Lara Licollin

Das was man Leben nennt


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als sei es eine kurzfristige Entscheidung gewesen. Und so dumm kommt mir diese Frau - oder sollte ich sagen dieses Mädchen? – auch nicht vor. Eher im Gegenteil.

      „Ich werde Sie nicht loslassen“, beharre ich und plötzlich hört sie auf zu strampeln und mich zu schlagen und sieht mich einfach nur an. Ich halte meine Hand jedoch immer noch fest um ihren Arm geschlossen. Wer weiß, was sie vorhat?

      „Was haben Sie da gesagt?“ Ihre Stimme klingt zerbrechlich und leise. Auch ihre Lippen zittern.

      „Ich werde Sie nicht loslassen“, sage ich mit derselben Tonlage wie zuvor und halte ihrem Blick stand.

      Plötzlich beginnt sie zu zucken, zu schluchzen und schließlich strömen Tränen über ihr Gesicht. Ich traue mich noch nicht, den Griff zu lockern, wer weiß, ob das nicht doch alles nur zur Ablenkung dient.

      Sie kauert sich auf dem Brückengeländer zusammen, schluchzt und fährt sich mit ihrer freien Hand übers Gesicht. Mit der anderen Hand stützt sie sich auf dem Geländer ab.

      Ich kann sie einfach nur anstarren. Habe ich sie überredet?

      Mir kommt es vor, als sei es eine Ewigkeit, in der sie einfach nur dasitzt und schluchzt. Immer noch halte ich ihren Arm, und als sie plötzlich aufsieht, erkenne ich, dass sie es wirklich ernst gemeint hat. Ich sehe den Schmerz in ihrem Gesicht, den sie in ihrem bisherigen Leben ertragen musste, und weiß, dass ich ihr helfen muss. Ich bin der Einzige, so scheint es mir in diesem Moment zumindest, der das kann.

      „Alles okay?“, frage ich schließlich vorsichtig nach und da kommt sie von der Brücke gesprungen und nimmt mich in den Arm. Sie drückt mich so fest an sich, dass ich ihren Arm loslassen muss. Also drücke ich sie ebenfalls an mich, damit sie sich nicht plötzlich umdrehen und von der Brücke springen kann.

      Doch ich glaube, dass sie sowieso nicht mehr vorhat, sich das Leben zu nehmen. Zumindest nicht heute, nicht hier und auch nicht in meiner Anwesenheit.

      Sie weint eine halbe Ewigkeit in meinen Armen und ich kann nichts anders tun, als es über mich ergehen zu lassen. Wobei: Eigentlich ist es gar nicht so schlimm.

      Als sie sich von mir löst, traue ich mich sogar, sie nicht am Arm oder an der Hand festzuhalten. Ich sehe sie an und frage sie, ob sie für eine Nacht mit zu mir möchte. Diese Worte kommen einfach so aus meinem Mund und ich kann sie nicht rückgängig machen. Aber je länger ich darüber nachdenke, bemerke ich, dass ich es nicht bereue.

      Sie schweigt lange, und als sie wieder spricht, klingt ihre Stimme wieder so wie am Anfang: eher selbstbewusst als am Boden zerstört.

      „Okay“, sagt sie und läuft an mir vorbei. Ich drehe mich verwirrt um, sie sieht mich an und fragt: „Nun kommen Sie schon. Ich weiß nicht, wo Sie wohnen.“

      3

      Ich wache in meinem Bett auf. Wie immer.

      Ich öffne die Augen. Wie immer.

      Ich sehe meine braune Holzdecke. Nein, nicht wie immer. Ich liege nicht in meinem Zimmer, nicht in meinem Bett. Ich starre auf eine weiße Decke.

      Schnell drehe ich mich zur Seite und mein Blick fällt auf einen Holztisch, genau auf meiner Augenhöhe. Auf dem Tisch stehen ein Glas Wasser und ein Apfel. Genau vor meinem Gesicht.

      Ich bin verwirrt und reibe mir erst einmal die Augen. Dann richte ich mich langsam auf und blicke auf die orangefarbene Decke, mit der ich zugedeckt bin.

      Wo bin ich?

      Ich sehe mich weiter um.

      Vor mir steht ein Tisch, auf dem tatsächlich nichts weiter steht als ein Glas Wasser und ein Apfel. Ich merke, wie mein Magen beginnt, zu knurren. Wann habe ich das letzte Mal etwas gegessen?

      Rechts von der Couch, auf der ich sitze, ist ein großes Fenster. Davor hängt ein langer weißer Vorhang. Das Fenster reicht bis zum Boden; dahinter erkenne ich einen Balkon.

      Geradeaus an der Wand steht ein großer Schrank, daneben, von mir aus links, ist eine Tür.

      Ganz links an der Wand steht ein großes Bücherregal. Es ist voll mit Büchern. Anscheinend muss derjenige, der hier wohnt, ziemlich gerne lesen.

      Ich reibe mir noch einmal die Augen und strecke mich. Als ich wieder aufsehe, steht ein Mann vor mir.

      Er hat ein schmales, längliches Gesicht und ist nicht allzu groß, muss aber um die 40 sein. Zwischen seinen dunkelbraunen Haaren sprießen schon einige graue hervor.

      Der Mann trägt einen beigefarbenen Pullover und eine dunkelblaue Jeans.

      Ich sehe ihn an, aber nicht mit großen Augen, aus Furcht, sondern einfach nur so. Ich habe keine Angst, aber warum weiß ich auch nicht.

      Er sieht mich ebenfalls nur an, erst nach einer Weile beginnt er zu sprechen.

      „Wie geht es Ihnen?“

      Wie soll es mir schon gehen? Was meint er damit?

      Warum bin ich überhaupt in seiner Wohnung?

      Ich sehe ihn fragend an.

      Er nickt langsam, presst die Lippen aufeinander und meint: „Können Sie sich noch an irgendetwas von gestern Abend erinnern?“

      Ich löse meinen Blick von ihm und starre auf den Tisch.

      Gestern Abend. Was ist da passiert?

      Ich schließe die Augen und denke nach.

      Ich war zu Hause, wie immer. Ich saß über meinen Büchern, wie immer. Und dann …

      Plötzlich flammt eine Erinnerung in meinem Gedächtnis auf. Die Brücke. Ich stand auf der Brücke. Es war windig.

      Warum stand ich dort?

      Ich sehe auf. Der Mann setzt sich neben mich und unwillkürlich rücke ich ein Stück von ihm ab.

      Er sieht mich von der Seite an.

      „Können Sie sich erinnern?“

      Ich muss den Kopf schütteln, traue mich aber nicht zu sagen, dass ich mich an Stücke von gestern Abend erinnern kann.

      Er mustert mich weiterhin.

      „An gar nichts?“

      Er will, dass ich etwas sage. Vielleicht hat er sogar schon bemerkt, dass ich nicht alles, aber ein bisschen etwas weiß.

      „Ich war auf der Brücke“, sage ich leise und meine Stimme klingt so leise, dass ich fürchte, er hat mich nicht gehört.

      Aber er nickt und ich fahre fort.

      „Ich … Ich glaube ich stand …“ Ich breche ab und knete meine Hände.

      „Wo standen Sie?“, fragt der Mann.

      „Ich bin mir nicht sicher.“ Ich fahre mir durch das Gesicht und traue mich nicht, ihn anzusehen.

      „Denken Sie nach“, fordert er mich auf und ich versuche es.

      Das Wasser. Das Wasser der Elbe unter mir. Ich muss einfach nur springen. Ich breite die Arme aus, könnte fliegen wie ein Vogel …

      Ich sehe den Mann neben mir an. Er sieht nicht ungeduldig aus, also gebe ich mir noch etwas Zeit.

      Ich stand also auf der Brücke. Nein, auf dem Geländer. Weil … Ich schlucke und sehe erneut zu dem Mann. Es scheint, als wüsste er, was ich denke.

      „Ich stand auf dem Geländer der Brücke, auf dieser Mauer, weil …“

      Ich sehe in seine braunen Augen, als ich die folgenden Worte sage.

      „Weil ich mich umbringen wollte.“

      „Möchten Sie einen Tee oder lieber einen Kaffee?“

      Ich sitze immer noch mit denselben Klamotten auf dem Sofa, die Decke auf meinem Schoß, das Glas Wasser und der Apfel vor