Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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mich das Schrillen der Zikaden und vermischt sich mit dem Duft nach Pinien, Oleanderblüten und heißem Sand zu einem einzigen, guten Gefühl: Urlaub!

      Neugierig schaue ich nach allen Seiten, um zu sehen, ob ich jemand Bekanntes entdecke. Bis jetzt sieht es nicht gut aus, aber ich bin einfach zu schlapp, jetzt den ganzen Platz abzulaufen, um meine Freundinnen zu suchen. Ein wenig betrübt schlendere ich weiter zum Meer.

      Es ist immer wieder schön, auf den freien Strand hinauszutreten. Der nach Salzwasser duftende warme Wind umspielt meinen verschwitzten Körper und lässt ihn frösteln. Obwohl mir von der Fahrt noch ganz heiß ist, schaudere ich einen Moment und überlege, ob ich wirklich ins Wasser gehen soll. Aber schließlich löse ich mein Haargummi, ziehe mein Top und die Hotpants aus, lasse sie beim Handtuch und den Badelatschen liegen, renne los und stürze mich nach einer kurzen Abkühlung mit einem Kopfsprung ins Meer.

      Das warme Wasser umfängt mich wie eine gute alte Freundin, gleitet an meiner Haut entlang und lässt sie in einer leichten Gänsehaut erstarren, während ich tauche. Prustend komme ich wieder hoch, streife meine nassen Haare nach hinten und schaue mich um.

      Es sind nicht mehr viele Leute am Strand. Die meisten duschen wohl schon und machen sich fertig für das Abendessen. Ein älteres Ehepaar hockt auf seiner Decke und unterhält sich. Zwei Jungen spielen noch bei den Felsen rechts von mir. Ich erkenne Paul, Didiers Freund vom letzten Jahr. Also ist seine Schwester Celine wohl auch da, denke ich. Ich kann sie zwar nicht wirklich leiden, aber vielleicht bin ich in der letzten Woche ja doch nicht ganz alleine hier.

      Im Wasser ist außer mir niemand mehr. In schnellen Zügen schwimme ich zurück zum Strand und nehme meine Sachen mit zu der Dusche am Eingang zum Campingplatz.

      Natürlich steht Monsieur Bardane noch bei unserem Platz und redet auf meine Eltern ein, die sich abschuften, um das Vorzelt mit ein paar Spannleinen in eine einigermaßen akzeptable Form zu zwingen. „... lauter Turnschuhe in der Waschmaschine“, höre ich ihn sagen. „Und dann musste die Platzleitung die Maschine auch noch ...“

      Ich schalte meine Ohren auf Durchzug und helfe Didier, das alte Zweikabinenzelt aufzubauen, das jedes Jahr für ein paar Wochen unser Zuhause ist. Unser Auto ist schon mit einer großen, weißen Plane abgedeckt, damit die Sonne es tagsüber nicht allzu sehr aufheizt. Eingemottet! Dafür steht die Blaue Elise jetzt neben dem Wohnwagen. Wahrscheinlich freut sie sich schon auf die belustigten Blicke der Passanten, wenn wir unterwegs sind. Ich freue mich jedenfalls nicht darauf.

      Elise ist ein Geschenk meines Vaters, und ich hasse sie! Sie ist veraltet, hässlich und lächerlich! Keine Ahnung mit welchem Schrotthändler mein Vater da in Kontakt gekommen war, aber mehr als hundert Euro hat er für diese Ausgeburt einer kranken Fantasie niemals ausgegeben. Eher weniger. Viel weniger!

      Elise ist so etwas wie eine Kreuzung aus Moped, Roller und Supermarkt-Einkaufswagen. Sie ist kaum größer als ein Kinderfahrrad und sah immer schon so aus, als wäre jemand damit voll gegen die Wand gefahren. Die Räder sind winzig, aber dafür sind die Schutzbleche so breit wie Kohlenschaufeln. Als Krönung kommt das Ganze auch noch in einem verwaschenen, sehr hellen Babyschlüpferblau daher. Es ist grausam!

      In gewissem Sinn ist Elise allerdings erstaunlich: Der kleinste Dreh am Gasgriff lässt sie nach vorne schießen, dass es einem die Arme lang zieht, und die Kurvenlage ist so hervorragend, als würde sie auf klebrigen Walzen laufen, und nicht auf diesen lächerlich kleinen Schubkarrenrädern. - Jedenfalls ist sie das schärfste Stück Metall von ganz Paris. Soweit ich weiß, hat mein Vater das Ding nie gefahren, und ich denke, er würde ziemlich blass werden bei dem Gedanken, mit was für einer Rakete seine Tochter da unterwegs ist. Das ist ein Geheimnis, das ich mit Elise teile, und das soll es auch bleiben.

      Trotzdem kann ich sie nicht leiden. Besonders toll findet mein Vater es übrigens, dass Elise mit ihrem grotesk schmalen Lenker sogar durch die Tür unseres Wohnwagens passt, sodass ich selbst in den Ferien nicht darauf verzichten muss. Mit anderen Worten: Das Ding klebt an mir wie Hundekacke am Absatz und ich fürchte, ich werde es niemals loswerden, wenn ich nicht auswandere oder es mal versehentlich in die Seine plumpsen lasse.

      „Gehen wir nachher noch zu Barnabé?“, will Didier wissen, als unser Zelt endlich steht.

      „Klar doch!“, antwortet mein Vater.

      Barnabé ist der Wirt des Strandrestaurants und unser Haupternährer im Urlaub. Wir kochen nur selten im Wohnwagen. Tagsüber gibt es immer nur irgendwelche Häppchen, aber am Abend wird dann im Restaurant richtig getafelt. Wenigstens etwas, auf das ich mich freuen kann in diesem verkorksten Urlaub.

      „Ich gehe schon mal vor!“, gebe ich bekannt, nachdem ich schnell meine Schlafkabine eingeräumt und mich abendfein gemacht habe. Vielleicht treffe ich ja Fleur und Pauline, oder sonst irgendjemanden den ich kenne. - Bitte!

       02 DIE ALTE SCHULD

      Eigentlich hätte er mal wieder seine Eltern besuchen sollen, oder vielleicht wenigstens an seinem Aufsatz über präkolumbianische Kunst weiterschreiben. Eine Internetrecherche über die verschiedenen Szenarien der Golfstromentwicklung für seine Aufnahmeprüfung wäre auch eine Möglichkeit gewesen, die Zeit sinnvoll zu verbringen, aber stattdessen hatte er sich in seinen Wagen gesetzt und war einfach losgefahren. Er war sich völlig im Klaren darüber, dass es eine Flucht war. Eine Flucht vor dem Leben, das er zu führen gezwungen war, und das ihm schon lange nicht mehr behagte.

      Er war nicht besonders religiös erzogen worden. Zwar hatten seine Eltern darauf bestanden, dass er an einigen wichtigen Ritualen des Alten Bundes teilnahm, aber da war es mehr um die Einhaltung gesellschaftlicher Normen gegangen, als um echten Glauben.

      Es hatte ihm nichts ausgemacht, die alten Geschichten zu hören, nach deren Regeln sein Volk lebte. Sie waren voller Geheimnisse und eine zeitlang hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, sich selbst zum Prediger ausbilden zu lassen, um noch mehr über die Geschichte seines Volks zu erfahren, aber jetzt, kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag, dachte er anders darüber. Zwar waren die alten Berichte und Legenden immer noch faszinierend, aber heute war er mehr an der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit interessiert, als am einfachen Weitertragen von Dogmen und Vorschriften.

      Er lenkte den Porsche von der Schnellstraße auf eine Nebenstrecke durch das hüglige Hinterland von Grimaud. Die Villa seiner Eltern lag keine zwanzig Kilometer von hier, aber er verwarf den Gedanken an einen spontanen Besuch sofort wieder. Zu lange waren sie seine Wächter gewesen und die Scheu, die er ihnen gegenüber empfand, war zu groß. Die Prediger hatten damals gesagt, dass er etwas von der Alten Schuld auf sich geladen habe, und so sah er sich selbst auch heute noch als den ewig Schuldigen, dem alle nur mit Misstrauen begegnen konnten.

      „Schuldig!“, stieß er zwischen den Zähnen hervor und rammte das Gaspedal in einer plötzlichen Wutwallung bis zum Anschlag. Der Wagen schoss nach vorne und in den nächsten drei Kurven brauchte er die volle Straßenbreite für sich. Der Porsche krallte sich mit wimmernden Reifen auf dem Asphalt fest und das Heck fing an, zur Außenkante zu drängen. Zum Glück war die Strecke nur wenig befahren, denn bei Gegenverkehr hätte er den Wagen sofort von der Straße reißen müssen, um nicht schon wieder zu töten. Er war dazu bereit. Seine Schuld und seine Träume fraßen so sehr an ihm, dass er ohne zu zögern zwischen die Bäume gerast wäre, die die Straße säumten; und wenn er ehrlich mit sich selbst war, legte er es sogar darauf an.

      Einen Kilometer weiter hatte er sich wieder etwas beruhigt und ließ den Wagen mit mäßiger Geschwindigkeit durch das Hügelland rollen. Die Schuld war immer noch spürbar, unauslöschlich in Geist und Seele eingebrannt, aber das Schicksal hatte seine Chance mal wieder gehabt, und es hatte nicht zugeschlagen. Er kniff die Lippen zusammen und wendete den Wagen, um zurück nach Port Grimaud zu fahren.

      Auf der Schnellstraße fuhr er betont langsam. Was war das bloß für ein Leben, in dem jeder Baum am Straßenrand und jeder Brückenpfeiler zur Verlockung wurden?

       03 IN DER STRANDBAR

      Die im Moment fast leere Bar des Neptune sieht aus wie immer, als