Laura Herges

Lost in London


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bitte sei nicht verschlossen!“, murmele ich, während Blake die Klinke nach unten drückt und sich mit seinem gesamten Gewicht gegen die Tür lehnt.

      Und wir haben tatsächlich einmal Glück: Die Tür öffnet sich sofort.

      „Yes!“, sagt Blake und auch ich stoße einen kurzen Jubel hervor.

      Wir treten aus der Dunkelheit und schließen die Tür hinter uns. Dann fallen wir uns spontan in die Arme. Blake ist ebenfalls nass geschwitzt und der Geruch seines Deos steigt mir in die Nase, als ich mich für einen Moment an seine Brust klammere. Es ist kein unangenehmer Duft, eher dezent, man merkt es kaum. Ich dachte immer, Obdachlose würden… nun ja, nicht so angenehm riechen?

      „Das war echt krass“, keuche ich, während ich mich vorsichtig von Blake löse und versuche, nicht zusammenzubrechen. Meine Knie sind mittlerweile zu Pudding geworden und ich habe kaum noch die Energie, mich aufrecht zu halten.

      „Das kannst du laut sagen“, erwidert Blake schwer atmend, „Komm, lass uns verschwinden.“

      Erst jetzt sehe ich, wo wir hier überhaupt gelandet sind: Es ist eine weitere U-Bahn-Station und wir stehen genau an ihrem Ausgang, wo gerade einige Menschen unterwegs sind. Endlich! Je mehr Menschen, desto sicherer sind wir.

      Wir gehen nun ebenfalls nach draußen und ich traue meinen Augen kaum, als ich es erblicke: The Shard, das höchste Hochhaus in London, in dem sich auch unser Hotel befindet! Ich stoße einen Jubelschrei aus. Ein paar Passanten blicken sich nach uns um, aber das ist mir jetzt völlig egal.

      „Was ist denn?“, fragt Blake überrascht.

      „Da vorne ist unser Hotel!“, erwidere ich freudestrahlend.

      „Was? Wo?“

      „Na, da vorne, in The Shard!“

      „Was? Meinst du etwa das Shangri La?“

      „Ja!“, entgegne ich nun etwas ungeduldig.

      „Hast du eine Ahnung, wie teuer es dort ist? Von dem Geld, das man dort für eine Nacht bezahlt, könnte man sich einen Kleinwagen kaufen!“

      „Das ist doch jetzt egal!“ Meine Geduld hat nun endgültig ihre Grenze erreicht. „Na los, komm mit! In unserer Suite sind wir sicher!“

      Ich laufe los und Blake folgt mir seufzend. Ich kann meine Freude und Erleichterung kaum verbergen, schwinge ausgelassen die Arme, während wir die Straße überqueren, und strahle übers ganze Gesicht. Nur noch wenige Meter trennen mich vom Hotel. Ich sehe mich schon ein Bad nehmen in der Wanne, die direkt am Panoramafenster steht, die Minibar plündern, in meinem kuschelig weichen Bett schlafen…

      Plötzlich ertönt ein lauter Knall und vereinzelt schreien Menschen auf. Ehe ich reagieren kann, umschlingen mich Blakes Arme und er reißt mich zu Boden. Ich schreie nun ebenfalls auf, und sehe, wie in wenigen Metern Entfernung Teile eines explodierenden Mülleimers zu Boden fallen. Das Metall ist innerhalb eines kurzen Augenblicks vollkommen zerfetzt worden, die Reste des Mülleimers stehen in Flammen und die Trümmerteile sind mehrere Meter weit geflogen. Uns beide hat zum Glück keines erwischt, doch ein paar Meter weiter hält eine Frau sich die blutende Schläfe. Ein Mann kniet neben ihr und redet nervös auf sie ein. Immer mehr Menschen laufen zu den beiden und eine Frau ruft: „Schnell, wir brauchen einen Krankenwagen!“

      Ich zittere am ganzen Körper und mir ist plötzlich eiskalt.

      Ist das etwa unsere Schuld gewesen?, frage ich mich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem gesamten Körper aus und erneut bin ich vor Schock wie gelähmt.

      Mein Blick wandert von der Menschentraube, die sich um die verletzte Frau gebildet hat, zu dem brennenden Mülleimer. Die Flammen lodern weiter und in ihnen glaube ich, unser Spiegelbild zu erkennen.

      Kapitel 4

       The Shard, Southwark, London. Dienstag, 21:12 Uhr.

      Auf einmal spüre ich, wie sich neben mir etwas rührt und ich erinnere mich wieder daran, dass Blake mich gepackt und zu Boden gerissen hat. Ich atme tief ein und merke dabei, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Meine Lungen füllen sich auf einmal mit Sauerstoff, so schnell, dass es wehtut und ich husten muss.

      „Sachte“, murmelt Blake, setzt sich auf und hilft dann mir, es ihm gleichzutun.

      Ich kann immer noch nichts sagen und starre weiter geschockt auf das Szenario direkt vor uns, ohne auch nur ein einziges Geräusch wahrzunehmen. In meinem Kopf gibt es nur einen schrillen Ton, der langsam anschwillt, bis er mich komplett ausfüllt.

       Das ist alles unsere Schuld!

      „Phoebe!“, sagt Blake plötzlich und rüttelt an meiner Schulter, womit er mich zurück in die Realität holt. Erschrocken sehe ich ihn an.

      „Wir müssen hier weg“, meint er. In dem Moment taucht mit lauter Sirene und Blaulicht ein Krankenwagen auf.

      „Wenn die Polizei hier auftaucht, werden sie uns als Zeugen vernehmen wollen. Und du weißt, was passiert, wenn wir mit einem Polizisten reden…“

      Ich nicke. Auch, wenn der Schock mein Gehirn größtenteils ausgeschaltet hat, verstehe ich doch, was er sagen will: Wir sind in Gefahr – schon wieder.

      Mühsam ächzend steht Blake auf, dann reicht er mir seine Hand. Ich schaue noch einmal auf das Chaos, das wir zurücklassen, dann ergreife ich seine Hand und lasse mich von ihm hochziehen, denn die Kraft, allein aufzustehen, habe ich nicht mehr.

      Langsam, um so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, entfernen wir uns vom Tatort. Wir laufen in Richtung London Bridge, weg von dem sicheren Hotel, in dem ich jetzt so gern wäre. Stumm laufen mir Tränen über die Wangen. Kein Schluchzen, sogar dafür fehlt mir mittlerweile die Kraft.

      Je näher wir der Brücke kommen, desto mehr Menschen kommen uns entgegen. Sie wollen sicher alle zu dem Ort, an dem ein Mülleimer explodiert ist und eine Frau verletzt wurde. Alle wollen Zeugen des Unglücks werden, sich ein Bild von dem Zwischenfall machen, ein Stück Sensation mit nach Hause nehmen. Es wird zunehmend enger in der Gasse, weil sich mehr und mehr Menschen an uns vorbeidrängen. Ihr Murmeln schwillt an und man kann kaum noch etwas verstehen bei dem hohen Geräuschpegel. Der Atem der Menschen nimmt der Atmosphäre den Sauerstoff, man bekommt kaum noch Luft. Ich atme krampfhaft ein und muss für einen Moment stehen bleiben und die Augen schließen.

      „Hey, ich bin bei dir!“, höre ich plötzlich eine Stimme direkt hinter mir. Er ergreift meine Hand und zieht mich an den Rand des Gedränges. „Dieser Massenauflauf ist die perfekte Chance für uns, unterzutauchen“, raunt er mir ins Ohr. Er blickt sich nach allen Seiten um, auf der Suche nach einem unserer Verfolger, dann murmelt er dicht neben meinem Ohr: „Gib mir Deckung, okay?“

      Ich nicke stumm und Blake tritt zunächst hinter mich, bevor er in die Knie geht. Ich traue mich nicht, nachzusehen, was er dort unten tut. Mit einem einzigen Blick könnte ich ihn verraten.

      Der Menschenstrom versiegt nicht – im Gegenteil: Es werden eher noch mehr. Je schneller sich die Nachricht verbreitet, desto mehr Menschen drängen sich durch die schmale Straße. Es sind mittlerweile so viele, dass sie mich fast schon wieder berühren, während sie vorbeilaufen. Ich will nicht mehr, ich muss hier raus!

      In genau dem Moment spüre ich Blakes Hand, wie sie mich am Arm berührt.

      „Schnell, geh nach unten. Aber pass auf die Scherben auf!“, murmelt er in mein Ohr.

      Ich nicke, ohne mir richtig über die Bedeutung seiner Worte bewusst zu sein. Dann gehe ich an die Stelle, an der er bis gerade eben noch beschäftigt war und sehe, was er meint: Erneut hat er das Gitter über einem Kellerfenster herausgehoben. Er hat es allerdings nur soweit zur Seite geschoben, dass wir beide unauffällig in das Loch klettern, und das Gitter dann wieder zurück in seine Halterung ziehen können, ohne dass es jemandem auffällt.

      Schon