Laura Herges

Lost in London


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ich es, mich in das Loch hinabzulassen. Es ist tiefer, als ich dachte und als ich unten angekommen bin, sehe ich auch, was Blake gemeint hat: Er hat eine der Scheiben eingeschlagen, sodass wir hinunter in den Keller gehen können. Die Schwärze lacht mir hämisch entgegen und ich kann mich nicht dazu bewegen, als erstes in den Keller zu gehen. Stattdessen trete ich zur Seite, vor das zweite, nicht zerbrochene Fenster, und warte auf Blake. Dieser lässt sich gleich darauf geschmeidig wie eine Katze hinab in das Loch und schließt mit einer einzigen Bewegung das Gitter über unseren Köpfen.

      „Blake!“, flüstere ich.

      Er zuckt erschrocken zusammen. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst schon reingehen!“, meint er vorwurfsvoll.

      „Ich hab Angst“, erwidere ich.

      Blake seufzt genervt, dann tritt er entschlossen durch das zerbrochene Fenster. Ich kann nicht anders, als seinen Mut zu bewundern. Vielleicht lernt man das ja auf der Straße.

      Ich sehe, wie sein Handybildschirm schwach aufleuchtet und sich langsam vorwärts bewegt. Er beleuchtet mehrere Dinge, die ich jetzt, wo sich meine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnen, auch schemenhaft erkennen kann: eine alte Couch, einen Paravent, der daneben steht, und hinter welchem Blake ebenfalls für zwei Sekunden verschwindet, einen Sessel, einige Kartons, ein altes Bügelbrett und einen Fitnesstrainer. Der Raum ist zwar nicht gerade groß, aber dafür ziemlich zugestellt, sodass man kaum noch Platz zum Laufen hat.

      Vorsichtig stelle ich meine Füße auf die Fensterbank, gehe in die Hocke, halte mich mit meinen Händen an der Kante der Fensterbank fest und trete dann zuerst mit einem, und dann mit dem anderen Fuß in den dunklen Raum. Blake bedeutet mir mit einer Handbewegung, zu ihm zu kommen und ich folge ihm hinter den Paravent.

      „Hier hinten ist das perfekte Versteck. Wenn jemand reinkommt, findet er uns hier zumindest nicht gleich.“

      Ich nicke zustimmend und nehme neben Blake Platz, der sich bereits auf den alten Holzboden gesetzt hat. Die Dielen knacken, als ich mich hinsetze und ich zucke unwillkürlich zusammen. Kein Wunder, dass ich nach einem solchen Abend schreckhaft geworden bin…

      Es ist bequemer als es aussieht, aber in diesem Moment würde ich wohl jeden Ort bequem finden, an dem nicht auf mich geschossen wird.

      Blake nimmt seine Mütze ab und zum ersten Mal sehe ich seine Haare, wenn auch nur im Dunkeln. Sie sind ganz wirr vom Schweiß und stehen in alle Richtungen ab. Er fährt sich mit beiden Händen durch die Haare und streicht sie so zurück. Seine Mütze verstaut er in seinem Rucksack, den er abgenommen und neben sich gestellt hat, zwischen uns. Ich beobachte dabei jede seiner Bewegungen.

      „Deine Eltern sind also reich“, sagt Blake plötzlich in die Dunkelheit hinein. Überrascht blicke ich ihn an. „Deswegen lassen deine Eltern dich hier studieren, obwohl ihr aus den USA kommt. Wobei, die Studiengebühren sind bei euch ja so hoch, dass es vermutlich sogar günstiger ist, hier zu studieren…“

      Ich blicke ihn an und werde wütend. Ist das sein Ernst? Jetzt, wo wir in Sicherheit sind, fängt er an, mich zu verurteilen?

      „Woher willst du das wissen“, entgegne ich, „Du warst doch noch nie dort.“

      Er sieht weg. Ich beiße mir auf die Lippe.

      „Tut mir leid“, sage ich leise, „Das war blöd.“

      „Ist schon okay“, erwidert Blake, „Ich hab ja nicht immer auf der Straße gelebt.“

      „Also warst du doch schon mal dort?“, frage ich überrascht.

      Blake sieht mich an und verdreht genervt die Augen. „Ihr reichen Mädchen seid doch alle gleich: Sobald ihr hört, dass jemand ein bisschen Kohle hat, heftet ihr euch wie eine Klette an seine Fersen und lasst erst wieder los, wenn er euch ein paar Mal in ein Luxusrestaurant ausgeführt, und euch ein schönes Collier zum Geburtstag geschenkt hat.“

      Entgeistert schaue ich ihn an. „Du kennst mich doch gar nicht!“, erwidere ich wütend, spüre aber gleichzeitig, wie ich rot werde, denn tief in meinem Inneren weiß ich, dass er im Grunde genommen recht hat. Was war mein erster Gedanke, als ich ihn gesehen habe? Er ist zwar süß, aber auch verdammt arm. Er könnte dir nichts bieten…

      „Da musst du aber schon ein paar reiche Mädchen gehabt haben, wenn du das so genau weißt“, erwidere ich spitz.

      „Auch in meiner Schule gab es ein paar coole reiche Kids“, entgegnet er mit einer Stimme, die vor Sarkasmus nur so trieft, „Und ich war auch mit ein paar von ihnen befreundet, bis ich gemerkt habe, dass sie dich fallen lassen, sobald sie dich nicht mehr brauchen. Sie waren alle gleich: verwöhnt, manipulativ und gefühlskalt. Und sie kümmern sich einen Dreck um ihre sogenannten Freunde.“

      Ich muss schlucken und sehe Blake vorsichtig an.

      „Da hast du recht“, erwidere ich leise, „Seit ich hier bin, habe ich angefangen, zu zweifeln. Von meinen Freundinnen hat sich nur eine gemeldet, seit ich angekommen bin, ganz zu schweigen von dem Typen, den ich gerade date…“

      „Lass mich raten“, sagt Blake, „Er ist Quarterback.“

      „Nein, nur Offensive Tackle“, erwidere ich sarkastisch.

      „Was für eine Schande!“, entgegnet er amüsiert. „Wie lange datest du ihn schon?“, fragt er dann.

      Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Zu lange.“

      Er stößt ein schnaubendes Lachen aus.

      „Ich bin nicht verliebt in ihn“, sage ich, „Ich weiß noch nicht mal, ob ich ihn überhaupt mag.“

      „Warum datest du ihn dann?“, fragt Blake.

      „Ach, ich weiß nicht“, erwidere ich, „Vielleicht wollte ich einfach ein Date für den Abschlussball haben. Er ist sehr beliebt an meiner alten Schule, alle mochten ihn. Und ich dachte, das würde ich auch. Bis er dann vor meinen Augen mit einer meiner Freundinnen geflirtet hat.“

      „Autsch. Na, dann haben wir wohl beide negative Erfahrungen mit der High Society an Schulen gemacht.“

      „Nichts für ungut“, erwidere ich, „Aber die High Society an meiner Schule bestand nur aus Leuten, deren Eltern Multimillionäre waren. Das ist noch mal eine andere Stufe von Arroganz.“

      Und ich selbst war bis vor kurzem ein Teil davon, füge ich in Gedanken hinzu.

      Blake nickt verständnisvoll. Dann schweigen wir wieder. Ich lausche den Geräuschen, die durch das zerbrochene Fenster dringen. Immer noch eilen Menschen vorbei, aber es sind deutlich weniger geworden. Die Sensationslust ebbt ab, vermutlich ist die Frau sowieso schon längst ins Krankenhaus gebracht worden. Ich bin froh, dass wir hier unten sind, fühle mich sogar fast schon wohl in diesem fremden Keller, in einem fremden Haus. Hoffentlich kommt nicht gleich jemand rein und entdeckt die zerbrochene Scheibe. Noch eine Flucht möchte ich heute Abend nicht ertragen müssen.

      Wie bin ich hier nur gelandet?, frage ich mich nicht zum ersten Mal.

      Ich lausche Blakes Atem. Er ist viel ruhiger als vorhin. Ich würde ihn gerne ansehen, sein Gesicht näher betrachten, aber das würde ihm sofort auffallen.

      „Ist… mit deinen Eltern irgendwas passiert?“, frage ich vorsichtig in die Stille hinein.

      Blake schaut mich an. Der Blick seiner Augen, deren Farbe ich in der Dunkelheit immer noch nicht erkennen kann, ist intensiv und gleichzeitig zögernd. Dann nickt er und senkt den Blick.

      „Ich hatte noch nie das beste Verhältnis zu meinem Vater“, beginnt er, zu erzählen, „Er war schon immer kühl, hat selten Emotionen gezeigt und mir nie solche Sachen gesagt wie „Ich bin stolz auf dich“ oder „Ich hab dich lieb“ oder so was. Je älter ich wurde, desto öfter haben wir uns gestritten.“ Er sieht kurz weg. Es ist ihm unangenehm, mir das zu erzählen. Doch ich unterbreche ihn nicht, viel zu gespannt bin ich auf den Grund, warum er auf der Straße lebt.

      „Das war zwar nie besonders schön, aber es wurde immer durch meine Mutter