Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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da war sie: Sie stand am Tisch einer Freundin, die ähnliche Probleme zu haben schien, wie sie selbst. Das blonde Mädchen war ziemlich groß und sehr schlank und Diego merkte, dass sein Herzschlag sich um eine Winzigkeit beschleunigte.

      Das Essen war unwichtig geworden. Er war wie hypnotisiert und sah zu, wie sie sich mit einer fließenden Bewegung auf einen Stuhl gleiten ließ. Sie sprach ein paar Worte mit dem Vater der Freundin, wobei sie mit sparsamen Gesten die Dringlichkeit ihres Anliegens unterstrich. Hier wirkte sie viel überzeugender und lockerer, als im Gespräch mit ihren Eltern, und wirklich: Der Vater der Freundin nickte schließlich, woraufhin seine Tochter aufsprang und ihm eine ganze Serie von Küssen auf die Wange gab.

      Auch das hellblonde Mädchen stand auf und gemeinsam gingen die beiden zu einem dritten Tisch, wo es wohl nicht so gut lief. Diego ließ die schöne Unbekannte nicht mehr aus den Augen. Sie war einfach perfekt. Eine Frau, wie sie bislang nur in seinen schönsten und geheimsten Träumen vorgekommen war.

      Schließlich verließen alle drei Mädchen und die Terrasse. Ein viertes Mädchen sprang von einem Nachbartisch auf, rief etwas, und schloss sich ihnen an.

      Diego presste die Lippen zusammen. Die Nachzüglerin war schwarzhaarig und klein. Sie mochte das netteste Wesen der Welt sein, aber Diego stand sofort wieder das Mädchen aus seinem Traum vor Augen, dessen Körper sich in seinen Armen auf so unbegreifliche und schreckliche Weise verändert hatte. Warum konnte man solche Erinnerungen nicht einfach löschen, wenn sie einem doch nur das Leben vergifteten?

      Die vier Mädchen verschwanden in der Dunkelheit, aber für Diego waren sie noch schemenhaft sichtbar, als sie nahe der Wasserlinie stehen blieben, sich umwandten und gebannt in den Nachthimmel schauten. Die nahe Diskothek hatte gerade mit einem Samstagabendfeuerwerk begonnen.

      Was für ein Mädchen, was für eine Frau! Versonnen zerteilte Diego eines der Filets und schob sich den Bissen in den Mund. Er musste sie unbedingt kennen lernen! Vergessen war der Ärger mit Adriano. Er sah nur noch das Bild dieses Mädchens vor sich, und als die letzten Raketen ihre Ornamente an den Himmel gemalt hatten, stand sein Entschluss fest: Morgen würde er ihre Nähe suchen und sie ansprechen.

       05 SIEG

      „Warum denn nicht, Papa?“ begehre ich auf, als ich schließlich bei meinen Eltern am Tisch sitze, wo unser Abendessen serviert wird. „Fleur und Pauline machen schließlich auch mit und Felix auch!“

      „Felix?“ Mein Vater schaut mich etwas irritiert an. „Jungen machen da auch mit?“

      „Felix ist ein Mädchen“, kläre ich ihn auf. „Also, darf ich?“

      „Nein!“

      „Oh, Mann, warum denn nicht?“

      „Weil du dich nicht zur Schau stellen sollst. Das macht man nicht!“ erwidert mein Vater bestimmt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Eltern von Fleur und Pauline das erlaubt haben.“

      „Doch haben sie“, lüge ich und hoffe inständig, das es so sein würde. „Die sind nicht so spießig!“ füge ich noch giftig hinzu, während ich mit wütenden Bewegungen an meinem Filet herum schneide und es dabei halb zerquetsche.

      „Na, na!“ tadelt mich meine Mutter mit strafendem Blick. „Nun sei mal nicht so frech zu deinem Vater. Er meint es doch nicht böse mit dir. Er hat nur Angst um dich, weil er nicht weiß, wie so eine Misswahl abläuft“, fügt sie noch lächelnd hinzu und blinzelt mir dabei verschwörerisch zu. Das gibt mir ein wenig Hoffnung.

      Mein blöder Bruder muss in diesem Moment natürlich dazwischen plärren: „Lana auf dem Laufsteg.“ Er lacht, hebt im Sitzen ein wenig die Arme und wackelt mit dem Oberkörper. „Sie wird bestimmt stolpern und sich total blamieren. Dann kenne ich dich nicht mehr!“

      „Halt die Klappe Didier, du weißt ja gar nicht, wovon du redest!“ fauche ich ihn an. „Außerdem macht Celine auch mit, die Schwester von deinem Paul! Willst du, dass ich hinter der zurückstehe?“

      Didier sieht mich mit offenem Mund an, in dem sich noch Reste von zermatschten Pommes befinden. Ich merke, wie er zu kämpfen hat. Schließlich siegt seine Familienloyalität. Er schließt seinen Mund und murmelt. „Na, besser als die blöde Celine bist du auf jeden Fall.“

      „Wer ist überhaupt diese Felix, von der du da geredet hast?“ will mein Vater mit einem Mal wissen.

      „Eigentlich heißt sie Felicitas. Sie ist Engländerin“, erwidere ich seufzend und glaube schon nicht mehr an den Erfolg meiner Bemühungen.

      Mein Vater vergisst das Stück Filet und erstarrt mitten in der Bewegung. „Eine Engländerin“, wiederholt er ungläubig mit großen Augen. „Ist sie allein hier?“

      „Nee, mit ihren Eltern.“ Diese Ausfragerei geht mir mittlerweile ganz gewaltig auf den Geist

      „Engländer? Und die lassen ihre Tochter da mitmachen?“

      „Ja“, sage ich lahm und trinke den Rest meiner Cola.

      „Na, das kann man ja eigentlich nicht zulassen“, meint Papa und schiebt sich endlich das Fleischstück in den Mund, „dass hier Engländer über die Franzosen siegen“ Mit vollen Backen kauend schaut er mich an und grinst.

      „Heißt das ‚Ja’ Papa?“, frage ich ihn atemlos und etwas ungläubig. Papa nickt und meine Mutter lacht.

      Ich springe auf und gehe mit schnellen Schritten zum Tisch von Fleurs Eltern. Die schauen nicht gerade begeistert und Fleur ist kurz davor loszuheulen. Offenbar hat sie nicht so viel Glück wie ich. „Ich darf“, platze ich deshalb schnell in die Unterhaltung.

      Fleurs Vater, den ich wohl gerade bei einem Vortrag über Moral unterbrochen habe, blinzelt mich irritiert an.

      „Siehst du!“ flüstert seine Frau, „dass ist doch alles nur harmloser Spaß. Komm Chérie, gib dir einen Ruck! Celine darf ja auch“

      „Celine ist kein Maßstab für mich, deren Eltern sind in meinen Augen ...“ Er schaut mich an und bricht ab. „Aber dass du da mitmachen darfst Lana, das erstaunt mich! Setz dich doch einen Moment zu uns“

      Ich rücke mir einen Stuhl zurecht, nehme Platz und warte auf das was nun kommen soll.

      Gedankenverloren zerlegt Fleurs Vater mit chirurgischer Präzision seinen Fisch, schiebt sich ein Stück in den Mund und kaut schweigend. Fleur sitzt mucksmäuschenstill da und wartet, bis er zu einem Entschluss gekommen ist. Ihre Mundwinkel zucken und sie ist wirklich kurz davor, loszuheulen, während er mich ein bisschen ausfragt, was man da so machen muss, bei dem Wettbewerb.

      Zum Glück kann ich ihm genau die richtigen Antworten geben. Schließlich kann ich lesen und das Plakat hängt ja überall herum. An unserem Tisch wird derweil der Rest von meinem Essen kalt, aber das ist mir die Sache wert.

      „Also gut!“ seufzt er schließlich, „Ich erlaube es dir Fleur!“ Quietschend springt Fleur auf, rennt um den Tisch herum und fällt ihrem Vater um den Hals. „Merci Papa! Merci, merci, merci!“ Bei jedem ‚Merci’ drückt sie ihm einen Kuss auf die Wange.

      Mann, das hätte ich vielleicht auch machen sollen, geht es mir durch den Kopf. Etwas unsicher schaue ich zu unserem Tisch, aber meine Eltern scheinen beide bester Laune zu sein.

      Fleur ist mittlerweile etwa beim zehnten Merci angekommen.

      „Ja, schon gut“, wehrt ihr Vater sie lachend ab. „Aber du machst keine unanständigen Dinge wenn sie so was von euch verlangen, verstanden?“ sagt er mit drohend erhobenem Messer. „Nein mach ich ganz bestimmt nicht Papa, ich bleibe ganz brav!“

      Glücklich gehen Fleur und ich Arm in Arm zum Tisch von Paulines Eltern. Auch hier ist die Stimmung nicht gut. Anders als bei uns ist es hier die Mutter, die sich querstellt. „Pauline!“, verkündet sie gerade mit erhobenem Zeigefinger, „Ich habe dich nicht dazu erzogen, vor anderen die Springmaus zu machen und Männern begehrliche Blicke zu entlocken!“

      „Aber Maman!“ erwidert Pauline