Laura Herges

Lost in London


Скачать книгу

laufe ein paar Meter weiter, doch von dem Tower sehe ich immer noch nichts. Müsste ein dermaßen bekanntes Gebäude einem nicht schon von weitem ins Auge springen? Wie groß ist dieser Tower eigentlich? Bin ich vielleicht schon vorbeigegangen? Oder laufe ich sogar in die falsche Richtung?

      Ein wenig genervt krame ich mein Handy aus meiner Tasche und versuche, Google Maps aufzurufen, aber das funktioniert auch nur schleppend. Hat bestimmt etwas mit meinem amerikanischen Handy zu tun. Im Hotel gab es jedenfalls freies W-Lan… Die Seite lädt immer noch.

      „So ein Mist!“, fange ich schon wieder an, wütend vor mich hinzumurmeln, „Wo ist dieser dämliche Tower nur?“ Ich seufze.

      „Der Tower ist da hinten, sind nur etwa zweihundert Meter, wenn du da vorn um die Ecke biegst.“

      Ich zucke zusammen und lasse beinahe mein Handy fallen. Dann blicke ich mich um, auf der Suche nach der Ecke, aus der die Stimme plötzlich gekommen ist. Da, nur ein paar Meter von mir entfernt sitzt ein Junge auf dem Boden, halb versteckt im Schatten eines niedrigen Gebäudes. Erst auf den zweiten Blick sehe ich, dass er auf einer Decke sitzt und ein Rucksack, sowie eine Plastikdose, in der ein paar Münzen liegen, neben ihm stehen. Oh.

      „Ähm… danke“, sage ich jetzt und höre selbst, wie unsicher ich klinge. In Milwaukee hatte ich noch nie mit Obdachlosen zu tun – und auch sonst noch nirgends. Wie geht man mit solchen Leuten um? Was sagt man überhaupt? Tut mir leid, dass du auf der Straße leben musst?

      Ich versuche, mich etwas zusammenzureißen, dann gehe ich die paar Meter zu ihm, greife in meine Umhängetasche und nehme meinen Geldbeutel.

      „Ich äh weiß nicht so recht, welchen Wert englisches Geld hat“, erkläre ich, während ich an dem Reißverschluss herumnestele und nach etwas Kleingeld suche. Ich befördere ein paar Münzen zutage, große und etwas kleinere, auf denen das Konterfei der Queen prangt.

      „Ist das okay so?“, frage ich und zeige ihm die Münzen, die ich auf meiner Handfläche gesammelt habe.

      „Klar, danke“, sagt er und grinst.

      Eigentlich ist er ganz süß, denke ich. Er hat ein hübsches Lächeln. Seine Zähne sehen gesund aus, obwohl er auf der Straße zu leben scheint. Von seinen Haaren sehe ich nur ein paar Büschel, die unter der schwarzen Mütze, die er sich über die Ohren gezogen hat, hervorlugen. Die Farbe seiner Augen kann ich im Dämmerlicht auch nicht richtig erkennen. Aber wieso interessiert mich das auch? Ich werde ihn jetzt sowieso nie wiedersehen, höchstens später, wenn ich vom Tower zurückkomme.

      Wenn ich ihn zu Hause auf einer Party gesehen hätte, hätte ich ihn vielleicht sogar angesprochen.

      Er ist zwar süß, aber auch verdammt arm. Er könnte dir nichts bieten, sagt eine kleine, gemeine Stimme in meinem Kopf.

      „Danke für deine Hilfe“, sage ich und lächle ihm zu, bevor ich mich umdrehe und mich wieder auf den Weg mache.

      Doch ich gehe nur ein, zwei Schritte, als ich plötzlich ein Geräusch höre. Jemand rennt. Schnelle Schritte kommen direkt auf mich zu. Verwirrt bleibe ich stehen, als sie im nächsten Moment auch schon direkt vor mir anhalten. Es sind drei Männer, jeder von ihnen mindestens einen Kopf größer als ich, in dunklen Outfits. Ich glaube, kugelsichere Westen zu erkennen. Und noch etwas erkenne ich sofort: Jeder von ihnen trägt eine Waffe – Pistolen, die sie, als sie direkt vor mir stehen, plötzlich ergreifen.

      Mein Herz und mein Gehirn scheinen im gleichen Moment auszusetzen und anstatt länger wie gelähmt rumzustehen, mache ich kehrt und laufe los, so schnell ich kann.

      „Hey!“, schreit einer von ihnen und im nächsten Moment höre ich, wie eine Kugel in das Gebäude einschlägt, an dessen Mauer gelehnt der Junge sitzt. Sofort bleibe ich stehen und mein Blick schnellt zu ihm. Er lebt noch, Gott sei Dank! Auch er ist aufgesprungen, sein Gesichtsausdruck ist vor Entsetzen erstarrt. Doch als sie weiter in unsere Richtung rennen, hält auch ihn nichts mehr an seinem Platz.

      „Oh Scheiße!“, stößt der Junge hervor, greift sich noch schnell seinen Rucksack und rennt los.

      „Los, los!“, treibt er mich an, ergreift meinen Arm und reißt mich mit sich.

      „Hinterher!“, höre ich einen der Männer brüllen.

      Der Junge zieht mich nach links, in eine kleine Gasse, in der wir es gerade so schaffen, weiter nebeneinander zu rennen. Auf einmal werde ich zurückgerissen. Einer der Männer hat meine Tasche ergriffen. Ich versuche, mich loszureißen, doch er gibt nicht auf. Panisch schlüpfe ich unter dem Gurt hindurch und überlasse sie ihm. Doch anstatt stehen zu bleiben, verfolgen die Männer uns weiter.

      „Lassen Sie uns in Ruhe! In der Tasche ist eine Menge Geld!“, kreische ich. Doch der, der sie mir abgenommen hat, lacht nur spöttisch.

      „Als ob uns das reichen würde, Süße!“

      Ich renne noch schneller, falls das überhaupt möglich ist. Plötzlich höre ich einen Knall, spüre einen Luftzug direkt neben meinem Ohr und im nächsten Moment bricht ein Stück Fenstersims kurz über meinem Kopf weg. Sie haben schon wieder geschossen! Der Sims verfehlt mich nur knapp, und der Junge drängt mich nach rechts, wo wir in die nächste Straße einbiegen. Ich höre nichts, außer den Schritten unserer Verfolger und meinem keuchenden Atem. Ich war noch nie gut in Sport, und in einer solchen Situation habe ich mich bisher höchstens in meinen Albträumen befunden. Was passiert hier?

      Doch bevor ich anfangen kann, zu denken, spüre ich, wie der Junge mich an meinem Arm nach links, in eine neue Abbiegung, reißt, und gleich darauf wieder nach rechts. Meine Augen können all die Eindrücke gar nicht mehr richtig einordnen. Wie in einem Tunnel nehme ich nur noch die Gassen wahr, die direkt vor uns liegen. Mich umzudrehen wage ich sowieso nicht. Der Junge stößt mich in eine weitere Gasse, dieses Mal eine so schmale, dass wir nicht nebeneinander hineinpassen. Ich blicke ihn fragend und voller Panik an, doch er bedeutet mir nur mit seinen Händen, schnell vorneweg zu rennen. Ich folge seiner stillen Anweisung, doch als ich mich in der Mitte der Gasse befinde, reißt er mich plötzlich wieder an meinem Arm zurück und geht auf einmal in die Hocke. Erst jetzt sehe ich, dass in einer kleinen Einbuchtung eines Hauses, unter der sich wohl ein Kellerfenster befinden muss, ein Gitter liegt. Mit einem schnellen Handgriff zieht er das Gitter einfach aus seiner Halterung. Er muss mir keine Anweisung geben. Schnell steige ich in die entstandene Öffnung und verschwinde in dem Loch. Einen Augenblick später befindet sich auch schon der Junge neben mir und platziert das Gitter über unseren Köpfen – keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment tauchen unsere Verfolger auf. Und sie rennen einfach weiter! Wir haben sie tatsächlich getäuscht!

      Der Junge nimmt auf einmal meine Hand und bedeutet mir mit einer Geste, noch kurz zu warten, bevor wir wieder nach oben gehen. Ich nicke und spüre, wie mein rasender Herzschlag langsam wieder abnimmt. Doch im nächsten Moment würde ich am liebsten losheulen: Diese Gangster haben meine Tasche mitgenommen – mit meinem Geld und meinem Handy! Was mache ich denn jetzt? Wie komme ich wieder ins Hotel? Wo ist überhaupt die nächste Polizeistation? Noch nicht mal meine Eltern kann ich erreichen, denn die sind ja auf dem dämlichen Kongress mit dem dämlichen Handyverbot! Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen, doch sofort versuche ich, sie wegzublinzeln. Der Junge soll mich auf keinen Fall weinen sehen! Ich schaue weg, blinzele weiter, schlucke ein paar Mal und versuche, ruhig durchzuatmen. Besser gesagt als getan. Wie soll man sich bitte beruhigen, nachdem man gerade überfallen wurde? Ich kann nicht fassen, dass das gerade mir passiert ist – an meinem ersten Tag in London! Vielleicht hatten meine Eltern doch recht. Vielleicht ist das Karma, weil ich nicht auf sie gehört habe. Jetzt bin ich ihnen jedenfalls eine Erklärung schuldig, wenn sie zurückkommen. Allein der Gedanke daran ist schon so schrecklich unangenehm, dass ich sofort versuche, ihn irgendwie zu verdrängen.

      Ich schaue den Jungen von der Seite an. Der Arme, da lebt er schon auf der Straße, und dann verliert er noch das bisschen Geld, das er hat, weil irgendeine reiche Amerikanerin, die zufällig in seiner Nähe auftaucht, überfallen wird. Dabei war er noch so nett und hat mir den Weg zum Tower beschrieben. Life’s a bitch…

      „Ich glaube, die Luft ist jetzt rein“,