Lara Licollin

Das was man Leben nennt


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kann diese Fragen nicht beantworten. Ich hatte schon seit meiner Studienzeit keine feste Freundin mehr. Und ehrlich gesagt ist das gar nicht so schlimm.

      Ich habe von meinem damaligen besten Freund Patrik mitbekommen, dass das inzwischen gar nicht mehr so einfach sei. Na ja, wann war es mit Frauen je einfach?

      Auf jeden Fall dachte er, Ehrlichkeit wäre wichtig. Also antwortete er auf die Frage seiner damaligen Freundin, ob sie in einem Kleid, das sie gerade anprobierte, hübsch aussehe, dass es doch vielleicht eine Größe größer noch besser aussehen würde. Da sei sie wutentbrannt zurück in die Umkleidekabine marschiert. Währenddessen suchte er schon einmal nach einem weiteren Frühlingskleid, doch nach einer Viertelstunde musste er schließlich feststellen, dass sie gar nicht mehr da war, seine Freundin. „Besser gesagt: Meine Ex-Freundin“, ergänzte Patrik, als er mir vor Jahren von der Geschichte erzählte, und senkte den Blick.

      In diesem Moment schwor ich mir, niemals die Wahrheit gegenüber einer Frau zu sagen oder besser erst gar keine zu haben.

      Außerdem, dachte ich weiter nach, was war, wenn sie meine Angewohnheit nicht akzeptieren würde? Wenn sie mich schließlich zwingen würde, abends zu Hause bei ihr zu bleiben? Oder sich deshalb wieder bei mir trennte? Vielleicht auch, weil ich einfach nicht anders konnte, als abends einen Spaziergang zu machen?

      Genau deshalb brauche ich keine Freundin. Wozu? Die würde sowieso nur Probleme machen und mein Geld wollen. Waren nicht alle Frauen so?

      Nach fünf Minuten erreiche ich die Brücke, die zur Hochschule führt.

      Ich weiß immer noch nicht, was genau dort gelehrt wird. Ich laufe ständig über diese Brücke zu dieser Schule, aber nie so nahe, dass ich das Schild lesen könnte, auf dem steht, was genau es für eine Schule ist.

      Die Straßenlaternen beginnen wieder zu flackern. Das tun sie jeden Abend.

      Auch die Brücke ist um diese Uhrzeit verlassen, wie immer. Niemand ist …

      „Ach du ...“

      Die Brücke ist nicht wie immer verlassen. Oben auf ihr, auf dem Geländer, da steht eine Frau. Ihr blondes langes Haar weht im immer stürmischer werdenden Wind. Sie trägt keine Socken, aber eine Jeans, wie ich, doch sonst auch nur ein T-Shirt. Ich trage eine Jacke und Schuhe und trotzdem ist mir kühl. Wie muss es ihr dann gehen?

      Mein Blick fällt auf ihren rechten Arm und ich erkenne, obwohl ich gar nicht so nahe bei ihr bin, die roten Schnittwunden. Die Narben. Ihr ganzer rechter Arm ist damit übersät. Auf dem anderen wird es wohl nicht anders aussehen.

      Doch darüber kann ich nicht länger nachdenken, denn natürlich ist mir sofort klar, was sie vorhat: Sie will sich das Leben nehmen.

      Schon will ich ihr zurufen, doch dann frage ich mich, ob das sinnvoll ist. Was, wenn sie dann erst recht springt?

      Noch hat sie mich nicht gesehen, aber was, wenn sie erschrickt, wenn sie mich sieht?

      Also beschließe ich, ganz langsam zu ihr zu gehen. Noch hat sie den Blick starr nach unten gerichtet, die Arme aber ausgebreitet, fast so, als ob sie zum Flug bereit wäre …

      Noch ein paar Schritte.

      „Hey.“

      Sie dreht sich ruckartig um, starrt mich an. Ihr Gesicht blass, aber nicht, wie ich es erwartet hätte, tränenüberströmt. Sie sieht eigentlich ganz gelassen aus, doch ich weiß, dass ich nicht viel Zeit habe, und wie ernst die Lage ist.

      „Kommen Sie runter!“ Ich schreie nicht, aber meine Stimme klingt fest und entschlossen.

      Die Frau starrt wieder nach unten, dann wieder zu mir. Daraufhin schüttelt sie langsam den Kopf.

      „Machen Sie keinen Unsinn, kommen Sie runter.“

      Ich reiche ihr meine Hand, aber sie ignoriert mich.

      „Hey“, rufe ich wieder, aber sie dreht sich nicht um. „Ich rede mit Ihnen. Was machen Sie da?“

      Natürlich weiß ich es, aber was soll ich denn sonst sagen? Ich muss sie ablenken, so viel ist klar.

      Doch worauf soll ich warten? In Filmen kommen immer Passanten vorbei, die schließlich die Polizei rufen, aber hier ist niemand außer ich. Und ich kann die Polizei nicht rufen, ohne dass sie es bemerkt. Sie würde springen, noch während ich wähle. Das kann ich nicht zulassen.

      Ich weiß nicht, was genau ich vorhabe, aber mein Mund öffnet sich von alleine.

      „Kommen Sie! Ich kann Ihnen helfen. Das hat doch keinen Sinn. Warum tun Sie das?“

      Die Frau bewegt sich nicht, sie steht einfach nur da, mit dem Rücken zu mir. Der Wind zerzaust ihr Haar immer mehr.

      „Ich kann Ihnen runter helfen.“ Ich weiß, dass es sinnlos ist, aber für einen Moment strecke ich erneut meinen Arm aus, aber sie sieht es gar nicht. Ich lasse den Arm wieder sinken. „Warum wollen Sie das denn überhaupt tun? Das bringt doch nichts. Glauben Sie mir, man kann über alles reden.“

      Ich erwarte schon gar keine Reaktion mehr, als sie sich plötzlich umdreht und mich fassungslos ansieht.

      „Reden?“

      Ich weiß nicht, was ich antworten soll, aber ich bekomme auch gar keine Chance dafür, denn sie fährt fort.

      „Reden? Haben Sie eben ernsthaft gesagt, man kann über alles reden?“

      Immer noch antworte ich nicht und sie spricht weiter.

      „Ich bin zwar noch nicht so alt wie Sie, aber ich weiß, dass reden nichts, aber wirklich gar nichts bringt. Man kann nicht über alles reden. Oder haben Sie mal die Idioten in Syrien oder in Gaza reden sehen? Haben Sie jemals mitbekommen, dass sie das Reden daran gehindert hat, sich weiter zu töten? “

      Dass sie mich als alt bezeichnet hat, ist nicht das Schlimmste an dem, was sie gerade gesagt hat. Das Schlimmste daran ist, dass sie recht hat.

      Ich schweige und sehe sie nur an. Sie verschränkt die Arme vor der Brust.

      „Hab ich Sie jetzt zum Nachdenken gebracht?“

      Ich schlucke und sehe für einen Moment weg. Nur für einen kleinen Moment, doch als ich wieder aufsehe, hat sie sich mit dem Rücken zu mir auf das Geländer gesetzt.

      „Hey“, rufe ich wieder. Sie schweigt. „Vielleicht haben Sie recht, man kann nicht alles mit Reden wiedergutmachen. Aber Sie müssen vernünftig sein. Das hier ist kein Ausweg.“

      Sie bewegt sich nicht, sondern starrt weiter nur auf das Wasser unter ihr. Genau das bringt mich schließlich dazu, sie am Oberarm zu packen und zu mir herum zu zerren.

      „Hey“, schreit dieses Mal sie. „Was wollen Sie? Lassen Sie mich los!“

      Sie hat sich zu mir umgedreht und versucht, ihren dünnen Arm von meiner Hand zu befreien.

      „Ich kann nicht zulassen, dass Sie das hier durchziehen!“

      Ich stöhne, als sie weiter versucht, sich loszureißen.

      „Jetzt lassen Sie schon los!“, schreit sie und beginnt, mit der anderen Hand auf meinen Arm, der sie festhält, zu schlagen. Aber es hält mich nicht davon ab, sie weiter festzuhalten.

      „Hören Sie auf!“ Ihre Stimme beginnt zu zittern, doch mit den Beinen beginnt sie zu strampeln. Wenn ich sie jetzt loslasse, fällt sie, das weiß ich.

      „Ich lasse Sie nicht los“, sage ich und versuche ruhiger zu klingen, als ich bin.

      Wenn uns jetzt jemand beobachten würde, würde man dann denken, ich würde versuchen, sie die Brücke hinunter zu schmeißen? Sieht es so aus?

      Es sollte mir egal sein, wie es aussieht. Ich wäre froh, wenn uns jemand sehen würde, denn dieser jemand könnte helfen. Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch festhalten kann. Sie schlägt mich immer noch wie eine Wilde.

      „Lassen Sie mich schon los, verdammte scheiße! Ich habe mir das