämtem Blick in sich zu gehen, entgegnete Solana schnippisch:

      »Vielleicht ist es ja überhaupt keine Ziegenmilch? Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was ich täglich in mich hineinstopfe!«

      Janis verbiss sich das Lachen, während Mata einen hochroten Kopf über den Ungehorsam ihrer Tochter bekam. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was in das Mädchen gefahren war, denn bisher war Solana stets brav und höflich gewesen. Hilfe suchend sah sie Sota ihren Mann an.

      Sota warf Solana einen strengen Blick zu.

      »Man staune, meine Tochter zweifelt unsere Worte an! Dazu glaubt sie, dass es ihr Recht sei, unser mittägliches Mahl zu stören. Iss und trink, ohne dir solche Gedanken zu machen – oder verlasse sofort den Saal!«, polterte er los.

      Alle sahen gespannt zu Solana. Es herrschte absolute Ruhe – man hätte eine Nadel fallen hören. Solana verzog wütend das Gesicht. Sie warf ihren Löffel in die Schüssel, dass es klirrte und der Brei nur so spritzte, dann stand sie geräuschvoll auf, indem sie den Stuhl einfach nach hinten wegschob, und verließ den Speiseraum. Schmollend ging sie durch die Korridore in ihr Zimmer und blies dort weiter Trübsal.

      Nach kurzer Zeit wurde stürmisch die Tür geöffnet und Mata trat ein.

      »Sag Kind, was ist denn nur in dich gefahren?«, schrie sie Solana an.

      »Willst du deinen Vater vor seinem Volk bloßstellen? Als Tochter des Anführers hast du eine Vorbildfunktion und solltest dich dementsprechend benehmen! Aber was machst du? … Du beschwerst dich, noch nie eine Ziege gesehen zu haben! Und dann, noch schlimmer, zweifelst du sogar unsere Milch an! So benimmt sich niemand, der einmal ein Volk regieren soll! Solana, du wirst dich bei deinem Vater und beim ganzen Volk für dein ungebührliches Verhalten entschuldigen!«

      »Nein, das werde ich nicht!«, wehrte Solana ab und hielt dagegen:

      »Wie soll ich später das Erbe meines Vaters antreten, wenn ich noch nicht einmal weiß, wie eine Ziege aussieht?«

      »Jetzt reicht es mir!Du bleibst so lange in deinem Zimmer, bis du wieder zu Vernunft gekommen bist. Dann wirst du dich in aller Form entschuldigen!«, beendete Mata die Diskussion und verließ das Zimmer so leise, wie sie es betreten hatte – ohne sich noch einmal nach ihrer Tochter umzudrehen.

      »Entschuldigen! Wofür sollte ich mich denn entschuldigen?«, schimpfte Solana bockig vor sich hin und vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Da wurde die Tür erneut geöffnet und Janis kam mit einem Krug und einem Brotlaib herein.

      »Das hast du ja toll hingekriegt! Noch dümmer konntest du dich wohl nicht anstellen, oder? Jetzt hast du Arrest bis zu unserer Verschmelzung«, berichtete er, stellte den Krug neben ihr Kissenlager und legte das Brot daneben.

      »Beides ist essbar – oder willst du das etwa auch noch anzweifeln?«

      Solana schlug mit dem Bein nach ihm.

      »Verschwinde! Lass mich in Ruhe!«

      »Teil dir das Brot gut ein. Es könnte sein, dass du erst am Tag unserer Verschmelzung wieder etwas zu essen bekommst.«

      Mit diesen Worten verließ Janis das Zimmer und Solana begann, zornig zu weinen. Irgendwann schlief sie ein, und als sie wieder erwachte, vermutete sie, dass sicherlich einige Stunden vergangen waren.

      Leise schlich sie sich aus ihrem Zimmer und trat auf den Korridor hinaus. Dort horchte sie, ob sie ein Geräusch vernahm, und erkannte das leise Klappern von Geschirr. Wie spät mochte es wohl sein? Ob die anderen schon beim Abendmahl waren? Solana hörte die Stimme ihres Vaters:

      »Vermehrt euch heute … für den Erhalt unseres Volkes.«

      Jetzt wusste sie, dass das Abendessen bereits beendet war, und kehrte schleunigst in ihr Zimmer zurück. Sie musste damit rechnen, dass ihre Eltern noch einmal nach ihr sehen würden.

      Eine ganze Weile wartete Solana darauf, dass jemand kam, aber niemand ließ sich sehen. Sie war schon ganz steif vom angespannten Daliegen.

      Schließlich stand sie auf und streckte sich, dann trank sie ein Glas Wasser und brach sich eine Ecke vom Brot ab. Stück für Stück schob sie diese in den Mund und überlegte dabei, was sie nun machen sollte. Eines wusste sie genau: In diesem Zimmer zu versauern käme für sie keinesfalls infrage. Wenn sie schon büßen musste, dann wollte sie auch wissen wofür. Sie würde jetzt auf jeden Fall auf Entdeckungsreise gehen und zumindest diese Ziege suchen.

      Vorsichtig verließ sie ihr Gefängnis und lief bis zur Tür des elterlichen Zimmers. Seltsame leise Geräusche drangen dort an ihr Ohr.

      Während sie weiter den Gang entlang schlich, stellte sie fest, dass sich offenbar in allen Zimmern Ähnliches abspielte. Die Laute, die sie vernahm, ähnelten sich überall. Anscheinend kamen alle brav den Anweisungen ihres Vaters nach und verschmolzen miteinander.

      Solana schüttelte sich beim Gedanken daran, denn sofort musste sie an die Nacht denken, die ihr selbst bevorstand.

      Schnell erreichte sie das Ende des ihr vertrauten Bereichs und ging, ohne anzuhalten, weiter in den Berg hinein. Auf ihrem Ausflug ins Unbekannte horchte sie an jeder Tür.

      Jedes Mal, wenn sie nichts hörte, machte sie sie leise auf und warf einen Blick in das Zimmer dahinter. Auf diese Weise öffnete Solana etliche Türen, aber sie entdeckte nichts Interessantes dabei.

      Die Zimmer im Hauptkorridor des Berges waren alle gähnend leer. Deshalb entschied sie sich bei der nächsten Weggabelung für einen schmalen, dunklen Seitengang. Als sie ihn betrat, war ihr zwar etwas unheimlich zumute, denn sie konnte alles nur schemenhaft erkennen, aber schließlich siegte ihre Neugier.

      Sie ging ein paar Schritte in die Dunkelheit und stellte fest, dass der Gang dort bereits endete. Es gab nur zwei gegenüberliegende Türen. Solana horchte in die Stille und öffnete dann eine davon einen Spaltbreit. Vorsichtig lugte sie in das Zimmer.

      Alles war ruhig und Kälte schlug ihr entgegen, vermischt mit einem eigenartigen Geruch. Dies weckte ihre Neugier.

      Sie trat in den Raum und zündete die Fackel neben der Tür an. Als sie sich an den Schein des Lichts gewöhnt hatte, erschrak sie fürchterlich. Solana war aber klug genug, dass sie sofort erkannte, was sie in diesem Raum sah und roch.

      An den Wänden hingen an großen Haken enthäutete halbierte Tierhälften. Das Fleisch war blutunterlaufen und Solana ekelte sich fürchterlich. Schnell löschte sie die Fackel und verließ den Raum. Hier wurde also offenbar das Fleisch für die Speisen aufbewahrt, aber wo kam es her? Wo befanden sich diese Tiere im lebenden Zustand und was waren das für Tiere? In diesem Augenblick war es Solana klar, dass sie niemanden fragen konnte, ohne dass sie erneut unangenehm auffiel.

      Solana schlich zur anderen Tür und öffnete auch diese vorsichtig. Als sie mit ihrer Fackel den Raum erhellte, konnte sie sofort erkennen, dass hier Essen zubereitet wurde. In seiner Mitte stand ein großer Tisch mit Behältern, die aus demselben Material wie ihr Essbesteck gefertigt waren. An den Seiten des Zimmers gab es zwei Feuerstellen, dort erhitzte man wohl das Essen. Die Wände waren mit Brettern versehen, auf denen viele Schüsseln, Teller und Becher standen.

      Am liebsten hätte sie sich länger dort aufgehalten und alles genau betrachtet, aber dafür hatte sie keine Zeit.

      Die Nacht war kurz und sie musste zurück in ihrem Zimmer sein, bevor die anderen aufstanden. Auch hier vergaß sie nicht, die Fackel wieder zu löschen, dann lief sie zurück, um in den nächsten dunklen Gang einzubiegen. Ihre Neugier war nun endgültig geweckt und sie wollte unbedingt jedes Zimmer kennenlernen.

      Zu einem späteren Zeitpunkt konnte sie dann an die