Laura Herges

Lost in London


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horcht noch einmal in die Stille, doch dann nimmt er das Gitter weg und steigt aus der Vertiefung. Er reicht mir die Hand und hilft mir, ebenfalls wieder aus dem Loch zu kriechen. Ich will gar nicht wissen, wie viele Spinnen uns da unten Gesellschaft geleistet haben…

      „Danke“, murmele ich, als er das Gitter wieder an seinen Platz setzt.

      „Wir sollten irgendwo hingehen, wo eine Menge Leute sind“, meint der Junge, als er sich wieder aufrichtet.

      „Und wo wäre das?“, frage ich.

      „Erst mal zur London Bridge“, erwidert er, „Das ist nicht weit von hier, da sind immer eine Menge Touristen. Und ein paar Bullen laufen meistens auch rum, dann kannst du gleich ‘ne Anzeige aufgeben.“

      Ich nicke betrübt. Mein schönes Handy…

      „Mir ist so was noch nie passiert“, sage ich und denke im nächsten Moment, wie schrecklich peinlich das klingt. Doch der Junge scheint es noch nicht mal zu bemerken.

      „Mir auch nicht“, erwidert er nur.

      Ich schweige und laufe einfach weiter neben ihm her. Vor einer Stunde war ich noch in meiner schönen, warmen, kuscheligen Hotelsuite. Warum ist die mir noch mal so schlimm vorgekommen?

      Ich weiß gerade noch nicht mal mehr, ob ich überhaupt noch hier studieren möchte. Wenn das hier überall so läuft, na dann gute Nacht… Was wäre eigentlich gewesen, wenn der Junge nicht gerade zufällig auch dort gewesen wäre? Ich schaudere. Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht! Diese Arschlöcher hätten Gott weiß was mit mir anstellen, und mich danach einfach abknallen können, und keiner hätte es herausgefunden, bis meine Eltern nach dem Kongress nach mir gesucht hätten. Eine Welle der Dankbarkeit durchflutet mich plötzlich.

      „Du hast mir das Leben gerettet“, stoße ich hervor und schaue den Jungen dabei an.

      Jetzt erwidert er meinen Blick. „Keine Ursache“, entgegnet er, „Ich bin froh, dass ich auch dort war.“ Als hätte er meine Gedanken gelesen…

      „Hör mal“, sage ich, „Wenn ich zurück in mein Hotel komme, würde ich dir gerne etwas Geld geben, um mich bei dir zu bedanken.“

      Doch der Junge winkt ab. „Lass stecken“, meint er, „Ich hab’s ja nicht für Geld getan.“

      „Bist du sicher?“, frage ich überrascht, „Ich meine, weil du doch…“ Der Rest des Satzes bleibt mir im Halse stecken.

      „Weil ich auf der Straße lebe?“ Er zieht eine Augenbraue hoch.

      „Tut mir leid, so wollte ich das nicht sagen!“, erwidere ich schnell.

      „Schon gut“, sagt er.

      Ich beiße mir auf die Lippe. Warum bin ich heute nur so dämlich? Andererseits: Ich bin gerade überfallen worden. Ist es da nicht normal, dass das Gehirn mehr oder weniger aussetzt?

      „Ich bin übrigens Phoebe“, sage ich, um die peinliche Stille zu übertönen.

      „Ich bin Blake“, erwidert er.

       Blake. Passt irgendwie zu ihm.

      „Was machst du in London, Phoebe?“, fragt er.

      „Ich…“ Plötzlich ist mir die ganze Situation ungeheuer peinlich. Was soll ich denn sagen? „Ich mache Urlaub in einem der teuersten Hotels in London, im höchsten Gebäude von London, ganz in der Nähe der London Bridge, wo du mich gerade hinbringst?“

      „Ich sehe mir Unis an“, sage ich stattdessen, „Ich will bald anfangen, hier zu studieren.“

      Er nickt und wir schweigen erneut. Jetzt sehe ich auch mal den Tower of London, an dem wir gerade vorbeilaufen. Sieht wirklich ganz schön aus, wenn auch ein wenig unheimlich in der Dunkelheit. Vielleicht werde ich mir, wenn meine Eltern wieder zurück sind, mit ihnen gemeinsam die Kronjuwelen ansehen, die da drinnen ausgestellt sind. Oder auch nicht. Gerade ist mir das ganze Sightseeing ziemlich egal, wenn ich nur endlich wieder zurück in die Sicherheit des Hotels komme. Zum Glück ist Blake bei mir, wenn ich jetzt allein zur Polizei gehen müsste, hätte ich noch mehr Angst… Es sind immer noch wenige Menschen unterwegs, obwohl wir gerade an einer der Hauptattraktionen vorbeigehen. Muss wohl an der Uhrzeit liegen. Aber immerhin gehen wir ja jetzt an einen Ort, an dem – laut Blake – viele Menschen sind.

      Wir laufen an der Themse entlang und ich betrachte das ruhende Wasser, auf dem weder Schiff noch Enten zu erblicken sind. London ist am Abend tatsächlich unspektakulärer als ich gedacht hätte. Ich denke an die Abende, an denen ich mit meinen Freundinnen ausgegangen bin. Ashley hat meistens die Planung übernommen und Chloé hat den Alkohol besorgt. Chloé… eigentlich war sie nie meine Freundin, ich weiß nicht mal, ob ich sie überhaupt richtig mag. Als wir das letzte Mal in einem Club waren, hat sie dauernd mit Ricky geflirtet, und das vor meinen Augen. Gut, sie war sturzbetrunken, aber ist das wirklich eine Ausrede? Ich schüttele den Gedanken ab und versuche es noch einmal mit Smalltalk.

      „Es ist so still hier“, sage ich, „Ist das normal?“

      Blake zuckt mit den Schultern. „Abends fahren kaum noch Schiffe, falls du das meinst.“

      „Nicht nur das“, erwidere ich, „Es sind auch so wenige Touristen unterwegs. Ich meine, wo sind die denn alle?“

      Blake lächelt. „Um diese Uhrzeit vermutlich in Soho. Wieso fragst du? Lust, ein bisschen Party zu machen?“

      „Gerade eher nicht so“, winke ich lachend ab, „Aber es ist schon komisch, wenn ich das mit New York oder so vergleiche… Warst du schon mal…?“ Oh Mist!

      „In den USA?“, fragt er, „Nein.“

      Natürlich nicht. Dumme Frage.

      Ich schweige und denke nach. Wie kann ich diese Situation nur weniger unangenehm machen?

      Blakes Kopf dreht sich zu mir und ich merke, dass ich ihn schon die ganze Zeit über anstarre.

      „Ist das jetzt so unglaublich?“, fragt er und ich senke beschämt den Blick.

      „Nein, nein“, erwidere ich schnell, „Geht mich ja auch nichts an.“

      „Was ist mit dir? Warst du vorher schon mal in Europa?“, fragt er plötzlich.

      Ich bin zu überrascht, um mir auf die Schnelle eine Lüge auszudenken, und antworte wahrheitsgemäß: „Ja, schon oft.“

      Jetzt ist er es, der skeptisch eine Augenbraue hochzieht. Ich erröte unter seinem Blick. Er will etwas erwidern, doch bevor er dazu kommt, werden wir von einem Klingeln unterbrochen. Ich zucke zusammen und wir blicken beide in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Ein paar Meter neben uns steht eine dieser typischen roten Londoner Telefonzellen. Das Telefon darin klingelt. Bisher war mir noch nicht mal klar, dass man in Telefonzellen überhaupt anrufen kann. Das Ganze wirkt ziemlich unheimlich und ich weiß nicht, was wir tun sollen. Mein Instinkt sagt mir, dass wir jetzt besser zügig weitergehen sollten, anstatt abzunehmen. Blake blickt mich an.

      Ich schüttele den Kopf. „Vielleicht sollten wir besser nicht…“

      Er scheint zunächst ebenso unschlüssig zu sein wie ich. Doch dann ändert sich sein Gesichtsausdruck und er geht entschlossen auf die Telefonzelle zu.

      „Hey, warte!“, stoße ich erschrocken hervor.

      „Das ist nur eine Telefonzelle! Du hast ja wohl keine Angst vor einem Hörer“, meint er nur, öffnet die Tür zu der Zelle und nimmt ab.

      „Hallo?“, sagt er und hält den Hörer an sein Ohr. Mit trotzigem Gesichtsausdruck lauscht er den Worten, die am anderen Ende gesprochen werden, während ich immer noch an der Tür der Zelle stehe und gebannt beobachte, wie sich Blakes Züge plötzlich anspannen.

      „Was? Wer sind Sie überhaupt?“, fragt er erschrocken.

      Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Also bewahrheitet sich meine ungute Vorahnung gerade tatsächlich.

      „Hören