Laura Herges

Lost in London


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wenn Blake irgendwann nicht mehr weiter kann? Ich habe nicht genug Kraft, uns beide dort hinüber zu bringen. Aber um Hilfe rufen darf ich auch nicht… Vor Angst und Verzweiflung kommen mir schon wieder die Tränen, als Blake plötzlich sagt: „Wir sind nah genug dran. Los!“

      Ich spüre, wie er das Boot loslässt. Ich schließe einen Moment lang die Augen und sende ein weiteres Stoßgebet gen Himmel, bevor ich mich ebenfalls vom Schiffsrumpf abstoße und beginne, zu schwimmen. Obwohl ich schlecht in Sport bin, war ich doch immer eine ganz passable Schwimmerin, aber bisher bin ich auch noch nie in so eisigem Wasser geschwommen. Mein Herzschlag beschleunigt sich wieder, sobald ich die Griffe, und somit mein einziges bisschen Sicherheit, loslasse. Ich versuche, mit möglichst großen, kräftigen Zügen zu schwimmen.

      Es sind nur ein paar Meter!, sage ich mir, Nur noch ein paar Meter mehr!

      Dennoch kommen mir diese paar Meter endlos lange vor. Ich versuche, mich auf Blake zu konzentrieren, der voraus schwimmt. Er krault, was ich selbst noch nicht mal kann. Er scheint generell ziemlich sportlich zu sein. Ob er in Oxford wohl in einem Sportteam war? Bestimmt hatte er ein Sportstipendium, sodass seine Familie die Kosten für die Uni nicht tragen musste. Ob er wohl gut in der Uni war? Ich wüsste so gern mehr über sein früheres Leben, was für ein Typ er war, bevor er auf der Straße gelandet ist. Ob seine Kommilitonen wohl ab und zu an ihn denken? Ob sie sich fragen, wo er abgeblieben ist? Vielleicht hat sein Vater ja eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Danach habe ich ihn noch gar nicht gefragt, das muss ich auf jeden Fall nachholen – aber erst, wenn diese schrecklichen Schmerzen aufhören, die jetzt mit jedem Schwimmzug stärker werden. Ich frage mich, wie lange ich das noch aushalte. Wahrscheinlich hält mich nur noch das Adrenalin, das schon den ganzen Abend durch meine Adern rauscht, am Leben. Und dennoch werde ich schon wieder schrecklich müde. So abrupt wie ich vorhin aus meinem Traum gerissen worden bin, würde ich auch jetzt gerne aus diesem Albtraum befreit werden.

      Oh Gott, immerhin kommt das Boot jetzt endlich näher! Blake hat es schon fast erreicht, während ich weiter mit meiner schwindenden Kraft kämpfe. Ich atme schwer und trotz der Kälte läuft mir immer noch der Schweiß in Strömen über die Stirn. Meine Lungen tun weh, in der Eiseskälte des Wassers ist es schmerzhaft, wenn sie sich beim Ausatmen entfalten.

      Das Boot ist jetzt direkt vor mir, und während meine Schwimmzüge immer schwächer werden, sehe ich, wie Blake sich mühsam an der kleinen Leiter am Rand nach oben zieht. Er rutscht ab und droht, wieder ins Wasser zu fallen, doch er fängt sich wieder und zieht sich mit eisernem Willen an Bord. Die letzten Meter sind die schwersten: Anstelle von richtigen Schwimmbewegungen, bin ich mittlerweile nur noch in der Lage, mich strampelnd irgendwie über Wasser zu halten. Keuchend und schnaufend bewege ich mich vorwärts in diesem Meer aus Schmerz. Und dann komme auch ich endlich an der Leiter an. Ich versuche, mich an einer der Sprossen nach oben zu ziehen, doch meine Hände sind taub vom kalten Wasser und ich bekomme sie nicht richtig zu greifen. Verzweifelt stöhne ich auf, als es auch beim zweiten Versuch nicht klappt. Blake taucht nun über der Reling auf und kommt mir erneut zu Hilfe. Mit gerade so viel Kraft wie er noch übrig hat, bückt er sich nach unten, greift mir unter die Arme und versucht, mich nach oben zu ziehen. Doch wir sind beide völlig entkräftet und so muss er mich schnell wieder absetzen, bevor er selbst zurück ins Wasser fallen könnte. Blake atmet einmal kurz und heftig durch, dann versucht er es erneut und ich versuche, ihm so gut es geht zu helfen, indem ich meine Füße auf die Sprossen der Leiter stelle und probiere, nach oben zu klettern.

      Blake stöhnt auf vor Anstrengung und ich halte die Luft an, darauf gefasst, jeden Moment wieder im Wasser zu landen, aber wie durch ein Wunder schaffen wir es dieses Mal tatsächlich: Blake zieht mich nach oben und wie ein nasser Sack fallen wir beide zu Boden. Ich bin auf ihm gelandet und schaffe es gerade noch so, mich auf den Rücken zu rollen.

      So liegen wir jetzt nebeneinander und sind beide zu schwach, noch irgendetwas zu tun. Ich versuche, ruhig durchzuatmen und lausche Blakes Atem, der genauso heftig geht wie mein eigener. Mein Blick ruht auf dem sternenlosen Himmel. Nichts anderes ist in meinem Blickfeld außer dieser tiefen Schwärze, die mich an die Dunkelheit unter Wasser erinnert, von der wir gerade nur durch die dünnen Schiffsplanken getrennt werden. Schnell schließe ich die Augen und versuche, an etwas anderes zu denken. Doch sobald meine Augen geschlossen sind, fange ich an, vor mich hin zu dösen und ich darf hier draußen nicht einschlafen! Das könnte meinen Tod durch Unterkühlung bedeuten…

      Ich drehe mich mühsam zur Seite, um zu sehen, ob Blake noch wach ist. Ja, er liegt auf dem Rücken und starrt in den Himmel, während sein Brustkorb sich nun langsamer hebt und senkt, aber er ist zum Glück bei vollem Bewusstsein.

      Langsam kehrt das Gefühl in meine Gliedmaßen zurück. Zaghaft versuche ich, meine Zehen zu bewegen und stelle erleichtert fest, dass sich alle ganz normal bewegen lassen. Keiner ist abgefroren. Auch meine Finger bewege ich nun: Ich balle meine Hände zu Fäusten: Einmal. Zweimal. Und dreimal. Auch hier scheint noch alles dran zu sein.

      „Wir müssen aufstehen“, sagt Blake auf einmal mit heiserer Stimme, „Wir müssen unseren Kreislauf wieder hoch bringen.“

      Ich seufze allein bei dem Gedanken daran. Doch dann nehme ich meine gesamte Kraft zusammen und setze mich langsam auf. Sofort wird mir schwarz vor Augen.

      Ich stoße ein leises, wimmerndes Geräusch hervor und greife mir instinktiv an die Stirn.

      „Mach langsam!“, sagt er.

      Ich schließe für einen Moment die Augen und atme tief durch, dann öffne ich sie wieder.

      „Geht wieder“, murmele ich und gehe langsam auf meine Knie.

      Blake tut es mir gleich. Er sieht extrem fertig aus, aber ich will gar nicht wissen, wie ich gerade aussehe. Wir bleiben beide einen Moment auf unseren Knien, bevor Blake vorsichtig aufsteht. Ich will es ihm gleichtun, aber sobald ich mich aufrichte, fährt ein scharfer Schmerz in meine Beine. Ich ziehe scharf die Luft ein und versuche es dann erneut. Ich darf einfach nicht auf den Schmerz hören!

      Reiß dich zusammen!, befehle ich meinem Körper und stehe schließlich auf.

      Aber wo ist Blake denn jetzt abgeblieben? Panisch schaue ich mich um und laufe über das kleine Deck, in dessen Mitte sich eine Art kleines Häuschen befindet, in dem jetzt hoffentlich niemand schläft, der uns gleich wieder rausschmeißen wird… Ich gehe auf die andere Seite des Häuschens und entdecke Blake endlich. Er betrachtet gerade das Türschloss und scheint zu überlegen, wie wir da reinkommen könnten.

      „Das wird leider nicht anders gehen“, murmelt er und sieht mich an. „Wir müssen wohl wieder durchs Fenster.“ Mit diesen Worten geht er zu dem kleinen Fenster neben der Tür, lässt seine Hand im Ärmel seiner Kapuzenjacke verschwinden, zieht den Ärmel ein wenig zurück und hält ihn fest, und schlägt dann das Fenster ein. Mit einem lauten Krachen zersplittert das Glas. Ich halte meine Hände vors Gesicht, um mich vor Glassplittern zu schützen. Blake bricht noch ein paar spitze Scherben aus dem Rahmen, damit wir nicht aufgeschlitzt werden, wenn wir hindurchgehen. Gleich darauf steigt Blake auf die Fensterbank und lässt sich vorsichtig ins Innere des Bootes hinab.

      Nervös blicke ich mich um, aber von Passanten ist hier zum Glück keine Spur. Wir sind zwar immer noch in London, aber lange nicht mehr so zentral wie noch vorhin. Eine kühle Brise fegt über das Wasser und ich schlinge fröstelnd die Arme um den Leib.

      „Die Luft ist rein“, wispert Blake in dem Moment, worauf ich ebenfalls zögernd auf die Fensterbank steige. Ich will gar nicht wissen, wie viele Gesetze wir in der kurzen Zeit, die wir uns jetzt kennen, schon gebrochen haben…

      Drinnen ist es dunkel und ich erkenne kaum etwas.

      „Wir können kein Licht machen, sonst sieht uns vielleicht noch jemand“, meint Blake. Natürlich, das kommt ja auch noch dazu…

      Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, die nur von ein paar weit entfernten Straßenlaternen erhellt wird. Ich erkenne eine etwas abgenutzte Einrichtung: Einen kleinen Stuhl, daneben einen winzigen Beistelltisch, einen gewebten Teppich, eine große Truhe in einer Ecke – und das war’s dann auch schon.

      „Glaubst du, hier gibt es…