Jay Baldwyn

Wehe, wenn Santa kommt!


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Radio ging. Als sie wiederkam, umringten Amos die halbwüchsigen Zwillinge Jesse und Pamela, weil sie wie stets glaubten, ihr Anliegen sei das wichtigste.

      »Nun lasst doch euren Dad erst mal ankommen. Ihr habt ihn ja noch den ganzen Abend«, gebot Frances ihnen lächelnd Einhalt.

      »Wenn er heute ausnahmsweise nicht gebraucht wird«, sagte Emily, Frances’ Mutter, die erhitzt aus der Küche kam.

      Emily Kruger, die eigentlich Emilie Krüger hieß, kam aus dem Bergischen Land und lebte seit mittlerweile zwanzig Jahren in den Staaten. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, dass man in den USA Umlaute ignorierte, weil man sie nicht aussprechen konnte. So wurde aus Müller Muller und aus Krämer Kramer. Ihr Mann, Archibald Krüger/Kruger, war vor fünf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Aber Emily beziehungsweise Emilie war alles andere als eine lustige Witwe. Dazu war sie zu glücklich verheiratet gewesen. Jetzt bewahrte sie Archibalds Andenken und kümmerte sich mit Leidenschaft um ihre Tochter und die Enkel. An Weihnachten ließ sie sich nicht nehmen, für die Familie zu kochen. Alle hatten sich damit abgefunden, dass es statt des üblichen Truthahns die weitaus fettere Gans gab. Aber das leckere Schmalz mit Zwiebeln war dann anschließend immer ein willkommener Brotaufstrich.

      »In einer halben Stunde können wir essen. Genehmigt euch doch derweil einen Drink«, sagte sie jovial.

      In dem Moment läutete Amos’ Handy.

      »Oh nein, nicht schon wieder«, sagte Frances mit gespielt verzweifeltem Gesichtsausdruck. »Lässt man dir nicht einmal am Weihnachtsabend deine Ruhe?«

      »Verbrechen kennen keine Feiertage. Aber lass mich erst einmal hören, was los ist. Snider …«, meldete sich Amos kurz darauf und lauschte eine Weile. »Verstehe … Ja, ich weiß, wo das ist. Bin gleich da.«

      »Na, habe ich’s nicht gesagt?«, tönte Emily. »Aber mach dir keine Sorgen, mein Junge. Wir heben dir eine der Keulen auf, und ein paar köstliche Klöße sowieso. Ob ich allerdings noch etwas Rotkraut vor den Kindern retten kann …«

      »Jetzt mach sie nicht schlimmer als sie sind, Mom. Für ihren Vater würden sie das letzte Hemd geben. In diesem Fall den letzten Löffel Rotkraut«, sagte Frances.

      »Dann bin ich ja beruhigt«, meinte Amos. »Also, bis später! Ich beeile mich.«

      Als Amos nach zwei Stunden wiederkam, sah er fast grün im Gesicht aus. Im Gegensatz dazu stand der Karton, den er Jesse und Pamela überreichte und dessen Inhalt ihnen ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

      Als Frances hineinsah, verging ihr das Lächeln.

      »Das kann jetzt nicht wahr sein«, sagte sie. »Wo hast du die her? Du weißt, dass ich diese Tiere nicht sonderlich schätze.«

      »Aber die sind doch so süß«, rief Pamela aufgeregt und streichelte eine der beiden weißen Ratten.

      »Hast du noch in einer Zoohandlung Halt gemacht?«, fragte Frances.

      »Später«, antwortete Amos und machte dabei ein mürrisches Gesicht. Und Appetit hatte er wenig, was Emily allerdings nicht gelten ließ. Sie füllte ihm den Teller voll und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

      »Iss, mein Junge! In deinem Beruf brauchst du alle Nervenkraft.«

      »Wem sagst du das, Mom? Und was ist mit unserer?«, fragte Frances.

      »Wer einen Mann mit diesem Beruf heiratet, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Aber ich muss zugeben, du hättest es schlechter treffen können.«

      »Danke, Mom. Schon vor der Bescherung Komplimente? Womit habe ich das verdient?«

      »Das nennt man Fishing for Compliments. Jeder in dieser Stadt weiß, dass du ein anständiger Bursche bist und dabei auch noch unverschämt gut aussiehst.«

      »Mom, du bist ja heute richtig in Geberlaune«, feixte Frances. »Nicht dass du mir noch meinen Mann ausspannst …«

      »Red keinen Unsinn, Kind. Über derartige Torheiten bin ich längst hinaus. Aber jetzt wollen wir ihn in Ruhe essen lassen. Und nachher erfahren wir vielleicht etwas darüber, was ihn von hier weggerufen hat.«

      Als Amos aufgegessen hatte, schob er den Teller von sich weg und prustete.

      »Das war ausgezeichnet, aber die nächsten zwei Tage brauche ich wohl nichts mehr zu essen. Ja, ihr seid neugierig, was los war … Kinder, geht doch bitte in eure Zimmer und macht euch langsam für die Nacht fertig. Santa Claus kommt eh nur, wenn ihr schlaft.«

      »An den glauben wir schon lange nicht mehr, Dad. Aber es ist eine hübsche Tradition«, sagte Jesse. »Komm, Pam! Wenn wir nicht brav sind, bleiben die Socken leer, oder es gibt was mit der Rute.«

      »Mindestens … Ich sehe nachher noch mal nach euch. Und vergesst die Zähne nicht. Und lasst die Tiere vorerst im Karton. Nach dem Feiertag kümmere ich mich um einen Käfig.«

      »Schon okay, Dad. Unser Zahnpastalächeln geht uns über alles. Und die Tiere wollten wir ohnehin nicht mit ins Bett nehmen«, rief Pamela über die Schulter und ging ihrem Bruder hinterher.

      »Also, zu vorhin …«, setzte Amos erneut an. »Ihr kennt doch Sidney Avens und seine Familie … In dem Haus ist heute Abend etwas Entsetzliches passiert. Ihn hat man tot aufgefunden, die beiden Kinder sind spurlos verschwunden und seine Frau redet total wirres Zeug. Angeblich sei ein grausamer Santa Claus in ihr Haus gekommen, habe ihren Mann getötet und die Kinder in Ratten verwandelt. Tatsächlich haben wir zwei zahme weiße Ratten im Wohnzimmer gefunden, die ich mitgenommen habe, da sie nicht allein im Haus bleiben können.«

      »Warum, was ist mit Mrs. Avens?«, fragte Frances.

      »Die liegt erst mal im Hospital. Wenn sie vernehmungsfähig ist, werde ich sie erneut befragen. Sie hat auch behauptet, der Mann habe ein riesiges Puppenhaus aus dem Sack geholt, was physikalisch gar nicht möglich ist, es sei denn, es handelte sich um ein Klapphaus. Aber sie meinte, es wäre voll alter Möbel gewesen. Im gesamten Haus gab es aber kein Puppenhaus. Eine seltsame Geschichte. Wir gehen davon aus, dass die Kinder ihren toten Vater gesehen haben und in Panik aus dem Haus gelaufen sind. Die Suche nach ihnen läuft schon.«

      »Und was ist mit dem Mörder?«, wollte Emily wissen.

      »Lacy Avens behauptet, auf ihn geschossen zu haben. Das Projektil fanden wir, aber keine männliche Leiche oder Blutspuren. Mrs. Avens sagt, der Santa habe sich in Rauch aufgelöst.«

      »Die Arme Frau, sie halluziniert«, meinte Frances. »Kein Wunder, wenn man am Weihnachtsabend seine gesamte Familie verliert. Sucht ihr trotzdem nach ihm?«

      »Dann müssten wir jeden einzelnen Santa Claus befragen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, wo so viele in der Stadt herumlaufen.«

      »Was ist, wenn die Geschichte stimmt. Wenn es kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ein Dämon, ein Kramperl war?«

      »Jetzt komm nicht wieder mit der Krampus-Sage, Mama! Damit hast du früher schon die Kinder geängstigt.«

      Wenn Frances ihre Mutter auf Deutsch mit Mama ansprach, statt, wie in Amerika üblich, mit Mom, war Alarm angesagt. Das wusste Emily nur allzu gut. Dennoch war sie noch immer mit dem Brauchtum ihrer Heimat verbunden.

      Das „Kramperl“ stand im Berchtesgadener Land für den Krampus, wie er im Ostalpenraum, im südlichen Bayern und der Oberpfalz, in Österreich und sogar in Teilen des Fürstentums Liechtenstein, in Ungarn, Slowenien, der Slowakei, in Tschechien, Südtirol, Trentino und Teilen des außeralpinen Norditaliens und Kroatiens genannt wurde. Eine dämonische Schreckgestalt des Adventsbrauchtums mit Hörnern, langem Schwanz und Hufen, die ursprünglich den Nikolaus begleitete. Während der Nikolaus die braven Kinder beschenkte, wurden die unartigen vom Krampus bestraft. Der Name leitete sich von mittelhochdeutsch Krampen ‚Kralle‘ oder bairisch Krampn ‚etwas Lebloses, Vertrocknetes, Verblühtes oder Verdorrtes‘ ab. In der Region Berchtesgadener Land innerhalb des gleichnamigen Landkreises kannte man zweierlei Krampusse: die ganz in Fell gekleideten „Kramperl“ und die wendigeren, mit Strumpfhosen ohne Fell und kleineren Glocken ausgestatteten „Gankerl“ beziehungsweise