Laura Herges

Lost in London


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Ich bin entsetzt. Hat er das gerade wirklich zu mir gesagt?

      „Die anderen Wege sind versperrt, wir haben keine andere Wahl, aber ich weiß, wie ich uns rette, okay? Also vertrau mir!“

      Wir haben keine Zeit mehr zu verschwenden. Also nicke ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Mit schnellen Schritten steigen wir beide über die Brüstung.

      „Hey, was habt ihr beiden vor?“, ruft einer der Fußgänger von weiter hinten entsetzt und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie die ‚Polizisten‘ auf uns zu rasen.

      „Nimm meine Hand!“, sagt Blake, „Bei drei springen wir. Eins… Zwei… Drei!“

      Genau rechtzeitig lassen wir die Brüstung los. Hinter uns höre ich noch entsetzte Schreie, bevor ich auf die Wasseroberfläche treffe.

      Kapitel 6

       Tower Bridge, Southwark, London. Dienstag, 23:47 Uhr.

      Viele Leute beschreiben einen Sturz aus solcher Höhe als das Gefühl, endlos lange zu fallen. Doch für mich fühlt sich das Fallen genauso kurz an wie der Moment, in dem ich darüber nachgedacht habe, was ein Sturz aus solcher Höhe anrichten kann.

      Schmerz. Reiner Schmerz ist alles, was ich spüre, sobald ich unter Wasser bin. Das Wasser ist eiskalt, doch ich spüre die Kälte nicht als Kälte, sondern als die grausamsten Schmerzen, die ich je gefühlt habe. Wie tausende winziger Nadeln sticht sie meine Haut, setzt ihren Stachel in meine Lungen, mein Herz und mein Gehirn, lässt mich gleichzeitig erfrieren und verbrennen. Ich öffne meinen Mund zu einem stillen Schrei, doch das sorgt nur dafür, dass ich spüre, wie das Wasser in meine Lungen dringt und sie verstopft, den Sauerstoff herauspresst, und mich langsam und qualvoll erstickt. Ich blicke nach unten und sehe nichts als tiefschwarze Dunkelheit. Panik übermannt mich und ich beginne, zu strampeln. Plötzlich werde ich mit einem Ruck nach oben gerissen und merke, dass Blake meine Hand die ganze Zeit über nicht losgelassen hat, und, im Gegensatz zu mir, mit dem Kopf wieder über Wasser ist. Das ist meine einzige Chance zu überleben, ich muss ebenfalls wieder über Wasser!

      Mit letzter Kraft ziehe ich mich an seinem Arm nach oben und tauche keuchend und hustend an der Oberfläche auf. Blake blickt sich zu mir um.

      „Alles in Ordnung?“, fragt er fröstelnd.

      „S-so k-k-kalt!“, stoße ich zitternd hervor. Und tatsächlich spüre ich erst jetzt, wo ich mit dem Kopf über Wasser bin, die eisige Kälte des Flusses, in den wir gerade gesprungen sind. In meinem gesamten Leben war mir noch nie so kalt. Es ist so eisig kalt, dass ich Angst habe, mein Herz könnte jeden Moment stehenbleiben.

      Blake stößt einen angestrengten Laut aus, und nun sehe ich auch, was er mit seinem ‚Plan‘ gemeint hat: Er hält sich an der Leiter eines Schiffes fest, das plötzlich unter der Brücke aufgetaucht ist.

      „Hör zu“, sagt er mit zitternder Stimme zu mir, „Du musst dich hier festhalten und du darfst nicht loslassen, okay?“ Er deutet mit dem Kopf auf die Leiter, die an Bord des Schiffes führt, und zieht mich näher zu sich. Ich ergreife die Stangen, welche rechts und links von den Stufen angebracht sind. Blake bleibt hinter mir, ergreift sie nun ebenfalls mit beiden Händen und drückt mich so gleichzeitig mit seinem Körper an den Schiffsrumpf.

      „K-können wir da hoch?“, frage ich zögernd.

      „Nein“, erwidert Blake, „Der Schatten des Schiffs v-versteckt uns vor den Killern.“

      Das war also sein Plan: Als er sich auf der Brücke umgeblickt hat, hat er gesehen, dass gerade ein kleines Schiff unter der Brücke hindurchfährt, dessen Schatten uns das perfekte Versteck bietet, und dessen laute Motorengeräusche verbergen, dass wir den Sturz überlebt haben. Also ist er mit mir nach unten gesprungen und in den Schatten getaucht, sodass die Männer uns nicht länger sehen können. Eine ziemlich geniale Idee, wenn nur die schreckliche Kälte nicht wäre, die es mir schwer macht, mich immer weiter an den Eisenstäben festzuhalten.

      Plötzlich ertönen mehrere platschende Geräusche nacheinander, als ob kleine Gegenstände ins Wasser fallen würden. Ich schaue zurück zur Brücke, von der wir uns mit dem schnellen Boot bereits einige Meter entfernt haben, und stelle entsetzt fest, dass die drei Männer aufs Wasser schießen, und zwar genau auf die Stelle, an der wir gerade eben, nach unserem Sprung, vermutlich aufgekommen sind. Zum Glück hat uns das Schiff mittlerweile einige Meter weiter transportiert.

      „Sieh nicht hin“, murmelt Blake dicht an meinem Ohr, „Denk lieber an etwas Schönes!“

      Und das versuche ich dann auch. Ich schließe die Augen und versuche, mich abzulenken. Doch die eisige Kälte holt mich schnell zurück auf den Boden der Tatsachen und vertreibt jede Kreativität und Vorstellungskraft aus meinem Gehirn. Wie lange kann man eigentlich in so eisigem Wasser bleiben, ohne zu erfrieren? Der Gedanke trifft mich wie ein Schlag. Was, wenn wir jetzt hier draußen erfrieren und unsere Leichen erst in ein paar Monaten gefunden werden? Niemand könnte unseren Verfolgern etwas nachweisen, geschweige denn ihrem Auftraggeber.

      Und wieder frage ich mich, wer der Mann sein könnte, der mich jagt wie ein wildes Tier. Meine Eltern haben keine Feinde, zumindest keine, von denen ich wüsste. Natürlich haben sie einige Konkurrenten, der Markt ist ja stark umkämpft, aber richtige Feinde, die bereit sind, ihre Tochter zu töten? Der Mann hat vorhin von Rache gesprochen, aber als ich ihn danach gefragt habe, ist er natürlich nicht näher darauf eingegangen. Die Ungewissheit macht mich fertig. Wer will sich an meinen Eltern rächen? Und wofür denn bitte? Was haben sie getan, wovon ich nichts weiß? Es muss etwas Schreckliches sein, wenn es einen Menschen dazu bringt, so weit zu gehen. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass meine lieben, guten Eltern einem Menschen etwas Derartiges antun könnten. Vielleicht war es ja in ihrer lange zurückliegenden Vergangenheit? Oder vielleicht haben gar nicht sie es getan, sondern die Eltern von meiner Mutter oder meinem Vater oder ihre Geschwister? Ich wünschte nur, ich könnte meine Eltern anrufen und mit ihnen sprechen, mich zumindest vergewissern, dass es ihnen gut geht. Dieser dämliche van Doyle! Was, wenn doch er dahinter steckt? Wenn das Motiv eigentlich Rache und nicht Habgier ist, ist das doch gar nicht mehr so abwegig, oder? Aber Rache wofür, verdammt? Außerdem kennen meine Eltern und er sich doch erst seit ein paar Monaten – oder etwa doch nicht? Hat er vielleicht sogar eine andere Identität angenommen, um sie in seine Falle zu locken? Aber was ist dann mit den anderen Konferenzteilnehmern? Wäre er tatsächlich bereit, sie ebenfalls umzubringen, nur, um meine Familie zu töten? Das darf ich auf gar keinen Fall zulassen!

      Und wenn es nun doch nicht van Doyle ist? Dann stehe ich wieder ganz am Anfang meiner Überlegungen. Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich und ich habe so langsam das Gefühl, verrückt zu werden.

      „Phoebe? Nicht einschlafen, hörst du!“, fährt mir Blake dazwischen.

      „Ja!“, erwidere ich bibbernd. Mein Atem gefriert dabei zu einer Eiswolke. Aber je länger ich im Wasser bin, desto weniger spüre ich die Kälte. Sind meine Gliedmaßen etwa schon abgefroren? Ich strample probeweise und ein scharfer Schmerz fährt mir in die Beine. Noch alles dran.

      „Siehst du das kleine Boot da vorne?“, fragt Blake in dem Moment. Ich drehe meinen Kopf nach links, sodass ich sehen kann, was er meint.

      Mehrere Boote liegen an einem Steg vor Anker, das kleinste von ihnen ist vielleicht so groß wie ein Rettungsboot auf einem der Luxusdampfer, auf dem meine Eltern und ich schon die ein oder andere Kreuzfahrt gemacht haben.

      „Ja“, erwidere ich mit vor Erschöpfung heiserer Stimme.

      „Wir schwimmen gleich dorthin und versuchen, auf das Boot zu kommen.“

      Wenn es mir nicht so schlecht gehen würde, würde ich jetzt lachen. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch in der Lage bin, zu schwimmen, von Klettern ganz zu schweigen…

      Ich denke wieder an die endlose Dunkelheit, die dort unten lauert. Was, wenn mich meine Kraft beim Schwimmen endgültig verlässt