Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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zu ernste Gedanken für einen so schönen Sommerabend! Fast gewaltsam riss er sich aus seinen düsteren Betrachtungen heraus und schaute auf das bunte Treiben, das im Restaurant herrschte: Die große Terrasse des Lokals war voll besetzt, nur hier und da waren Paare allein am Tisch. Teenies lehnten sich weit auf ihren Stühlen zurück und alberten mit ihren Freunden und Freundinnen an den Nachbartischen herum, während ihre kleineren Geschwister durch die Gänge flitzten und sich die Zeit vertrieben, bis das Essen serviert wurde.

      Etwas störte das friedliche Bild: Der gutaussehende, sportliche Mann, der sich vom Strand her der Terrasse näherte, wäre für das abendliche Panorama durchaus verzichtbar gewesen. Noch war er recht weit entfernt, aber die kraftvollen Bewegungen und die für den Zeitgeschmack etwas zu langen, schwarzen Haare ließen keinen Zweifel zu.

      Der Mann auf der Empore kniff die Lippen zusammen und bereitete sich auf den üblichen Schlagabtausch mit Adriano, seinem Cousin vor.

      Adriano war es gewesen, der den Jungen an jenem Nachmittag, an dem das Mädchen hatte sterben müssen, ins Haus gezerrt hatte, und er war es auch gewesen, den die Familie als Wächter eingesetzt hatte, damit so etwas nie wieder vorkam. Es hatte Adriano zwar keinen Spaß gemacht, aber er hatte seine Aufgabe ernst genommen. Über zehn Jahre lang hatte der Junge kaum einen Schritt tun können, ohne von Adrianos Leuten beobachtet zu werden.

      Mittlerweile hatte die Überwachung nachgelassen. Die Familie traute es ihm jetzt wohl zu, sich zu beherrschen, oder die Probleme selbst zu regeln, falls es wieder zu einem Zwischenfall kommen sollte. Trotzdem kam Adriano ab und zu vorbei, um nach dem rechten zu sehen. Er tat das bestimmt nicht freiwillig, und diese ständige Überwachung hatte im Lauf der Jahre auf beiden Seiten einen schwelenden Hass herangezüchtet. Bewachter und Wächter vertrugen sich nicht. Sie kamen einfach nicht miteinander aus.

      Adriano hatte die Terrasse erreicht. Ein blondes Mädchen von etwa sechzehn oder siebzehn Jahren lief zwischen den Tischen hindurch, war etwas unachtsam und hätte ihn um ein Haar angerempelt. Ohne seinen Schritt auch nur für einen Sekundenbruchteil zu verlangsamen, nahm er das Mädchen blitzschnell bei den Schultern und stellte es einfach zur Seite. In diesem winzigen Moment hätte man sehen können, welch enorme Kraft und Reaktionsfähigkeit in diesem schlanken Körper wohnten, aber an den umliegenden Tischen bemerkte niemand etwas davon.

      Das Mädchen sah Adriano einen Moment lang verwundert nach und ging dann langsam weiter.

      „Diego! Was für ein Zufall!“ Adriano hatte den Tisch erreicht und schaute mit gespielter Freude auf seinen Cousin hinab. Sein Grinsen glich eher den hochgezogenen Lefzen eines angriffslustigen Hundes.

      „Ja, die Welt ist ein Dorf“, grüßte Diego lahm. Er machte gar nicht erst den Versuch, Freude zu heucheln.

      „Und das Dorf heißt Port Grimaud“, stellte Adriano fest und setzte sich. „Wie geht’s denn so, Kleiner?“

      „Alles gut, bis eben.“

      „Na, na!“, rügte Adriano. „Wer wird denn gleich?“

      „Was willst du?“

      „Nur mal sehen, wie es dir so geht.“

      „Und? Wie geht’s mir so?“

      „Wie üblich. Du kommst mir ein wenig vereinsamt vor. Du solltest dich enger an die Familien anschließen. Ein wenig Spaß haben, ein wenig Jugend genießen, du weißt schon.“

      „Spaß!“ Diego spuckte das Wort aus wie eine angefaulte Traube. „Spaß im Hamsterrad! Jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr dasselbe. Ist nicht mein Ding, tut mir Leid.“

      „Es ist ein wenig öde“, gab Adriano zu. „Aber du weißt, dass es sein muss, wenn man jung bleiben will.“

      „Ich weiß nur, dass es nicht sein muss“, widersprach Diego. „Ihr habt alle die Wahl!“

      „Richtig!“ Adriano nickte bestätigend. „Ich habe gewählt und es gefällt mir gut so. Wenn es mir mal nicht mehr gefällt, dann höre ich einfach auf damit.“

      „Das sagen alle Junkies“, meinte Diego, und obwohl er sah, dass sich eine steile Falte auf der Stirn seines Cousins bildete, schob er noch nach: „Was wurde denn heute so geboten im Hamsterrad?“

      „Eine Poolparty an Bord der Recife. Hernandez hatte uns eingeladen. War okay!“

      „Mal wieder eine Poolparty. Wie aufregend.“ Diego hielt sich die Hand vor den Mund und täuschte ein Gähnen vor. „Und die Gäste? Alle gesund?“

      „Sie werden niemals erfahren, was mit ihnen passiert ist. Danke der Nachfrage. Wir sind ja schließlich nicht so unbeherrscht, wie ein gewisser Fünfjähriger, der sich nicht unter Kontrolle hatte“, gab Adriano ärgerlich zurück.

      Die Spitze glitt an Diego ab. „Du bist vielleicht nicht so gierig“, meinte er nur, „aber ...“

      Adrianos Kopf ruckte herum. „Dolores hat sich im Griff!“, behauptete er mit einem grimmigen Lächeln. Er wusste genau, wohin Diego zielte. „Außerdem hat sie noch nie jemanden umgebracht.“

      Diego wusste, dass das Thema seinem Cousin nicht behagte. Es hatte da mal eine Affäre gegeben. Einen Fall von plötzlicher Vergreisung im Freundeskreis der Geschwister. Ein junger Mann, der damalige Freund von Dolores, war im wörtlichen Sinn über Nacht um Jahrzehnte gealtert. Im Gegensatz zu Diego hatte sie die Sache aber erstaunlich gut weggesteckt. Nun ja, schließlich war sie auch schon ein wenig älter und viel erfahrener.

      Ein etwa elfjähriger Junge kam heran und versuchte vergeblich, einen Hund anzulocken, der unter einem der Tische hastig etwas in sich hineinschlang.

      „Dolores“, sagte Diego nachdenklich. „Hat sie nicht morgen Geburtstag?“

      „Ja!“ Adriano sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

      „Und was wünscht sie sich?“

      „Was alle sich wünschen: Jugend, Schönheit, Reichtum, was weiß ich.“

      „Hat sie alles! Was wünscht sie sich wirklich?“

      „Du hörst jetzt besser auf!“ In Adrianos Stimme war plötzlich ein drohender Unterton.

      Sie kämpften mit Waffen, die im Lauf der Jahre stumpf geworden waren. Stumpf zwar, aber immer noch schwer und mächtig genug, alte Wunden wieder aufbrechen zu lassen. Es gab Geheimnisse in den alten Familien, über Jahrhunderte hinweg gesponnene Intrigen und Gerüchte, die man besser nicht erwähnte.

      „Na, egal was es ist. Du wirst es schon möglich machen. Bis auf das Eine ...“

      „Oh, es wird ja schon dunkel. War nett, mit dir zu plaudern.“ Adriano lehnte sich zurück und schaute demonstrativ auf die Breitling an seinem Handgelenk. Mit einer eleganten Bewegung stand er auf und legte Diego die Hand auf die Schulter. „Ich verschwinde jetzt besser“, sagte er leise mit einem Lächeln, „bevor ich dir deinen verdammten Schädel von den Schultern reiße.“

      „Stimmt!“, grinste Diego zurück. „Das würde auffallen. Ein andermal vielleicht.“

      „Ein andermal bestimmt!“, meinte Adriano, hob zum Abschied grüßend die Hand und ging zwischen den Tischen hindurch in Richtung Parkplatz. Dabei kam ihm der kleine Hund in die Quere. Er schaute Adriano erschrocken an, kniff den Schwanz ein und rannte jaulend davon, ohne dass Adriano irgendetwas getan hätte. Er hatte das Tier noch nicht einmal richtig angeschaut.

      Diego sah seinem Cousin nach, wie er in der Dunkelheit unter den Bäumen verschwand. Adriano war wirklich verärgert, und vielleicht hatte er jetzt die ganze Woche Ruhe vor ihm. Zufrieden wandte er sich wieder dem Treiben auf der Terrasse zu und sein Blick blieb an einer Gestalt hängen, die er zuvor nicht bemerkt hatte: Ein hübsches Mädchen mit langen, hellblonden Haaren saß mit seinen Eltern und dem Jungen von eben an einem Tisch in der Nähe. Sie schien in irgendwelchen Schwierigkeiten zu sein, denn sie diskutierte mit ihrem Vater und ging mit ihrem Besteck auf das Essen los, als gelte es, einen Feind niederzumachen. Trotzdem machte sie keinen wütenden, sondern eher einen verzagten Eindruck. Sie wollte irgendetwas erreichen, hatte