Laura Herges

Lost in London


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wir schaffen das schon irgendwie zusammen.“

      „Okay“, erwidere ich und spüre, wie die Müdigkeit mich endgültig zu übermannen droht. Wäre es wirklich gut, in einer solchen Situation einzuschlafen? Andererseits hat schon seit ein paar Minuten niemand mehr versucht, mich zu entführen. Wäre es so falsch, nur für einen Moment die Augen zu schließen? Nur ganz kurz? Ich versuche, mich an einen anderen Ort zu denken. Ich liege in meinem Himmelbett zu Hause, mit meiner kuschelweichen Decke in meinem nach frischer Wäsche duftenden Schlafanzug. Ich bin geschützt. Niemand kann mir etwas tun.

      Doch bevor ich einschlafe, fällt mir doch noch etwas ein.

      „Blake?“, frage ich, schon halb im Traum.

      „Hm?“, erwidert er müde.

      „Wie alt bist du eigentlich?“

      Es dauert einen Moment lang, bis eine Antwort kommt. Dann sagt er leise: „Neunzehn. Und du?“

      „Achtzehn“, erwidere ich.

      „Wenigstens etwas, das passt“, ist das letzte, was ich höre, bevor ich in den Schlaf sinke. Oder habe ich mir das doch nur eingebildet?

      Kapitel 5

       Southwark, London. Dienstag, 23:27 Uhr.

      „Phoebe!“

      Ich reagiere nicht auf die Stimme. Wenn ich mich einfach weiterhin schlafend stelle, darf ich vielleicht noch ein bisschen weiter dösen.

      „Phoebe!“

      Ach Mist, jetzt wird sie energischer. Ich versuche, etwas zu erwidern, aber es kommt dabei nur ein müdes Murmeln heraus.

      „Hey!“ Jetzt rüttelt sogar noch jemand an meiner Schulter. Was fällt dem nur ein?

      „Ich komm gleich, Dad. Nur noch fünf Minuten“, murmele ich.

      „Phoebe, ich bin nicht dein Dad. Ich bin’s, Blake!“

      Blake, wer war das noch mal?

       Blake!

      Mit einem Mal bin ich hellwach.

      „Was ist? Ist jemand gekommen?“

      „Pscht!“, ermahnt er mich sofort.

      „Sorry!“, flüstere ich.

      „Wir müssen schnell hier weg. Eben war eine Frau da. Sie ist total erschrocken, als sie das Loch in der Scheibe gesehen hat und geht jetzt, glaube ich, ihren Mann holen. Also komm.“

      Er erhebt sich und ich realisiere, dass mein Kopf die ganze Zeit an seiner Schulter gelegen hat. Ich werde rot. Ob er wohl auch geschlafen hat?

      Blake reicht mir seine Hand und ich stehe ebenfalls auf. Im gleichen Moment schießt ein stechender Schmerz durch meine Gliedmaßen. Ich ziehe scharf die Luft ein. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen solchen Muskelkater hatte.

      Blake ist schon beim Fenster und ich eile nun auch quer durch den Raum. Geschickt steigt Blake durch die eingeschlagene Scheibe, während ich nervös zur Tür blicke. Hoffentlich schläft der Mann schon und seine Frau muss ihn erst mal aus dem Bett holen… Wie viel Uhr ist es überhaupt? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren.

      Blake streckt mir erneut seine Hand entgegen und mit seiner Hilfe steige ich durch das Fenster nach draußen. Blitzschnell hat er das Gitter angehoben und schiebt es so leise wie möglich aus dem Weg. Er sieht sich kurz um, stemmt dann seine Hände auf die Kante und stößt sich ab. Sobald er draußen ist, hilft er mir dabei, ebenfalls aus dem Loch zu steigen, und schiebt dann das Gitter wieder zurück an seinen Platz.

      Die Straße ist leer bis auf zwei Betrunkene, die lachend herumtorkeln, auf uns zeigen und dabei irgendwas lallen. Schnell ergreifen wir die Flucht. Dieses Mal rennen wir nicht, dafür schmerzen meine Muskeln viel zu sehr, aber wir laufen doch in schnellem Tempo.

      „Wo sollen wir hin? Was hast du vor?“, frage ich.

      „Nicht weit von hier gibt es eine Obdachlosenunterkunft, in der ich schon mal übernachtet habe. Aber die ist in der Nähe der Tower Bridge“, erwidert er und läuft los.

      Ich eile ihm nach, bis ich mit ihm gleichziehe. Dann frage ich: „Wie viel Uhr ist es eigentlich? Wie lange hab ich geschlafen?“

      Blake schaut auf seinen Handybildschirm. Ich sehe, dass er nur noch wenige Prozent Akkuladung hat.

      „Halb zwölf“, erwidert er, „so an die zwei Stunden.“

      „Und du?“, frage ich.

      „Was und ich?“, entgegnet er gestresst.

      „Na, hast du auch geschlafen?“

      „Kurz, bis diese Frau aufgetaucht ist.“

      „Aber sie hat uns nicht gesehen, oder?“

      Blake schüttelt den Kopf. „Deswegen haben wir uns ja hinter dem Sichtschutz versteckt.“

      „Blake, warte“, sage ich und er bleibt sofort stehen.

      „Was ist denn?“, fragt er genervt.

      „Ich kann nicht so schnell“, erwidere ich schnaufend, „Mir tut alles weh, bitte mach ein bisschen langsamer!“

      „Entschuldige“, entgegnet er abwesend und verlangsamt seine Schritte, während er sich mit beiden Händen die Haare zurückstreicht.

      Ich kann seine Genervtheit gut nachvollziehen. Auch ich dachte, wir hätten unser Quartier für die Nacht gefunden, und jetzt sitzen wir wieder auf der Straße.

      Blake muss jeden Tag so leben, denke ich und frage mich, wie er dieses Leben aushält – vor allem, weil er auch die andere Seite kennt: sich keine Sorgen um Geld machen zu müssen, genug zu essen zu haben, und ein Dach über dem Kopf.

      Ich bin zwiegespalten: Auf der einen Seite bewundere ich ihn, weil er sich in dieser kalten Welt ganz allein durchboxt. Auf der anderen Seite kann ich den Groll, den er gegen seinen Vater hegt, zwar nachvollziehen, aber ist es das wirklich wert, auf der Straße zu leben? Kälte, Armut und Kriminalität gnadenlos ausgeliefert zu sein? Ich verstehe ihn einfach nicht, vermutlich auch, weil ich mit meinen Eltern ein so gutes Verhältnis habe…

      Müde laufe ich neben Blake her, ich stecke noch halb in meinem Traum fest. Ich habe vom Abschlussball geträumt, nur dass dieses Mal alles anders lief. Ich war nicht mit Ricky dort, sondern mit Blake. Als ich daran denke, schießt mir das Blut in die Wangen und ich hoffe, dass er mich jetzt nicht ansehen wird. Und ich habe Glück: Blake scheint völlig in Gedanken versunken zu sein. Er starrt geradeaus, während wir zur Tower Bridge laufen, und scheint über irgendetwas nachzugrübeln. Vielleicht hat ihn unser Gespräch vorhin zum Nachdenken gebracht. Vielleicht will er ja doch wieder studieren. Ich würde es mir für ihn wünschen…

      Wieder kommen uns kaum Menschen entgegen, nur ab und zu mal ein paar Betrunkene. Die Mädels hier tragen alle Minikleider, viele sogar ohne Strumpfhosen. Ich frage mich, wie sie das aushalten, denn mittlerweile hat die Kälte doch noch Einzug gehalten. Auch ich friere ein wenig in meinem Wollpullover. Ich schlinge meine Arme um meinen Oberkörper. Ich hätte nie gedacht, dass London auch so ungemütlich sein könnte. Für mich stand es bisher irgendwie immer für menschliche Wärme, Gastfreundlichkeit und einen entspannteren Lebensstil – verglichen mit den Großstädten in den Staaten zumindest. Aber da wusste ich ja auch noch nicht, dass ich mal in einem solchen Albtraum landen würde…

      Wir laufen an einer Telefonzelle vorbei und ich fixiere sie ängstlich mit meinem Blick.

      Bitte fang nicht an zu klingeln!, denke ich und wende meinen Blick keine Sekunde von ihr ab, als ob ich kontrollieren könnte, wann jemand anruft und wann nicht.

      Kein einziger Stern ist über uns am Himmel zu sehen, und es kommt uns auch niemand mehr entgegen. Bis auf ein Auto ab und zu sind alle Geräusche verstummt,