Laura Herges

Lost in London


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der Tür angebracht ist.

      Mit einem lauten Quietschen von Metall auf Metall bleibt der Zug stehen und ich falle von der Wucht der Vollbremsung gegen die Glaswand zum Fahrerhäuschen. Die Menschen stoßen erschrockene Laute hervor und schauen überrascht zu uns. Der Mann hat uns jetzt ebenfalls entdeckt. Er steht bereits in der Mitte des Waggons, der sich hinter unserem befindet und nun fällt sein alarmierter Blick direkt auf uns. Ich schaue zu Blake und sehe geschockt, dass dieser gerade dabei ist, die Türen auseinanderzuziehen – und eine Sekunde später Erfolg hat.

      „Schnell, komm!“, sagt er und hält die Tür zur Seite, während ich aus der Bahn springe. Dann tut er es mir gleich und die Tür fällt hinter uns wieder zu.

      Wir rennen in den Tunnel hinein, auf den Schienen, und ich habe Todesangst. Was, wenn der Zug plötzlich weiterfährt und uns überrollt? Oder wenn auf der gegenüberliegenden Spur plötzlich ein Zug angerauscht kommt und der heftige Windstoß uns mit sich reißt?

      Ich bete dafür, dass der Mann dieses Mal nicht auf uns schießen wird, denn wenn eine der Kugeln das uralte Steingewölbe trifft, könnte der Tunnel vielleicht einstürzen und uns einschließen, oder noch schlimmer: uns unter jahrhundertealtem Geröll begraben.

      Zum dritten Mal heute Abend bin ich auf der Flucht und zum dritten Mal spüre ich mein Herz heftig gegen meine Rippen hämmern. Ich bilde mir ein, mit jedem Mal panischer zu werden, falls das überhaupt noch möglich ist. Wer weiß, vielleicht ist das alles ja nur ein endlos langer Albtraum, aus dem ich gleich erwachen werde. Ich werde in dem Bett in der Suite liegen, oder sogar noch besser: in meinem Himmelbett in unserer Villa zu Hause in Milwaukee. Doch ich weiß, dass das nicht passieren wird. Ich bin immer noch hier, in dieser schier endlosen Verfolgungsjagd gefangen, meine Eltern sind nicht in Sicherheit und ich höre nun auch die schnellen Schritte unseres Verfolgers, der mit jeder Sekunde näher zu kommen scheint.

      Warum ich? Womit habe ich es verdient, hier unten, in den Tunneln der Londoner U-Bahn gekidnappt und vielleicht auch noch angeschossen zu werden?

      Die Tunnel teilen sich jetzt und Blake deutet auf den rechten. Natürlich, im linken könnte uns ja jede Sekunde eine Bahn entgegenkommen… Das Licht der Scheinwerfer des Zuges dringt nicht mehr bis in den Tunnel und so finden wir uns plötzlich in völliger Dunkelheit wieder. Ich kann absolut nichts sehen und wünschte, ich hätte mein Handy hier. Ich habe mich noch nie in meinem Leben in einer solchen Dunkelheit befunden, nicht in der tiefsten und schwärzesten Nacht. Mit zögernden Schritten versuche ich, nicht über die Bahngleise zu stolpern. Ich werde vorsichtiger und dadurch auch langsamer. Dann sehe ich plötzlich ein schwaches blaues Licht vor mir, und im nächsten Moment ergreift Blake meine Hand.

      „Ich hab mir die letzten fünfzehn Prozent Akku für einen Notfall aufgespart. Das ist jetzt wohl einer…“, meint er und leuchtet mit seinem Handy auf den Boden. Wir werden wieder schneller, jetzt, wo wir zumindest die schemenhaften Umrisse der Schienen erkennen können. Ich will gar nicht wissen, was sich jetzt alles über mir befindet – und was alles hier unten ist. Spinnen, Ratten, Fledermäuse… Meine Lunge zieht sich zusammen und plötzlich fällt es mir schwer, normal weiter zu atmen.

      „Was ist denn?“, fragt Blake neben mir, dem das ebenfalls auffällt.

      „Ich hab Platzangst!“, stoße ich wimmernd hervor und bleibe stehen. Ich kann nicht mehr weiter. Noch tiefer in diesen Tunnel, in diese unendliche Dunkelheit hinein – das ist einfach unmöglich.

      „Auch das noch…“, murmelt Blake und im nächsten Moment spüre ich, wie er seine Hand auf meine Schulter legt. Ich sehe die Umrisse seines Gesichts vor mir. Seine Augen glänzen leicht. Sie wirken nun ganz dunkel.

      „Ich versuche ja schon, uns so schnell wie möglich hier raus zu bringen“, sagt er, während seine schweren Atemzüge seine Anstrengung verraten, „Aber bitte, wir müssen weiter. Dieser Irre verfolgt uns und wenn wir hier bleiben, haben wir verloren. Ich verstehe ja, dass du Angst hast, aber ich bin bei dir. Du bist nicht allein und zu zweit schaffen wir das, okay?“

      Ich nicke und versuche, den fetten Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, was mir nicht gelingt. Also kralle ich mich an Blakes Hand, während wir weitereilen. Von irgendwoher kann ich ein Tropfen hören. Wer sagt eigentlich, dass diese Tunnel hier wasserdicht sind?

      Nicht drüber nachdenken!, ermahne ich mich und setze weiter tapfer einen Fuß vor den anderen. Ich schaue die Höhlenwände schon gar nicht mehr an, sondern achte nur noch auf die Schienen. Hätte nie gedacht, dass der Anblick von Zuggleisen mal beruhigend auf mich wirken würde… Hinter uns werden die Schritte lauter und ich zwinge mich, ebenfalls schneller zu gehen, während ich in geduckter Haltung auf den Boden starre.

      „Na also, wer sagt’s denn“, murmelt Blake plötzlich. Ich blicke geradeaus und sehe nun ebenfalls unsere Rettung: Ein paar Meter weiter schimmert auf der rechten Seite ein schwach beleuchtetes grünes Notausgang-Schild.

      Ich atme aus und fühle, wie die Last von einem kompletten Felsenriff von mir abfällt. Doch dann höre ich wieder die Schritte und ermahne mich selbst, mich nicht zu früh zu freuen. Blake und ich rennen die letzten paar Meter zu dem Schild, ohne weiter auf den Boden zu achten. In einer Vertiefung im Fels befindet sich tatsächlich eine Tür, die in die Freiheit führt. Innerlich danke ich Gott dafür, dass er uns aus dieser Gefahr erlöst. Dann will ich die Tür öffnen, doch Blake hält mich auf.

      „Warte!“, sagt er und deutet auf den Boden vor der Tür, wo mehrere große Steine liegen, die sich wohl irgendwann mal von der Wand gelöst haben.

      „Was denn? Sollen wir die erst noch aus dem Weg räumen oder was?“, frage ich gestresst.

      Doch Blake schüttelt nur den Kopf, greift sich den größten und wiegt ihn kurz in der Hand.

      „Blake, was soll das?“, frage ich wütend, doch Blake unterbricht mich mit einem energischen „Sch!“, schiebt mich in die Vertiefung des Türrahmens, und stellt sich neben mich.

      „Hey!“, flüstere ich zurück.

      „Kannst du nicht einmal die Klappe halten, wenn man es dir sagt?“, entgegnet Blake.

      Entsetzt atme ich scharf die kühle Höhlenluft ein. Ich will gerade zu einer Antwort ansetzen, als plötzlich der Mann direkt vor uns auftaucht. Erschrocken sieht er uns an und will zu einem Angriff ansetzen, doch Blake ist schneller: Mit einer blitzschnellen Bewegung schlägt er dem Mann den Stein gegen die Schläfe. Dessen Blick zuckt noch einmal geschockt auf, bevor er zu Boden fällt und reglos liegen bleibt. Ich stoße einen erstickten Schrei aus.

      „Oh mein Gott! Ist er etwa tot?“

      „Glaube ich nicht“, erwidert Blake, „Schnell, jetzt müssen wir aber wirklich hier raus!“

      Ich reiße mich vom Anblick des am Boden liegenden Mannes los und öffne dann endlich die Tür. Diese führt zu einer Treppe, welche sich in einer Spirale immer weiter nach oben schraubt.

      „Blake, das… das war… Ich kann nicht fassen, dass du das getan hast.“ Mehr als diesen Satz bringe ich in dem Moment nicht zustande.

      „Ich auch nicht“, erwidert er schwer atmend. Der Schock scheint ihm mindestens ebenso zuzusetzen wie mir – wenn nicht sogar mehr.

      Ich habe mittlerweile kaum mehr die Kraft, mich weiter auf den Beinen zu halten, und ziehe mich Schritt für Schritt am Geländer nach oben. Ich hoffe, dass wir oben ankommen, bevor meine Beine nicht mehr mitspielen.

      Blake und ich sprechen nicht mehr. Stattdessen konzentrieren wir uns beide darauf, so schnell wie möglich hier raus zu kommen. In kurzen Abständen beleuchten in die Wand eingelassene Lampen die Wendeltreppe, ihr kaltes Licht fällt auf die abgenutzten Metallstufen. Die Treppe scheint sich endlos weit nach oben zu schrauben, und ich versuche, mich von der Anstrengung, die mich beinahe in die Knie zwingt, abzulenken. Ich denke an zu Hause, an unsere Villa, unseren wunderschönen Garten – an alles, wonach ich mich gerade sehne. Wie gerne würde ich jetzt an unserem Pool liegen, ein Getränk in der Hand und eine Sonnenbrille auf der Nase. Stattdessen bin ich hier – verschwitzt, verängstigt und kurz vorm Zusammenbrechen.

      „Endlich!“,