Lara Licollin

Das was man Leben nennt


Скачать книгу

Zoe an dem Ausblick so schön findet, weiß ich nicht.

      Wir sind im zweiten Stock, unter uns liegt die viel befahrene Straße, dahinter stehen ein paar Bäume und erst dann würde man die Elbe sehen, wären nicht die Bäume im Weg.

      Im Sommer ist es manchmal gut, dass es deshalb so schattig ist. Trotzdem finde ich, dass man eine bessere Aussicht haben könnte.

      Zoe lehnt immer noch am Geländer und sieht nach unten. Ich muss mich beherrschen, nicht zu ihr zu gehen und meine Arme um sie zu schlingen, um sie festzuhalten.

      Wer weiß, wann sie wieder auf die Idee kommt …

      Ich frage mich immer noch, warum sie das tun wollte. Sie kam mir so entschlossen vor. Ohne mich wäre sie gesprungen. Ob ihr das klar ist?

      Es wirkt fast so, als wüsste sie das nicht. Als wüsste sie nicht, dass sie nicht mehr lachen könnte, wäre ich gestern nicht aufgetaucht. Sie hat sich noch nicht einmal bedankt.

      Doch wäre ich ihr nicht begegnet, ja wäre sie nicht auf dem Geländer gestanden, wäre ich jetzt auf der Arbeit und würde auf den Bildschirm vor mir starren. Denn ich hätte sie nicht angesprochen, wäre sie einfach nur auf der Brücke gestanden, nicht auf dem Geländer.

      Warum sollte ich auch? Gestern kam sie mir zwar älter vor, als sie ist, aber trotzdem bin ich nicht der Typ, der Leute einfach so anspricht.

      Jedenfalls wäre ich ohne sie auch heute Abend wieder allein, denn so wie es aussieht hat sie sich dazu entschlossen, vorerst zu bleiben.

      Ich müsste mich also bei ihr bedanken.

      Aber das würde sie nicht verstehen.

      Anscheinend konnte ich sie tatsächlich überreden zu bleiben, denn auch als es schon langsam dunkler wird, sitzt sie noch gelassen auf meiner Couch.

      Als es schließlich kurz vor sechs ist, frage ich sie vorsichtig, ob sie nun wirklich bleiben will.

      „Klar, du hast doch gesagt, es ist kein Problem, oder?“

      Ich nicke.

      „Gut.“ Sie verschränkt ihre blassen, dünnen Arme vor der Brust und legt den Kopf zurück, sieht zur Decke.

      „Warum?“, frage ich, wie sie es manchmal tut.

      Ohne mich anzusehen antwortet sie: „Weißt du, sonst passiert nie etwas. Sonst ist immer alles gleich. Nichts Besonderes passiert, niemand kümmert sich um einen. Und jetzt ist das mal nicht so. Du kümmerst dich um mich und wenn du das gerne tust, dann kann ich das zulassen. Zumindest eine Zeit lang. Mein Leben verläuft gerade anders als sonst und so sollte es noch eine Weile bleiben.“

      Daraufhin schließt sie die Augen.

      „Ich habe sogar Toast“, sage ich stolz und sie grinst schon wieder.

      Wir sind gerade dabei, den Tisch für das Abendessen zu decken.

      Vorhin musste ich ihr gestehen, dass ich abends nur ein bisschen Brot mit Wurst und Käse esse und das hat sie verstanden.

      „Wir haben doch sowieso heute Mittag schon etwas Warmes gegessen.“

      „Ich weiß. Ich wusste nur nicht, wie verwöhnt du bist.“

      Daraufhin hat sie mich angesehen und gegrinst. „Also eigentlich ja schon ziemlich. Abends gibt es bei mir zwar nur Brot, aber mit Wurst und Käse vom Metzger und nicht von …“ Sie hob eine Packung Käse hoch, die schon auf dem Küchenschrank lag. „… Bergader oder von Leerdammer. Ist das eigentlich der Name der Marke? Ich dachte immer das sei eine Käsesorte.“

      Sie zuckte mit den Schultern und ließ die Packung wieder fallen. Dann lachte sie, sah mich an und legte eine Hand auf meine Schulter.

      „Ich mach nur Spaß. Den Bergaderkäse esse ich am liebsten.“ Daraufhin lächelte sie mich an und ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln.

      „Wow, das grenzt ja schon an ein Gourmetmenü“, sagt sie nun. Zusammen setzen wir uns auf die Couch.

      „Zugegeben“, sagt sie plötzlich, als sie gerade dabei ist, ihr Toast mit Butter zu bestreichen, „der Tisch ist etwas niedrig.“

      Ich trinke einen Schluck und antworte dann: „Also bis jetzt hat sich noch niemand beschwert.“

      Sie wirft mir einen Blick zu und hebt die Augenbraue. „Hattest du denn jemals Gesellschaft beim Essen?“

      Ich grinse. „Jetzt hast du mich ertappt.“

      Sie grinst und steckt sich das ganze restliche Toast, das sich noch auf ihrem Teller befand, in den Mund.

      „Noch eins?“ Ich reiche ihr das, was bisher noch auf meinem Teller lag.

      „Nein, danke“, sagt sie und lehnt sich zurück.

      Am Abend sitzen wir, nachdem wir gemeinsam das Geschirr gespült haben, auf der Couch. Es ist still, fast so, als sei sie gar nicht da.

      Vorsichtig drehe ich meinen Kopf zur Seite, um zu sehen, ob sie denn auch wirklich noch da ist.

      Zoe hat den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen.

      Auf meiner Armbanduhr lese ich ab, dass es schon 20 Uhr ist.

      Wieder mustere ich sie und frage mich, ob sie morgen gehen wird. Bestimmt hat sie das vor. Heute konnte ich sie heute zwar noch überzeugen, zu bleiben, aber morgen wird sie wieder darauf beharren, dass sie eine Last für mich ist.

      Dabei ist sie das gar nicht. Ich finde es schön hier mit ihr zu sitzen. Auch wenn sie nicht mit mir spricht. Es reicht, dass sie einfach nur neben mir sitzt.

      Aber auch wenn sie wieder nach Hause gehen will, kann sie nicht. Sie hat immer noch keinen Schlüssel und kann nicht in ihre Wohnung.

      Wollten wir nicht darüber reden, wie wir dieses Problem lösen könnten?

      Ich betrachte sie noch einmal. Ihre Haut ist ganz blass, fast so als würde sie sich an Zoes Haarfarbe anpassen, die zwar blond ist, aber im Licht weißlich schimmert.

      Vielleicht hat sie vergessen, dass wir darüber reden wollten. Vielleicht will sie es aber auch vergessen. Ob sie das tut, weil sie nicht nach Hause will oder weil sie lieber hier bei mir bleiben möchte weiß ich nicht.

      Vielleicht will sie aber auch nur bis morgen warten.

      Irgendwann glaube ich, dass sie eingeschlafen ist, da sie sich nicht mehr bewegt und ziemlich gleichmäßig atmet, und ich lege die Decke über sie, mit der ich sie schon gestern zugedeckt habe.

      Dann erhebe ich mich vorsichtig, lösche das Licht und verlasse das Zimmer.

      Erst als ich im Bett liege und gerade dabei bin, einzuschlafen, merke ich, dass ich meinen abendlichen Spaziergang gar nicht gemacht habe.

      5

      Als ich dieses Mal aufwache, weiß ich sofort, wo ich bin.

      Ich bin nicht zu Hause, und ich weiß auch nicht, wann ich das nächste Mal wieder dort sein werde.

      Ich strecke mich und starre an die Decke.

      Ich weiß, Ben möchte zur Polizei gehen, aber glaubt er wirklich, dass sie mir einfach so die Tür öffnen würden? Ist das so einfach?

      Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es das ja.

      Aber irgendwie hoffe ich, dass es das nicht ist.

      Ich möchte hierbleiben.

      Ben ist so nett und hilfsbereit. Schon lange war keiner so nett zu mir – und so besorgt um mich.

      Wann war das letzte Mal jemand besorgt um mich?

      Aber ich weiß auch, dass Ben arbeiten muss, und dann wäre ich alleine. Alleine in seiner Wohnung. Doch das wird er sowieso nicht erlauben, das wird er nicht zulassen.

      Oder?